DFB-Sportdirektor Rudi Völler über den Erfolg von Bayer Leverkusen, seine Bewunderung für Xabi Alonso und Julian Nagelsmann und die Chancen auf den EM-Titel.
Interview mit Rudi Völler„Bayer 04 wird mit dem FC Bayern auf Augenhöhe bleiben“
Herr Völler, Bayer 04 Leverkusen ist Deutscher Meister. Wie hört sich das an?
Selbst, falls Bayer 04 noch das Triple gewinnen sollte, ist die Meisterschaft der mit Abstand wichtigste Titel. Das gilt für den FC Bayern oder Borussia Dortmund vielleicht nicht mehr in der Form, aber Leverkusen war eben noch nie Meister. Jetzt ist dieses Vizekusen-Gerede endlich vorbei. 2000 in Unterhaching, als ich als noch junger Sportdirektor unmittelbar beteiligt gewesen bin, waren wir so nah dran. Das war tragisch – 2002, als ich schon Bundestrainer war, auch. Für die Mitarbeiter und die Fans, die das alles miterlebt haben, ist das jetzt ein Traum. Wie Fernando Carro gesagt hat: Die Geschichte war Leverkusen noch eine Meisterschaft schuldig.
Kommen denn trotzdem noch weitere Titel in dieser Saison dazu?
Jetzt reitet die Mannschaft auf einer Welle, das ist unglaublich. Wir haben das am Wochenende in Frankfurt wieder gesehen. Jeder ist willig und fit und weiß, was er zu tun hat. Es war eine Machtdemonstration, so beim Tabellensechsten zu gewinnen. Der Kader ist in der Breite überragend zusammengestellt. Das Triple ist machbar. Aber egal, wie die nächsten Spiele noch laufen, es wird eine überragende Saison sein.
Von Ihnen stammt dieser Satz aus dem Jahr 2017: ,So gut kannst du gar nicht scouten. Du kannst vielleicht mal ein Spiel gegen die Bayern gewinnen, aber über die gesamte Saison hast du keine Chance.„ Was hat sich seitdem geändert?
Die Bayern waren damals einfach besser. Deshalb war es in der Bundesliga lange ein bisschen langweilig. Nicht nur meine Überzeugung war: Wenn die Bayern mal schwächeln, musst du da sein. Aber in diesem Jahr trifft das ja gar nicht zu. Selbst wenn die Bayern noch besser gespielt hätten, hätte es für sie nicht gereicht, weil Bayer Leverkusen eine Supersaison spielt. Die Tabelle lügt nicht. Es hat alles funktioniert, was funktionieren kann für Bayer 04.
Was war die wichtigste Stellschraube auf dem Erfolgsweg?
Die wichtigste Position in einem Klub oder Verband ist immer der Trainer. Xabi Alonso ist natürlich für Bayer 04 ein Volltreffer. Ich weiß noch, als Simon (Rolfes, Sportgeschäftsführer, Anm. d. Red.) mir von dieser Idee erzählt hat. Ich habe ihm gesagt, es sei mutig und ein Abenteuer. Aber es war eine goldrichtige Entscheidung. Wie Xabi aus der vergangenen Saison Schlüsse seine gezogen hat, war fantastisch. Xabi, Simon und Fernando haben dann einen herausragenden Kader zusammengestellt. Es ist selten im Fußballgeschäft, dass man sich nicht nur auf den Top-Positionen verstärkt, sondern auch im Bereich dahinter. Das ist das Geheimnis, warum Bayer immer noch ungeschlagen ist. Xabi konnte schon in der Hinrunde rotieren, konnte sich auf alle Spieler verlassen. Das wird er sicher auch in der Champions League machen in der kommenden Saison – auch wenn das dann ein bisschen schwieriger werden wird.
Wann war Ihnen klar, dass Leverkusen Meister wird?
Es hat schon in der Hinrunde mit dem Spiel in München angefangen. Das war auf Augenhöhe. Im Laufe der Vorrunde wurde der Eindruck immer stärker, dass es in dieser Saison reichen könnte. Leverkusen war eigentlich in jedem Spiel überlegen, man hatte nie das Gefühl, dass etwas anbrennt. Es ist so dominant, dass es mich an die Zeit von Pep Guardiola bei den Bayern erinnert. Es ist so begeisternd, dass mir die Superlative ausgehen. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich eine Bayer-Leverkusen-Brille aufhabe. Mir wird das in Deutschland und in ganz Europa von vielen Menschen gespiegelt. Ich werde immer wieder darauf angesprochen.
Sie sind nicht mehr im operativen Geschäft bei Bayer 04 tätig. Der Posten im Aufsichtsrat ruht. Fühlen Sie sich dennoch selbst als Deutscher Meister?
Es gibt zwar auch noch Spieler im Kader, die ich mitverpflichtet habe, aber das kann ich trennen. Das Lob gebührt den jetzigen Verantwortungsträgern: Fernando, der als Quereinsteiger neuen Schwung reingebracht hat. Simon, der als mein Nachfolger wunderbare Ideen umgesetzt hat. Und natürlich Xabi und den Spielern. Ich freue mich im Hintergrund, gemeinsam mit den früheren Geschäftsführern Wolfgang Holzhäuser, Michael Schade, Reiner Calmund. Und ich freue mich für Werner Wenning, den Chef des Gesellschafterausschusses, über diese Meisterschaft. Wolfgang Holzhäuser und ich haben Herrn Wenning bei seiner Verabschiedung als Chef der Bayer AG mal eine Kopie der Meisterschale geschenkt. Jetzt darf er endlich das Original stemmen. Ja, ich freue mich schon sehr – für den Verein, die Mitarbeiter, die Fans, auch für meine Familie. Mein jüngster Sohn ist mit aufs Spielfeld gerannt, als die Meisterschaft nach dem Bremen-Spiel feststand. Meine Frau hatte Tränen in den Augen. Die ganze Familie ist Fan mit dem Bayer-Kreuz im Herzen.
Wie nachhaltig wird der Erfolg sein?
Ich glaube schon, dass er nachhaltig sein wird. Bayer Leverkusen wird in den nächsten Jahren immer mit den Bayern oben mitspielen. Das ist meine Überzeugung. Die Bayern werden das nicht so hinnehmen, das ist klar, Leipzig wird auch heranrücken wollen. Aber wir haben jetzt das, wonach sich alle gesehnt haben: Der Meisterschaftskampf in der Bundesliga ist wieder spannend. Es muss erstmal eine Mannschaft kommen, die Leverkusen von der Spitze vertreibt. Das wird nicht einfach werden.
Leverkusen hat also das Zeug dazu, Bayern dauerhaft Paroli zu bieten?
Bayern bleibt Bayern, die wollen wieder Deutscher Meister werden. Das liegt auf der Hand. Leverkusen hat es aber nun endlich geschafft – und in diesem Gefühl der Stärke und mit diesem Selbstbewusstsein wird es ein Duell auf Augenhöhe sein. Da bin ich mir sicher. Leipzig und Dortmund sind dann in der Lauerposition. Bei Stuttgart muss man abwarten, wie viele Spieler sie möglicherweise verlieren werden. Die Entwicklung des VfB ist aber richtig beeindruckend. Gäbe es Leverkusen nicht, wäre Stuttgart die Mannschaft der Saison.
Was sagt es über Leverkusen aus, dass Xabi Alonso bleibt und nicht zu den Bayern wechselt?
Mich hätte es auch überrascht, wenn er gegangen wäre. Es gibt keinen Grund. Die Mannschaft bleibt mehr oder weniger zusammen. Die nächste Herausforderung ist die Champions League. Mit dem Kader kann man auch in diesem Wettbewerb eine gute Rolle spielen. Ein Tick Dankbarkeit wird bei der Entscheidung auch eine Rolle gespielt haben, aber insgesamt stimmt das Gesamtpaket. Irgendwann wird er mal bei einem anderen Klub landen, aber noch ist er unterm Bayer-Kreuz.
Ein anderer Trainerkandidat bei den Bayern war Julian Nagelsmann. Da haben Sie in Ihrer Funktion als DFB-Sportdirektor dazwischengefunkt. Wie lief die Vertragsverlängerung mit dem Bundestrainer?
Als wir uns im vergangenen Herbst von Hansi trennen mussten, war ich froh, dass Julian auf dem Markt war. Ich habe ihn direkt angerufen und habe gemerkt, dass ihm die Idee gefällt. Es war aber ja nur – wie bei mir auch – bis nach der EM geplant. Doch die Konstellation passt einfach. Es war wichtig, nach den Niederlagen gegen die Türkei und Österreich im Frühjahr öffentlich zu signalisieren, dass wir mit ihm weitermachen wollen. Man erkennt einen Top-Trainer daran, was er in Phasen macht, in denen es nicht so läuft. Julian ist nicht nur ein hervorragender Trainer, er ist auch sehr detailliert in seinen Gedanken, wie er unsere Mannschaft verbessern will. Es war für uns alle beim DFB schnell klar, dass er bleiben soll. Vor vier, fünf Wochen standen die Chancen aber 50/50, ob er bleibt. Ich habe es schon auch manchmal für möglich gehalten, dass er schwach werden könnte. Es waren ja nicht nur die Bayern an ihm interessiert. Es war eine schwierige Entscheidung für ihn. Ich bin immer drangeblieben, wollte ihn aber auch nicht nerven. Er wusste aber, dass ich gemeinsam mit Bernd Neuendorf und Andreas Rettig um ihn kämpfen und ihn immer schützen würde, auch wenn es mal Gegenwind geben sollte. Jetzt wird die Heim-EM für Julian als Bundestrainer etwas ganz Besonderes. Doch auch die Weltmeisterschaft in zwei Jahren wird für ihn mit Sicherheit ein fantastisches Erlebnis, eine riesige Herausforderung. Das habe ich ihm auch gesagt. Am Ende hat er die richtige Entscheidung für uns getroffen.
Wie nehmen Sie den Stimmungswechsel im Land vor der EM wahr? Eine einzige Länderspielphase hat gereicht, um von Vorrunden-Aus-Angst auf Titeleuphorie umzuschalten.
Ich habe immer darauf gehofft. Jetzt ist die Euphorie da. Ich merke das, überall wo ich bin. Die Leute sind positiv. Ich will das auch nicht bremsen, aber jetzt müssen wir das bestätigen. Das Spiel gegen Frankreich war das Beste, was eine deutsche Nationalmannschaft in den vergangenen Jahren gezeigt hat – und das gegen einen absoluten Top-Gegner. Ich war vor dem Spiel etwas nervös, aber danach wusste ich: Das war die Wende. Das Spiel gegen Holland war dann die Bestätigung dafür.
Julian Nagelsmann hat zuletzt einen Umbruch eingeleitet. Damit hat er etablierte Spieler etwas gekitzelt, die nun auch wieder besser performen. Wie schwierig wird die EM-Nominierung für den Trainer?
Ich war selbst vier Jahre in der Position, ich weiß, wie schwierig das ist. Man muss auch immer sehr harte und auch mutige Entscheidungen treffen, aber diese große Gabe hat Julian. Die Idee, Kai Havertz als Linksverteidiger zu testen, hatte Julian schon bei der USA-Reise. Der Gedanke dahinter: Er wollte einfach so einen guten Spieler nicht auf der Bank lassen. Also hat er nach einer Lösung gesucht, ihn spielen zu lassen. Auch wenn das dann nicht komplett funktioniert hat, liebe ich das an Julian. Er trifft solche Entscheidungen, wenn er davon überzeugt ist. Das wird auch bei der Nominierung so sein.
Ist der EM-Titel für Deutschland ein realistisches Ziel?
Für mich bleibt der Topfavorit Frankreich. Sie haben den mit Abstand besten Kader. Wenn man sich da die Bank anguckt, wird einem schwindlig. Wir versuchen uns mit den anderen fünf, sechs Top-Nationen dahinter einzureihen. Dann kommen noch Überraschungsteams wie vielleicht Österreich oder die Schweiz dazu. Wir wollen die Gruppenphase überstehen, ab dem Achtelfinale muss dann alles passen. Viele vergessen, dass es 1990 gegen Holland oder 2014 gegen Algerien sehr knapp war. Man muss ab der K.o-Phase etwas Spielglück haben und auf einer Welle reiten. Wir können jeden Gegner schlagen, können aber auch gegen einige verlieren, wenn es mal nicht läuft.
Der DFB stand in den vergangenen Jahren sehr in der Kritik. Sie haben wie Julian Nagelsmann bis nach der WM 2026 verlängert. Wie sieht Ihre Agenda aus, um das Bild des DFB wieder zu verbessern?
Man kann machen, was man will, wenn der sportliche Erfolg nicht passt. Bei sportpolitischen Diskussionen hat man dann manchmal das Gefühl, dass man es keinem Recht machen kann. Die Nachwuchsarbeit ist auch ein polarisierendes Thema. Hannes Wolf als Verantwortlicher geht in dieser Position auf. Das ist eine Top-Lösung für den DFB. Nicht jeder hat seine Ideen gleich verstanden. Aber die Jugendlichen mit kleineren Spielformen und mehr Ballkontakten an den Fußball heranzuführen, ist genau richtig. Das wird ein wichtiges Thema bleiben.
Und nach der WM 2026 gehen Sie in den Ruhestand, oder wie geht es dann weiter?
Darüber mache ich mir keine Gedanken. Aber beim DFB ist dann in dieser Form sicher Schluss. Vielleicht geht es dann auf eine einsame Insel… (lacht).