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Ein Besuch in 120 Metern HöheKönnen Windräder die „Energie der Freiheit“ liefern?

Lesezeit 6 Minuten

Gespräch mit Wartungstechniker Kevin Granderath (l.) in 120 Meter Höhe.

NX 85495 kennt keine Versorgungsengpässe, keine deutschen Abhängigkeiten von russischem Öl und Gas. NX 85495 hat keine Ahnung davon, dass ein Windrad nach Ansicht von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) seit dem von Wladimir Putin befohlenen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht mehr bloß Ökostrom, sondern auf einmal die „Energie der Freiheit“ liefern muss. Es weiß auch nichts vom Gigawattpakt, den die schwarz-gelbe Landesregierung in Düsseldorf diese Woche ausgerufen hat.

NX 85495 steht einfach nur auf einem riesigen Feld bei Heinsberg, den Braunkohletagebau im Rheinischen Revier in Sichtweite, hält sich aus der Politik raus und produziert mit einer Leistung von 2,4 Megawatt zuverlässig grünen Strom. 7,2 Millionen Kilowattstunden pro Jahr. Seit Anfang 2017. Das reicht, um damit rund 2200 Durchschnittshaushalte ein Jahr lang mit Strom zu versorgen.

Windrad erzeugt 20 Jahre lang Strom

Das ist schließlich auch der Job eines Windrads des Typs Nordex 117, dem Volkswagen unter den Schwachwindturbinen. Die springen bereits bei Windgeschwindigkeiten von vier bis fünf Metern pro Sekunde an, wie sie im Binnenland zwischen Aachen und Köln durchaus üblich sind.

Mehrere tausend Stück dieses Meisterwerks des deutschen Maschinenbaus sind weltweit im Einsatz. In Deutschland unter besonders strengen Auflagen. NX 85495 verfügt über eine Fledermaus-Abschaltung, die von April bis Oktober in den Morgenstunden dafür sorgt, dass kein Tier zu Schaden kommt.

Mindestens 20 Jahre wird NX 85495 grünen Strom erzeugen, so lange wird der Strom aus Mitteln des Erneuerbare-Energien-Gesetzes finanziert. Das muss aber nicht das Ende sein. Mittlerweile gibt es Windräder, die deutlich länger laufen und deren Betreiber auf dem freien Strommarkt sogar Geld verdienen, weil sie den Strom direkt an Stadtwerke oder Industrieunternehmen verkaufen.

Wir stehen in 120 Meter Höhe auf dem Dach der Gondel von NX 85495, in die die gesamte Technik eingequetscht ist. Generator, Getriebe, Bremse, Rotornabe. Vor uns die Rotorblätter mit einem Durchmesser von ebenfalls 120 Metern. Abgeschaltet natürlich.

Wir sind gesichert mit Zugseilen, die wir vor jedem Schritt mit Karabinerhaken in gelbe Metallschlaufen auf dem Gondeldach einhaken müssen. Mit einem Aufzug im Inneren des Turms, der eher einem Käfig gleicht und in den so gerade zwei Personen passen, sind wir eben noch bis unter die Gondel gefahren. Es knirscht und rumpelt, die Elektromotoren surren vor sich hin.

Zehn Minuten Fahrt für gut 100 Meter. Schnell ist anders. Aber Schnelligkeit ist das letzte, auf das es im Inneren eines Windrades ankommt.

Windparks in Deutschland, Schweden, Chile

Die letzten Meter bis zur Gondel müssen wir uns über Leitern vorbei an Schaltkästen und dem Generator zwängen. Auf dem Dach angekommen, beantworten sich viele Fragen von selbst. Nein, die Rotorblätter der vielen Nachbarn von NX 85495 sind nicht laut. Der Verkehr auf der Bundesstraße unter uns ist deutlich zu hören.

„Wir haben wirklich einen schönen Tag erwischt“, sagt Techniker Kevin Granderath (24). Seit zweieinhalb Jahren arbeitet er für eine Spezialfirma, die sich um die Wartung der Windenergieanlagen kümmert. WPD-Windmanager heißt das Unternehmen, das weltweit 2711 Anlagen betreut. Die meisten davon stehen in Deutschland, viele in Schweden und Finnland. Zuletzt hat WPD einen großen Windpark in Chile eröffnet.

Reporter Peter Berger auf dem Gondeldach.

Bilderbuchtage wie heute sind eher selten, weiß Granderath. Im Winter habe es auf der Gondel schon mal minus 30 Grad, im Sommer im Turm bis zu 40 plus. Bei diesen Extremen sei die Arbeit nicht immer ein Vergnügen.

Es gebe Anlagen, die sich bei der Kälte wegen der Gefahr des Eiswurfs von selbst abschalten, Andere hätten beheizbare Rotorblätter. Techniker Granderath könnte stundenlang über seinen Job erzählen. „Ich kann mir nichts Interessanteres vorstellen“, sagt er.

Die Wartungsteams arbeiten grundsätzlich mindestens zu zweit. Allein fährt keiner an die Spitze eines Windrads. „Im Notfall müssen wir uns gegenseitig helfen können“, sagt Granderath. „Es kann ja mal passieren, dass wir uns außen in einem Korb runterlassen müssen.“ Alle Rettungsgeräte haben Seillängen von 160 Metern.

Das Windrad NX 85495 auf dem Feld bei Heinsberg. Am Horizont liegt der Braunkohletagebau.

Eine Brandmeldeanlage mit automatischer Löschfunktion für die Schaltschränke soll im Ernstfall das Schlimmste verhindern. „Hier oben kannst Du nicht einfach die Feuerwehr rufen.“ Die Höhenrettung wird einmal im Jahr trainiert. Mal mit der Abseilaktion aus der Gondel über die Außenseite, dann über die Leitern im Turm.

Wir könnten schon viel weiter sein mit den Erneuerbaren. Der Blick von oben auf den Tagebau im Rheinischen Revier macht Granderath nachdenklich. Sein Arbeitsplatz ist sicher, Techniker wie er werden in der Windkraftbranche händeringend gesucht. Das hier ist die Zukunft, die Vergangenheit liegt aus der Perspektive des 24-Jährigen schon in weiter Ferne.

Zeitgemäße Grubenfahrten

Genau das ist der Grund, warum der Landesverband Erneuerbare Energien NRW (LEE) die Landtagskandidaten aller demokratischen Parteien aus den Wahlkreisen Heinsberg 1, Heinsberg 2 und Mönchengladbach zu einer „Gondel-Besteigung“ eingeladen hat.

„Zeitgemäße Grubenfahrten führen heute nicht mehr nach unten in die Tiefe, sondern nach oben in die Höhe“, sagt LEE-Geschäftsführer Christian Mildenberger. „Wer moderne Energieerzeugung live erleben will, für den ist die Fahrt auf die Gondel einer Windenergieanlage in 100 Meter und mehr ein Muss.“

Dass nur Kandidaten von SPD und Grünen der Einladung gefolgt sind, will Mildenberger nicht kommentieren. Ein vielsagendes Schmunzeln – mehr ist ihm nicht zu entlocken.

Krieg rückt Versorgungssicherheit in den Fokus

Dabei hat die schwarz-gelbe Landesregierung in Düsseldorf gerade in dieser Woche, aufgeschreckt durch den Ukraine-Krieg, mit rund 50 Kommunen, Kreisen, Unternehmen der Energiewirtschaft und Stadtwerken einen sogenannten Gigawattpakt unterzeichnet, dessen Ziel es ist, die Stromerzeugungskapazitäten bis 2028 von derzeit 2,3 auf fünf Gigawatt mehr als zu verdoppeln. Gleichzeitig will die Landesregierung die Erneuerbaren verstärkt für die Wärmeerzeugung nutzen. Der Krieg in Europa habe „die Versorgungssicherheit in den energiepolitischen Fokus gerückt. Es ist klar, dass es kein »Weiter so« in der Energieversorgung geben kann“. Deutschland sei gezwungen, „die große Abhängigkeit von fossilen Energieimporten zu verringern“, sagt Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP). „Deshalb ist es wichtig, dass wir in Nordrhein-Westfalen mit dem Gigawattpakt beim Ausbau der Erneuerbaren eine Schippe drauflegen.“

Eine Schippe drauflegen. Das ist ein leises Eingeständnis, dass man in der Vergangenheit die Windkraft nicht gerade gefördert hat. Die Zahlen belegen das. 2019, im zweiten Jahr der schwarz-gelben Landesregierung wurden nur noch 128 neue Windkraftanlagen in Betrieb genommen.

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Pinkwart verweist deshalb lieber darauf, dass Nordrhein-Westfalen von 2018 bis 2021 die Windkraft dreimal so stark ausgebaut habe wie Baden-Württemberg und mehr als elfmal so stark wie Bayern. Auch bei den Genehmigungen liege man mit 1360 Megawatt auf Rang zwei hinter Schleswig-Holstein.

Auch die Stadt Bergheim hat den Gigawattpakt unterzeichnet. Doch im Bergheimer Planungsausschuss haben CDU und SPD noch vor einer Woche verhindert, dass der Windkraftausbau vorankommt.

Entsprechende Pläne gibt es schon lange. Fünf neue Anlagen bis 2025 könnten auf der Fischbachhöhe in Kooperation mit den Aachener Stadtwerken entstehen, weitere fünf bis 2030 und danach noch einmal zehn. Das Repowering, also den Austausch alter Windräder nicht eingeschlossen. Bisher sind dafür immer noch neue Planungen und Baugenehmigungen nötig, weil neue Anlagen meist größer und leistungsfähiger sind.

Eine Zeitwende

Seit dem Jahr 2016 bestehen in Bergheim die planungsrechtlichen Voraussetzungen für drei weitere Windparks – in Paffendorf, auf der Stommelner und der Wiedenfelder Höhe. „Das ist ja das Absurde. Alle unterschreiben irgendwelche Dinge, aber die praktischen Dinge werden nicht getan. An der Wiedenfelder Höhe könnten wir heute schon bauen. Wir wären mit der Vorplanung längst durch“, sagt Peter Hirseler, Fraktionschef der Grünen im Bergheimer Stadtrat.

Sie werden bauen, glaubt Hirseler. So viel ist sicher. Die Frage ist nur wie schnell. Nicht umsonst sei in diesen Tagen von einer Zeitenwende die Rede. Der Wind hat sich gedreht.