Köln – Es war kein Jahrhundertmoment, doch mit einem Jahr Abstand wächst ein Tor wie das des Kölner Verteidigers Sebastiaan Bornauw zum 1:0 gegen Schalke 04 zu einem Ereignis von unfassbarer Größe: Florian Kainz dreht von links einen Freistoß vor das Tor, Bornauw verlängert per Kopf ins lange Eck. Wer sich den Treffer heute noch einmal anschaut, dem fallen mehrere Dinge auf. Zum Beispiel, dass Ellyes Skhiri am zweiten Pfosten lauert, dort lauert er immer, wenn Köln von links flankt, ein Tor aus dieser Situation erzielte er allerdings erst neun Monate später, im November traf er gleich zweimal zum 2:1-Sieg bei Borussia Dortmund.
Doch geht es hier nicht um Ellyes Skhiri, der 39 Bundesligaspiele lang am zweiten Pfosten wartete, ehe ein Ball vor seine Füße fiel. Es geht um die Umstände des Treffers zum 1:0 des 1. FC Köln, der sich an diesem Wochenende jährt.
100.000 Augen für den Ball
Denn aus der Perspektive des Jahres 2021 ist der Treffer ein gewaltiger: Als Kainz zum Freistoß antritt, sind 100 000 Augen auf den Ball gerichtet. Das Stadion rauscht und raunt, die Flanke kommt an den Fünfmeterraum, Bornauw springt ab, trifft. Und das Stadion erzittert. Fußballprofis spielen nicht einfach für die Zuschauer, auch wenn sie das manchmal sagen. Sie sind im Stadion vor allem an ihrem Arbeitsplatz. Der Druck ist gewaltig, es geht darum, im sportlichen Wettkampf zu bestehen, an dem so viel hängt. Deswegen jubeln Profis auch im leeren Stadion, denn die Bedeutung eines Tores ist nicht weniger geworden in Zeiten des Pandemiebetriebs, im Gegenteil kämpft mancher Verein mehr um die Existenz als je zuvor.
Doch der Blick auf das Kölner 1:0 gegen Schalke am 29. Februar 2020 zeigt, was so ein Treffer vor vollem Haus mit seinem Schützen macht, mit den anderen Spielern – und mit den Menschen auf den Tribünen. Ein Profi mag für sich und den Erfolg seiner Mannschaft spielen. Doch Anlass für alles sind stets die Zuschauermassen, die der Bundesliga die Emotionen verschaffen, für deren Übertragung das Fernsehen bereit ist, Milliarden auszugeben.
Córdobas Tor, Nübels Tränen
Jhon Córdoba noch in der ersten Halbzeit, 15 Minuten vor Schluss dann der Schalker Torwart Nübel, der sich einen Schuss von Florian Kainz selbst ins Tor schaufelt und später unter Tränen vom Platz geführt wird. 3:0 – aus Sicht der FC-Fans ein perfekter Samstag. Es war der vorerst letzte, an dem das Kölner Stadion gefüllt werden durfte. Ein Jahr ist das nun her.
Eine Woche noch setzte die Bundesliga ihren Normalbetrieb fort. Köln gewann in Paderborn, es war der achte Sieg im zehnten Spiel, aus dem Abstiegskandidaten war eine Mannschaft geworden, die sich ihren Gegnern mit aller Zähigkeit entgegenstellte, Fehler provozierte und im Konter eiskalt zuschlug – getragen von ihrem Publikum.
Doch die Entwicklung der Pandemie wurde immer dramatischer. Fünf Tage nach dem Spiel in Paderborn sollte der FC an einem Mittwochabend das wegen eines Unwetters verschobene Rheinische Derby bei Borussia Mönchengladbach nachholen. Anschließend standen Heimspiele gegen Mainz und Düsseldorf an. Die Rettung schien nur wenige Wochen entfernt. Doch Mönchengladbach wurde das erste Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte. Damals gab es noch keine Konzepte für Spieler, Betreuer, Sicherheitskräfte und Journalisten. Man versuchte, einander aus dem Weg zu gehen, die Unsicherheit war riesig im stillen Stadion: Niemand hatte eine Vorstellung, wohin es gehen würde. Und nichts beängstigt mehr als Ungewissheit.
Als sich der Fußball noch damit abzufinden versuchte, dass Geisterspiele vorerst der Normalbetrieb sein würden, setzte die Liga keine 48 Stunden nach der Geisterspiel-Premiere in Mönchengladbach ihren Betrieb komplett aus. Die Spieler wurden ins Heimtraining geschickt, neun Wochen ruhte der Spielbetrieb, ehe es weiterging.
FC trudelt zum Klassenerhalt
Der FC gewann keine einzige Partie mehr, keine andere Mannschaft hatte einen derartigen Leistungsabfall zu verzeichnen wie die Kölner. Erst am vorletzten Spieltag rettete sich der FC mit einem 1:1 gegen Eintracht Frankfurt im leeren Rhein-Energie-Stadion.
Im Spätsommer gab es ein paar Versuche, die Stadien wieder für Publikum zu öffnen. Doch Köln kam wegen zu hoher Inzidenzen nie auf mehr als 300 Zuschauer. Wirtschaftlich ein Desaster, und auch sportlich lief wenig zusammen bei den Kölnern. Nur ein Heimspiel konnte der FC bislang gewinnen, sechs stehen noch aus, und niemand rechnet mehr damit, in dieser Saison noch Zuschauer in Müngersdorf zu erleben.
Steril und leblos, aber kein Kuriosum mehr
Nach einem Jahr im Sonderspielbetrieb hat eine Gewöhnung eingesetzt. Spiele im leeren Stadion, selbst solche von größter sportlicher Qualität und Bedeutung, kommen zwar steril daher, leblos. Doch sind sie kein Kuriosum mehr. Eher Mittel zum Zweck: Der Ball muss rollen, damit das Fernsehen etwas zu übertragen hat und der Fußball sein Geld einfordern kann. Offenbar ist im TV-Vertrag nicht genau definiert, was genau der Fußball liefern muss, um die Zahlungen der Sender auszulösen. Es scheint zu reichen, dass 22 Spieler auf dem Platz einen Ball bewegen. Hätte man das Produkt genau definiert, es hätte wohl etwas von tosenden Stadien und emotionalisierten Profis in der Beschreibung gestanden.
Oder man hätte einfach ein Video als Standard vorgeführt. Zum Beispiel vom Spiel des 1. FC Köln gegen Schalke, ein 3:0 vor 50.000 Augenpaaren, am Samstagabend vor genau einem Jahr.