In Paris verabschiedet sich Irmgard Bensusan als mehrfache Weltmeisterin vom Leistungssport – um die Zukunft der Para-Leichtathletik sorgt sie sich trotzdem.
ParalympicsVor Karriereende – Leverkusener Sprinterin fehlen weibliche Vorbilder im Parasport
Auf ihrem Instagram-Profil beschreibt sich Irmgard Bensusan so: „Ich bin das tollpatschige Mädchen, das über eine Hürde fiel und zur Para-Athletin wurde!“ Die Geschichte dahinter ist die: Bei den nationalen Meisterschaften in ihrem Heimatland Südafrika verletzte sich die damals 18-Jährige so schwer, dass an Leistungssport nicht mehr zu denken war. Die Diagnose: Drop-Foot, unheilbarer Nervenschaden im rechten Unterschenkel. Ihren Fuß kann sie seitdem nicht mehr aus eigener Kraft hochziehen.
Seitdem sind 15 Jahre vergangen. Bensusan ist inzwischen unter anderem fünffache Silbermedaillengewinnerin der Paralympics – für Deutschland. Weil ihre Behinderung in Südafrika nicht anerkannt wurde, wandte sich die Tochter einer deutschen Mutter an den TSV Bayer 04 Leverkusen, in dessen Para-Abteilung sie vor den Spielen in Rio de Janeiro ihre neue sportliche Heimat fand. Neben den paralympischen Medaillen in Rio und Tokio gewann sie Weltmeistertitel über 100, 200 und 400 Meter, lief Weltrekord.
Einfach war der Weg dahin nicht. „Das hat Mut gekostet, zu sagen, ich laufe wieder, obwohl ich weiß, dass ich langsamer bin, als zuvor. Ich lasse mein Heimatland hinter mir, ich lasse meine Familie hinter mir. Ich ziehe in ein fremdes Land, ohne die Sprache zu kennen. Aber die Leichtathletik ist meine erste große Liebe.“ Dafür habe sich der Schritt ans andere Ende der Welt gelohnt.
Nun steht die 33-Jährige kurz vor ihrem Karriere-Ende. Eine letzte Hürde will sie noch mitnehmen: die Spiele in Paris. Ein sportliches Ziel im Sinne einer Medaillenfarbe habe sie nicht. Es soll ein guter Abschied werden: „Ich will alles auf der Bahn lassen. Das ist der Grund, warum ich Sport treibe. Ich bin eine Kämpferin“, sagt Bensusan.
Wenn sie so redet – ihr Akzent ein Mix aus Englisch und Afrikaans – dann ist nicht viel übrig von dem „tollpatschigen Mädchen“, selbst wenn sie ab und zu immer noch ganz schön ungeschickt ist, wie sie lachend zugibt. Eher spricht da eine erfahrene, selbstbewusste Athletin, manchmal lustig, manchmal aber auch ernst.
Ihren Fuß zum Beispiel nennt sie „Schluffi“. Damit wolle sie zeigen: „Ja, ich habe eine Behinderung, aber das ist nichts Schlimmes. Wenn man Witze darüber macht, fällt es manchen Leuten leichter, damit umzugehen.“ Nicht nur darüber spricht sie offen. Auch die Depressionen, die sie nach ihrem Unfall ereilten, teilte sie mit anderen.
Irmgard Bensusan: Abschied von Leistungssportkarriere im Pariser Stade de France
Vielleicht ist das auch Teil ihrer südafrikanischen Mentalität. „Wir sind sehr direkt. Wenn mich etwas stört, dann sage ich es einfach.“ Mit einem Vorurteil will sie deshalb auch aufräumen. Weil sie – anders als einige Gegnerinnen ihrer Startklasse – mit zwei Beinen und einer Orthese statt mit einer Prothese sprintet, werde ihr das manchmal als Vorteil ausgelegt. Eigentlich sei sie aber sogar eingeschränkter, das werde unterschätzt.
Ihr sehe man die fehlende Funktion des Unterschenkels aber nicht sofort an. „Das liegt nicht daran, dass ich nicht behindert bin. Das kommt von Schweiß, Blut und Tränen, die im Training stecken, sodass es irgendwann ‚normal‘ wirkt.“
Para-Sport in Deutschland auf der Suche nach weiblichen Vorbildern
Dass sich Parasportlerinnen und -sportler häufig gegen solche Vorbehalte wehren müssen, ist nur eines der Themen, die Bensusan beschäftigen. Ein anderes sind Frauen im Sport, insbesondere im Para-System. „Wir sind jetzt an dem Punkt, wo es heißt, Frauen dürfen stark sein. Aber wir können uns noch weiter entwickeln.“ In Deutschland würden weibliche Vorbilder fehlen, die den Para-Nachwuchs anziehen.
Bensusan trainierte in Leverkusen jahrelang in einer Trainingsgruppe voller Männer. „Das war auch cool“, sagt sie. Inzwischen formiert sich beim TSV Bayer 04 aber ein junges Frauenteam, einige von ihnen starten ebenfalls in Paris. „Das hätte ich mir früher gewünscht“, sagt sie, mit Blick auf die Zeit nach Paris.
Denn die Trainingsgruppe wird dann ohne die erfahrene Bensusan, von manchen auch „Tante Irmie“ genannt, auskommen. Für die Südafrikanerin mit deutscher Staatsbürgerschaft geht es zurück in die Heimat. In Deutschland wird sie als Vorbild und Inspiration zurückbleiben, und zwar als mehrfache paralympische Medaillengewinnerin, weniger als das tollpatschige Mädchen.