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Streitfrage der WocheSind wir selbst schuld am Flug-Chaos?

Lesezeit 6 Minuten
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Lange Warteschlangen am Flughafen

  1. Fliegen ist in diesem Sommer eine Geduldsprobe. Doch wer trägt eigentlich die Verantwortung für lange Wartezeiten, Ausfälle und verlorenes Gepäck?
  2. Corinna Schulz fragt sich, wie wir glauben können, dass Ticketpreise zum kleinen zweistelligen Spottpreis keine negativen Folgen haben?
  3. Wolfgang Wagner findet, dass allein diejenigen Schuld an dem Chaos sind, die es angerichtet haben.

KölnPro: Corinna Schulz findet, dass die Liberalisierung des Flugverkehrs grundsätzlich der richtige Schritt war, wir uns aber eine wichtige Frage stellen müssen: Wie können wir wirklich glauben, dass Ticketpreise zum kleinen zweistelligen Spottpreis keine negativen Folgen haben?

Endlose Warteschlangen, gestrichene Flüge, aufgebrachte Passagiere, völlig überfordertes Personal und verschollene Koffer – niemals zuvor gab es so große Verwerfungen im deutschen Luftverkehr. Allerdings sind das nur die Symptome eines Systems, das schon lange an seine Grenzen gekommen ist. Und für die Ursachen sind wir alle ein ganzes Stück mitverantwortlich.

Die Liberalisierung des Flugverkehrs Anfang der 1990er Jahre war grundsätzlich ein richtiger Schritt. Mehr Wettbewerb, sinkende Preise, mehr Menschen, die sich das Fliegen leisten konnten. Mit dem Markteintritt von Ultra-billig-Anbietern wie Ryanair drehte sich dann aber die Preisspirale immer brutaler nach unten.

PC-CorinnaSchulz

Wie können wir wirklich glauben, dass Ticketpreise zum kleinen zweistelligen Spottpreis keine negativen Folgen haben? Bemerkenswert ist es, auch immer wieder zu beobachten, dass Menschen mit gutem Gehaltsniveau, die ansonsten einen bewussten Lebensstil pflegen und gern über die Folgen des Klimawandels für ihre Kinder und Enkelkinder räsonieren, sich wie die Schneekönige freuen, ein Flugticket für 29 Euro nach sonst wohin ergattert zu haben.

Viele scheinen die Urlauberei auch nicht mehr als Freizeitvergnügen und Privileg zu empfinden, sondern in den Stand eines Menschenrechts zu erheben. Und so auch bitte gleich mindestens fünfmal im Jahr abheben, kostet ja nichts.

Falsch – auch beim Fliegen gilt eben ein Grundgesetz der Marktwirtschaft: Es gibt nichts umsonst. Fliegen ist immer teuer – nur zahlen im Moment andere dafür. Wenn Flugtickets nur einen Bruchteil einer Fahrkarte mit der Bahn kosten, muss eigentlich etwas faul sein, könnte man sich fragen. Dann werden irgendwo Kosten missachtet oder auf andere überwälzt.

Das gesamte Geschäftsmodell basiert mittlerweile an vielen Stellen auf billigen Arbeitskräften unter schlechten Jobbedingungen. Kein Wunder, dass die Menschen in andere Branchen abwandern und nun überall Personalmangel herrscht und die Krankenstände, sicher auch coronabedingt, auf Rekordniveau liegen. Weitere Leidtragende, die sich nicht wehren können, sind das Klima, die Umwelt oder kommende Generationen.

Dass Fliegen zu billig ist, erkennt mittlerweile sogar der Pionier der Billigflugstrategie, Michael O’Leary, seit bereits fast 30 Jahren Chef von Ryanair. Er sagte jüngst, es sei absurd, dass die Fahrt in London zum Flughafen mehr koste als der anschließende Flug. Fliegen sei einfach „zu billig für das, was es ist“. Und erhöhte gleich die Preise. Gut so!

Wer nun behauptet, dass höhere Ticketpreise vor allem die Armen treffen, irrt. Nicht die Armen fliegen ständig durch die Gegend, sondern die Mittelschicht. Höhere Ticketpreise würden den Wert und die wahren Kosten des Fliegens bewusst machen und damit vielleicht zum Verzicht des x-ten Fluges im Jahr führen. Die Beschäftigten könnten besser bezahlt und die Arbeitsbedingungen verbessert werden. So würden Jobs wieder attraktiver und die Beschäftigten müssten vielleicht nicht in andere Branchen abwandern.

Vieles spricht dafür, dass die derzeitigen Krisensymptome keine vorübergehenden Auswüchse sind – sondern der Beginn eines grundlegenden Wandels im Flugverkehr und das Ende der Ultra-billig Fliegerei. Und das wäre auch gut so.

Corinna Schulz (50), Wirtschaftsredakteurin, kommt aus einer reisefreudigen Familie und ist in der Vergangenheit viel geflogen. Heute meidet sie Dumping-Flieger und nutzt, wann immer es geht den Zug.

Contra: Wolfgang Wagner findet, dass allein diejenigen Schuld an dem Chaos sind, die es angerichtet haben. Trotz mancher Dumpingpreise geben die Airlines nämlich ein Versprechen ab: Dass sie ihre Kundinnen und Kunden zu einem festgelegten Zeitpunkt von A nach B transportieren.

Ja, möglicherweise ist das Fliegen noch zu billig. Und vielleicht lassen sich manche Menschen auch von den Kampfpreisen der Airlines zu unnötigen Flugreisen hinreißen, ohne an das Klima oder die ausgebeuteten Beschäftigten zu denken. Ihnen aber die Verantwortung für das umfangreiche Versagen der Flugbranche zuzuschieben, wäre eine unglaubliche Frechheit. Eine bodenlose Unverschämtheit. Denn: Schuld an dem Chaos sind allein diejenigen, die es organisiert haben – obwohl man das ja so nicht nennen kann.

Besser: die es angerichtet haben. Trotz mancher Dumpingpreise geben die Airlines nämlich ein Versprechen ab: Dass sie ihre Kundinnen und Kunden zu einem festgelegten Zeitpunkt von A nach B transportieren. Ihre Kalkulation schließt alle Leistungen ein, die dafür nötig sind: das Einchecken, den Gepäcktransport und natürlich etwa auch das Einweisen der Flugzeuge oder die Sicherheitschecks – selbst, wenn sie dies nicht selbst verantworten.

PC-WolfgangWagner

Wenn das dann zu einem bestimmten Preis angeboten wird, müssen sich Reisende darauf verlassen können, dass die Unternehmen ihr Produktversprechen auch einlösen. Wenn das – aus welchen Gründen auch immer – nicht der Fall ist, sind nicht die Kundinnen oder die Kunden die Schuldigen, sondern sie sind die Geschädigten, die Opfer.

Wenn jemand zum Beispiel eine Ferienwohnung in Bayern für 20 Euro pro Nacht buchte, die aber dann nicht verfügbar ist, kann man auch nicht sagen: Schön blöd, dass er sein Geld für so etwas ausgibt. Nein. Die Vorwürfe sind in diesem Fall nicht an den Betrogenen zu richten, sondern an den Betrüger. Und bei den Fluggesellschaften handelt sich nicht um irgendwelche zwielichtigen Klitschen, sondern um renommierte Unternehmen, die mal einen guten Ruf hatten.

Auch von den Flughäfen darf man erwarten, dass sie die Besucherströme, deren Größe sie ja im Unterschied etwa zur Deutschen Bahn oder zu den Kölner Verkehrs-Betrieben ganz genau kalkulieren können, so lenken, dass die Passagiere nicht Angst um Leib und Leben haben müssen. Denn dafür zahlen die Reisenden ebenfalls, wenn auch nicht direkt an den Airport-Betreiber, sondern über Umwege.

Klar, Verbraucherinnen und Verbraucher sollten ihre Kaufentscheidungen bewusst und verantwortungsvoll treffen. Aber es ist niemandem vorzuwerfen, wenn er bei einem günstigen Angebot zugreift. Wobei: So günstig ist die Reise mit dem Jet gar nicht mehr. Für Urlaubsreisen müssen Familien oft vierstellige Beträge hinblättern.

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Man darf in der Debatte eines nicht vergessen: Es sind in erster Linie die Unternehmen, die sparen wollen und outsourcen, was nur möglich ist. Und die – trotz allen Durcheinanders, das sie anrichten – sehr gut verdienen. Also: Bevor man die Opfer zu Schuldigen erklärt, sollte man den Verantwortlichen sagen: Sorgt für ausreichend Personal, behandelt eure Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anständig und macht vernünftig kalkulierte Preise. Dann seid ihr auch in der Lage, eure Kundinnen und Kunden anständig zu behandeln.

Dieser Appell muss sich natürlich ebenso an den Staat richten, der hoheitliche Aufgaben wie die Sicherheitskontrollen an solche Unternehmen auslagert, die den Auftrag zwar zu günstigen Konditionen übernehmen, aber ihrer Verantwortung offenbar nicht gerecht werden können.

Wolfgang Wagner (57), Leitender Redakteur, ist froh, dass er für diesen Sommer keine Flugreise gebucht hat. Dafür wird er aber vermutlich mit dem Auto im Stau stehen.