„Ihrem Schicksal überlassen“Wie ein Radklassiker für die Fahrer zum Höllentrip wurde
Den Vorbeifahrenden öffnet sich ein Blick in Dantes Inferno. Radprofis liegen bei regenverhangenem Himmel im Dreck, im Feld, im Straßengraben, auf dem Kopfsteinpflaster, haben Pannen, stürzen wie die Lemminge, ihre Vorderseite ist mit Schlamm bedeckt, die Gesichter sind schwarz vom Matsch des Parcours, der sie durch die Hölle des Nordens führte, von Paris nach Roubaix. Fast alles davon ist auf dem folgenden Foto zu sehen.
Die Hölle des Nordens heißt dieses Radrennen, weil es bei seiner Premieren-Austragung nach dem Ersten Weltkrieg vorbeiführte an den Schlachtfeldern des Wahnsinns und an in der Folge davon verwaisten und verwüsteten Landstrichen. Die Hölle des Nordens heißt das Rennen aber auch, weil es sogar bei Sonnenschein und trockenem Untergrund eine Qual ist, es zu bestreiten. 30 Sektoren mit 55 Kilometer Kopfsteinpflasterpassagen, erhalten für diesen einen Tag, für dieses Rennen, das seit 1896 existiert, lassen Unterarme, Handgelenke und Finger anschwellen, Schmerzen entstehen, die die Teilnehmer noch Tage danach mit Prellungen spüren und in Form von Blasen an den Händen sehen.
Wenn nichts mehr berechenbar ist
Wenn sich nun aber, wie am Sonntag, infernalische Elemente hinzu mischen, Regen, Kälte, aufgeweichte Böden, glitschig-öliges Pflaster in den brutalen, nur mit Schmerzen zu befahrenden Sektoren, dann dreht sich die Welt der Profis um, ist nichts mehr berechenbar, herrscht Anarchie und der Drang, diesen Radsport-Anachronismus einfach nur zu überstehen.
Absteigen ist eine Option, klar, aber wer beendet schon einfach so einen Arbeitstag, für den er eingeplant ist? Zudem verbietet das über die Jahrzehnte überlieferte Fahrerethos einen solchen Gedanken. Die Antwort wäre: „Paris-Roubaix? Hat es immer schon gegeben. Und gewiss auch schon unter noch schlimmeren Bedingungen. Da hat auch keiner gejammert.“
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Radsport in dieser reinen Form – ein Mensch, ausgesetzt in der Landschaft, kämpft auf einem antiquierten Fortbewegungsmittel gegen alle infrastrukturellen und meteorologischen Gemeinheiten – ist der Ursprung der vielen homerschen Heldengesänge, die diese Männer aus Eisen einst zu Mythen verklärten. Die 118. Auflage von Paris-Roubaix, der Königin der Klassiker, des schwersten Eintagesrennens der Welt, wird aber in die Geschichte dieses Rennens eingehen, und zwar als Jahrhundert-Hölle des Nordens und des absoluten Wahnsinns.
Viele Stürze und Zwischenfälle
So viele Stürze, Platten, Zwischenfälle gab es tendenziell noch nie – von Radfahrern. Aber auch einige Kamera-Motorräder lagen bisweilen, plötzlich unbeherrschbar, im Matsch. Philippe Gilbert, ein knochenharter Belgier, Roubaix-Sieger von 2019, mit 39 Jahren der Doyen der Teilnehmer, sagte: „Es sind unbeschreibliche Dinge passiert. Stürze in allen Richtungen. Einmal hat uns sogar ein Reifen überholt, mit heftigem Tempo, er gehörte zu einem Begleitfahrzeug, einem Auto.“ Der Franzose Adrien Petit schilderte nach dem Rennen im Velodrom von Roubaix seinen Tag: „Ich hatte permanent Schlamm in den Augen. Ich habe nicht die Löcher in den Sektoren sehen können. Einmal bin ich in ein Rübenfeld geflogen, einmal ganz alleine auf der rutschigen Fahrbahn gestürzt, einfach so, wie ein Idiot. Ich war nervlich am Ende.“ Der Deutsche Max Walscheid, Zwölfter am Ende, berichtete: „Ich hatte so starke Schmerzen in den Beinen, dass ich heulen musste. Ich habe nur noch daran gedacht, zu überleben.“ Der Hürther Nils Politt, Zweiter 2019, teilte mit: „Ich musste dreimal das Rad wechseln. Einmal zu viel.“ Er gab abgehängt auf.
Und der Sinn des Ganzen? Thierry Gouvenoux, der Renndirektor von Paris-Roubaix, war zwar erschrocken über die Gegebenheiten, sagte aber auch: „Es war die richtige Entscheidung, die Fahrer ihrem Schicksal zu überlassen. Dieser Tag wird eine ganze Generation von Fahrern prägen, sie werden sich ihr ganzes Leben daran erinnern. Sie sind Legenden.“
174 Fahrer haben das Rennen aufgenommen. 96 von ihnen haben 257 Kilometer später das Velodrom von Roubaix innerhalb der erlaubten Zeit erreicht. Zehn haben das Zeitlimit gerissen. 68 haben aufgegeben. Ach ja: Gewonnen hat der Italiener Sonny Colbrelli. Bei seiner ersten Teilnahme. Ein höllisches Wunder.