Kinder in der Krise„Corona habe ich als Katastrophe erlebt“
Köln – Kinder werden vom Corona-Virus am wenigsten bedroht und von den Einschränkungen am stärksten getroffen. Besonders leiden sie, wenn in ihren Familien Geld, Platz und Wertschätzung schon vorher knapp war. Fälle von häuslicher Gewalt steigen. Sich jemandem anvertrauen, können die Kinder kaum noch. Sechs Menschen aus „wir helfen“-Projekten erzählen, wie sie ihnen auf Abstand in der Krise beistehen.
David Strack, Trainer der Rheinflanke: „Wir haben nicht alle erreicht“
Eigentlich sind wir viel draußen, machen viele Sportprojekte, spielen Fußball. Durch die ersten Corona-Einschränkungen konnten wir gar nicht arbeiten. Da mussten wir uns als Team überlegen, wie wir zu den Kindern Kontakt halten. Wir haben ein Online-Programm aufgestellt. Konkret haben wie Fitness angeboten, wo sich die Kinder zuschalten konnten; ein Mal pro Woche haben wir ein Quiz organisiert; dann aber auch online Playstation zusammen gespielt, um Kontakt zu halten.
Wir wollten die Jungend und Mädchen einfach möglichst gut unterstützen. Deshalb hatten wir auch eine Corona-Sprechstunde, in der alle Fragen stellen konnten, ob so manche Theorie, die online kursierte, tatsächlich stimmt. Da haben wir versucht, gut zu informieren und zu zeigen, woran man Falschinformationen erkennt. Das hat geklappt, aber wir haben nicht alle erreicht. Manche haben keinen Laptop oder kein Handy. Aber die sind dann nach dem Lockdown wiedergekommen. Mit solchen Entwicklungen mussten wir rechnen.
Für uns als Team war das aber die erste Krisensituation, die wir meistern mussten. Nach dem Lockdown mussten wir uns neue Übungen ausdenken, damit die Abstände eingehalten werden. Es war schön zu sehen, dass viele Jugendliche direkt nach der Öffnung wieder gekommen sind. Jetzt ist es leider wieder so, dass wir nur eingeschränkt arbeiten können. Nur acht Jugendliche können zum Platz kommen. Insgesamt haben sich wenige über die Corona-Regeln beschwert – klar, hin und wieder, aber generell haben sie sich auf alles eingelassen.
Ruzdija Sejdovic, Rom e.V.: „Man spürt eine gewisse Traurigkeit“
Corona habe ich als Katastrophe erlebt. Ich und mein Team arbeiten hauptsächlich mit Kindern und Jugendlichen mit Roma-Hintergrund aus Südosteuropa, auch mit Kindern in Flüchtlingsheimen. Viele Familien haben sehr viele Kinder und leben auf kleinem Raum. Wenn jemand in der Familie infiziert ist, bedeutet das, dass sich gleich zehn oder 15 Menschen anstecken können. Wenn ein Kind nur ein wenig Husten hat, gibt es daher Panik. Es gab viel Angst vor Corona und wenig Informationen auf romanes. Eine Mutter mit sechs Kindern zum Beispiel ist Analphabetin. Sie wusste nicht, worauf es bei den Schutzmaßnahmen ankommt. Wir haben ständig telefoniert.
Schließlich habe ich selbst einen mehrseitigen Flyer auf Romanes verfasst.Kinder hatten oft das Problem, das sie ihre Schulmaterialien nicht ausdrucken konnten. Wir haben die Aufgaben für etwa 30 Kinder bei uns ausgedruckt und sind in die Heime gegangen, haben die Aufgaben verteilt und erklärt. Am Ende haben wir sie als PDF zurück in die Schulen geschickt. Das war viele Monate lang sehr viel Arbeit.
Wir haben viele aktive Kinder beobachtet, die im Lockdown und danach ruhiger geworden sind. Man spürt bei ihnen eine gewisse Traurigkeit. Ich wünsche mir, dass die Familien mehr Platz erhalten. Wir kennen Familien, die sind zu siebt und müssen in 50 Quadratmetern leben. Das ist fast unmenschlich. Sie haben keine Chance auf dem Wohnungsmarkt, eine größere Wohnung zu finden.
Pfarrer Franz Meurer: „Wir versuchen, das Optimale herauszuholen“
Es ist viel mehr Zusammenhalt zu spüren wie vor Corona. Alle strengen sich wie jeck an. Nur ein Beispiel: Wir stellen derzeit Tannenbäumen im Viertel auf, die uns von einem Mann geschenkt worden sind. Im Lockdown haben wir auch Päckchen mit Spielsachen und Knabberzeug an Kinder verschickt. Normalerweise bekommen die Schulen und Kitas von uns große Weckmänner, die die Kinder an St. Martin teilen sollen. In diesem Jahr ging das aber mit dem Teilen nicht. Die Weckmänner mussten in diesem Jahr alle verpackt sein. Der Bürgerverein hat die besorgt und so hat dieses Jahr jedes Kind einen bekommen.
Die Ferienfreizeit im Hövi-Land musste heruntergefahren werden. Es durften nur 200 statt 600 Kinder mitmachen, und wir mussten vom Hövi-Land-Gelände in Vingst an die Erlöserkirche und St. Theodor ziehen. Die Kinder waren trotzdem happy. Das Besondere ist, dass viele Eltern und Kinder, denen es ein bisschen besser geht, von sich aus verzichtet haben. Es sind daher viele Kinder dabei gewesen, die sonst nichts haben. Es ist uns auch gelungen, in den Herbstferien sieben kostenlose Ausflüge zu machen.
Wir halten engsten Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen. Ich lebe ja ohne Internet, Handy und alles. Den Kontakt halten daher meine Mitarbeiter über WhatsApp und andere soziale Medien. Einer macht zum Beispiel Singübungen über das Handy. Vorigen Sonntag haben aber auch sechs vom Jugendchor mit Abstand und Maske zusammen gesungen. Wir versuchen unter Einhaltung strengster Regelungen das Optimale herauszuholen.
Die Pandemie schlägt natürlich auf das Gemüt von Kindern und Eltern. Es gibt Fälle von seelischer Not wie den einer Mutter mit drei Kindern, die immer schon seelisch sehr angeschlagen ist. Die ist natürlich jetzt noch mehr angeschlagen. Ich habe auch einen alleinerziehenden Mann mit einem Kind, der war zuerst in Kurzarbeit und hat im September seinen Job verloren. Natürlich muss ich den, wie man in Kölle sagt, am Fressen halten. Aber das geht. Wir haben eine Lebensmittelausgabe und die Kinderkammer.
Wir finanzieren viel über Spenden. Die Leute, die uns unterstützen, kommen fast alle von außerhalb. Und sind sehr, sehr treu. Kollekte hat sich früher nicht gelohnt und lohnt sich auch heute nicht. Wo soll das Geld hier auch herkommen. Eben brachte eine Frau mindestens 30 Kilo Plätzchen. Eine andere rief und fragte, ob wir wieder Früchtebrot brauchen würden. Man darf nicht zuerst fragen, geht das finanziell, sondern man muss was Vernünftiges machen und dann soll der Herrgott dafür sorgen. Bei uns steht aber das Geld nicht im Vordergrund, dafür ist der Staat da. Wir machen, was man für Geld nicht kaufen kann.
Victoria Fromm, Nippes Museum: „Viele wussten nicht, wie man eine E-Mail schickt“
Vor der Pandemie war unsere Einrichtung für Jugend- und Bildungsarbeit jeden Nachmittag geöffnet. Jeder konnte ohne Anmeldung zu uns kommen und hat kostenlos Hilfe bei den Hausaufgaben bekommen. Im März mussten wir von einem auf den anderen Tag schließen. Keinem von uns war klar, was zu tun ist.
Wir haben die Schülerinnen und Schüler angerufen und sind dann langsam auf Förderung per Video-Chat umgestiegen. Das war für alle Beteiligten, Schüler und Nachhilfelehrer, eine riesige Herausforderung. Zwar hatten die meisten unserer Besucher die technischen Geräte – ein Tablet, ein Smartphone oder einen Laptop – in der Familie, aber nicht das Wissen, wie man richtig damit umgeht.
Das gängige Bild, das Kinder und Jugendliche technische Geräten besser bedienen können als Erwachsene, stimmt nur bedingt. Weil sie die Geräte eben ganz anders nutzen. Sie machen Fotos und spielen mit Apps. Aber: Wie trete ich einen Video-Chat bei? Wie schreibe ich eine E-Mail oder verschicke einen E-Mail-Anhang? Wie bearbeite ich ein Word-Dokument? Das mussten viele erst lernen und wir konnten sie dabei aus der Distanz ja nur bedingt unterstützen. Da ging am Anfang einfach sehr viel Zeit dafür drauf, dass überhaupt beide das gleiche Material vor sich liegen haben. Statt einfach nach der Schule die Arbeitsblätter mit zu uns zu bringen, müssen die Kinder die Blätter abfotografieren und als E-Mail verschicken. Das dauert und ist umständlich.
Seit Beginn der Sommerferien ist das Nippes Museum wieder offen. Wir waren alle so erleichtert. Die Kinder haben gesagt: „Wir sind so froh, euch wiederzusehen – auch mit Abstand und Maske.“ Und wir haben uns natürlich auch riesig gefreut, über die Wertschätzung und den Kindern mal wieder gegenüber zustehen. Vom Ablauf hat sich allerdings sehr viel verändert. Das offene System – das jeder kommt und geht, wann er möchte – gibt es nicht mehr. Unsere Kern-Besucher müssen vorher Termine buchen. Das hat einerseits Vorteile, denn durch unser Abstands- und Hygienekonzept bekommt ein Schüler jetzt fast immer eine 1:1-Betreuung. Wer nur mit einem Schüler an den Aufgaben arbeitet, kann seine Probleme viel besser erkennen und allgemein besser mit ihm ins Gespräch kommen.
Andererseits: Für manche ist die begrenzte Zeit von einer Stunde pro Termin auch viel zu kurz. Damit wir jedem gerecht werden, können die Mädchen und Jungen jetzt auch nicht mehr so oft kommen. Falls es in den nächsten Wochen wieder mehr Homeschooling gibt, werden auch wir wieder verstärkt Online-Lösungen anbieten. Das machen wir jetzt schon, mit Kindern, die in Quarantäne sind.
Stephi Siebert, music4everybody: „Junge Flüchtlinge sind isoliert“
Ich bin Projektleiterin eines Vereins, der seit Jahren integrative Musicalprojekte für Kinder und junge Erwachsene anbietet. Wir haben zurzeit 19 Projekte mit mehr als 1500 Teilnehmenden. Einen Tag nach meinem Geburtstag im Frühjahr begann der erste Lockdown, und plötzlich standen 30 Mitarbeitende vor dem wirtschaftlichen Nichts. Manche der Teilnehmenden, viele davon mit Fluchterfahrungen, fühlten sich anfänglich sehr verunsichert und auch isoliert. Wir haben darum schnell Kontakt zu ihnen aufgenommen, um sie über Covid-19 zu informieren und einfach für sie da zu sein.
Wir haben in Online-Konferenzen gemeinsam nach Lösungen gesucht, um die Projekte zu retten. Zum Glück hatten manche Kollegen schon Erfahrung mit Online-Unterricht. Wir haben die Projekte zum Teil per Videokonferenz weitergeführt. Das war nicht einfach. Anfangs konnten wir so nicht alle Schüler erreichen: Manche hatten weder Endgeräte noch Internet. Schließlich haben wir einige Endgeräte mit Internetzugang gekauft. So konnten die isolierten Flüchtlinge wieder Kontakt aufnehmen. Nach und nach haben wir neue Lösungen gefunden. Später haben wir mit Grundschülern ein ganzes Theaterstück per Online-Unterricht geschrieben und geprobt, mehrere Hörspiele entwickelt und veröffentlicht.
In vielen Projekten haben wir statt Live-Aufführungen Gesang, Tanz und Schauspiel einzeln gefilmt und zu Musikfilmen geschnitten. Aus diesen Erfahrungen sind neue hybride Projekte entstanden. Insgesamt hat sich unsere Arbeit sehr gewandelt. Das war und ist nicht einfach. „Planung auf Sicht“ ist immer noch an der Tagesordnung. Doch die Entwicklung finde ich insgesamt positiv. Ohne den großen Einsatz der Dozenten und den Durchhaltewillen der Teilnehmenden hätten wir das nicht geschafft. Wir sind in dieser Zeit sehr zusammengewachsen und haben dabei die Weichen für die Zukunft neu gestellt.
Amir Raksh-Bahar, Sozialarbeiter am Kölnberg
Vor Beginn der Corona-Pandemie war ich viel auf der Straße unterwegs, hab mit den Jugendlichen gesprochen, Fragen geklärt, sie begleitet, mit ihnen Sport gemacht, sie im Jugendzentrum getroffen. Das lief super. Dann kam Corona. Im ersten Lockdown war das Jugendzentrum geschlossen, und wir haben nur Büroarbeit gemacht. Über Whatsapp und Facetime haben wir zu manchen Jugendlichen Kontakt gehalten oder Hausaufgaben-Betreuung gemacht. Aber einige haben kein Internet Zuhause oder kein Handy oder Tablet. Manche Familien sind sonst auch auf die Tafel angewiesen. Die gab es im Frühjahr aber nicht. Deshalb haben wir Pakete mit Lebensmitteln organisiert: Nudeln, Konserven, Getränke.
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Jetzt, im zweiten Lockdown, kann ich immer noch nicht wirklich auf der Straße arbeiten, nur ab und zu in Einzelbetreuung. Die Jugendlichen verstehen oft nicht, wieso sie sich zu acht – mit Maske und Abstand – im Jugendzentrum treffen dürfen, aber nicht draußen. Das ist für sie widersprüchlich. Die ständigen Änderungen der Corona-Regeln sind ebenfalls schwer nachzuvollziehen. Da kommt keiner mehr hinterher, keiner weiß, was erlaubt ist und was nicht.Ein Junge wusste letztens nicht einmal, dass er in Quarantäne ist, weil ein Mitschüler positiv getestet wurde. Das haben wir zufällig erfahren und ihn dann nach Hause geschickt. Manche fragen mich auch, ob sie während der Quarantäne tatsächlich die ganze Zeit Zuhause bleiben müssen – oder ob sie einfach nur nicht in die Schule müssen. Viele haben generell kein Gefühl für Corona. Deshalb gehen manche zum Beispiel trotz Quarantäne raus. Da versuche ich aufzuklären.
Ein Problem ist auch die Schule: Viele sind schon vor Corona nicht regelmäßig in die Schule gegangen, jetzt sind sie noch schulmüder. Das ist sehr traurig. Unabhängig von den Leuten hier in Meschenich werden wir später viele Schüler und Azubis haben, denen einfach ein Jahr Bildung fehlt. Es gibt nicht für jeden die Möglichkeit, Zuhause ordentlich zu lernen.