Klaus Müller, Chef der Netzagentur, hat vor der kalten Jahreszeit einen dringlichen Appell an Verbraucher und Unternehmen.
Interview zur Heiz-Saison„Die Gaskrise in Deutschland ist nicht vorbei“
Die neue Heizsaison beginnt schon bald. Und dann kommt wieder die bange Frage auf: Wie kommen wir durch den Winter? Klaus Müller gibt sich im RND-Interview optimistisch: Deutschland sei bei der Gasversorgung besser vorbereitet als im Vorjahr. Die Beschaffung des Brennstoffs sei diversifizierter, und die Industrie habe ihren Verbrauch gesenkt. „Deshalb können wir einen normalen und auch einen leicht kalten Winter bei einem sparsamen Umgang mit Gas bewältigen“, so der Präsident der Bundesnetzagentur. Verbraucher sollten aber in jedem Fall „ihren Gasverbrauch und den Preis, den sie dafür zahlen, im Blick behalten“.
Herr Müller, die Gaspreise sind wieder auf ein Niveau wie im Herbst 2021 gerutscht. Lautet jetzt für Verbraucher und Unternehmen die frohe Botschaft, dass alles wieder normal läuft?
Ja, die günstigeren Angebote sind da. Wobei man präzisieren muss: Es geht runter für diejenigen, die jetzt ihren Anbieter wechseln. Deshalb gibt es eine gefühlte Wahrnehmung von allen, die in den vergangenen sechs Monaten ihren Gasliefervertrag nicht gewechselt haben: Diese Gaskunden schauen auf ihre monatlichen Abschlagszahlungen und fragen sich: Wovon reden die denn? Deshalb mein Appell: Wer das kann, sollte sich um einen günstigeren Tarif kümmern, weil man mehr als nur ein paar Euro sparen kann.
Wir können uns also beim Heizen auch im kommenden Winter entspannt zurücklehnen?
Das wäre verfrüht. Erstens sind die Preise vor der Krise im Herbst 2021 nicht die niedrigsten gewesen. Zweitens: Mit Blick auf den nächsten Winter muss man sagen: Wir sind schon optimistisch, und wir sind besser vorbereitet als im Vorjahr. Beides ist darin begründet, dass die Industrie konstant deutlich weniger Gas verbraucht und dass wir auch beim Einspeichern und beim Diversifizieren der Beschaffung besser sind. Wir müssen versuchen, diesen Dreiklang über den nächsten Winter und darüber hinaus beizubehalten.
Was ist der Grund für die Sparsamkeit der Industrie?
Technische Innovationen und Modernisierungen sowie Energieeffizienzmaßnahmen wurden durchgesetzt. Wo das gelingt, ist das erfreulich. Zudem gibt es Unternehmen, die nach wie vor die Chance des Brennstoffwechsels nutzen – also Gas durch Öl ersetzt haben. Das ist ökologisch sicher nicht das Beste. Aber das hilft uns beim Gassparen. Es ist allerdings auch bittere Realität, dass es Firmen gibt, die mit den aktuellen Gaspreisen keine wettbewerbsfähige Produktion aufrechterhalten können. Insgesamt addiert sich das auf rund 20 Prozent Einsparung.
Drücken auch die privaten Haushalte ihren Verbrauch?
Viele Menschen gehen mit der Heizung bewusster um. Das erhoffen wir uns auch für den kommenden Winter. Wohlgemerkt: Niemand soll frieren. Aber zugleich bleibt es wichtig, dass die Menschen sich genau überlegen, welcher Verbrauch sich einsparen lässt.
Im Gasgroßhandel schwanken die Preise inzwischen massiv. Ein Streik von Hafenarbeitern in Australien reicht, um die Notierungen massiv nach oben zu schieben. Bereitet das Ihnen Sorgen?
Sogar die Androhung eines Streiks hat gereicht. Was wir seit Jahrzehnten beim Benzinpreis sehen – wenn die Opec hustet, kriegen wir eine Erkältung -, gilt jetzt auch beim Gasgroßhandel: Eine höhere Abhängigkeit von Preisschwankungen bei verflüssigtem Gas. Darauf müssen wir uns einstellen.
Jetzt müssen die Gaskunden hierzulande auch mit starken Schwankungen bei ihren Tarifen rechnen?
Das sehe ich nicht so. Denn der deutsche Markt ist nach wie vor von langfristigen Einkaufsstrategien geprägt, was nicht überall in Europa so ist. Das bedeutet: Der Verbrauchergaspreis sinkt nicht so schnell. Aber er steigt auch nicht so schnell. Private Haushalte sind auch davon abhängig, ob ihr Versorger gut einkauft. Deshalb lohnt es sich, die Tarife häufiger zu vergleichen und gegebenenfalls den Anbieter zu wechseln.
Wie werden sich die Gaspreise im Winter entwickeln?
Dieses Jahr hat der Gasmarkt ziemlich vernünftig funktioniert. Aktuell haben wir bereits Füllstände von 94 Prozent in den Gasspeichern. Deshalb können wir einen normalen und auch einen leicht kalten Winter bei einem sparsamen Umgang mit Gas bewältigen. Die Sorgen fokussieren sich auf einen sehr kalten Winter.
Nochmal: Wie sieht es dann mit den Preisen aus?
Natürlich reagieren die Preise auf Knappheit. Bereits jetzt sind bei Termingeschäften für eine Lieferung im Januar, Februar und März überschaubare Preisaufschläge enthalten. Das zeigt: Die Marktakteure sind davon überzeugt, dass der Staat wieder in der Lage wäre, gut vorbereitet und entschlossen zu handeln, sodass es nicht zu einer chaotischen Krise kommt. Niemand kann ausschließen, dass die Preise nochmal steigen, aber sie werden wohl kaum so astronomisch und irrational sein wie im Jahr 2022.
Wie sollen Verbraucher damit umgehen?
Sie sollten ihren Gasverbrauch und den Preis, den sie dafür zahlen, im Blick behalten. Beides können sie in aller Regel beeinflussen. Klar ist, Panikreaktionen sind nie gut. Voriges Jahr haben wir Hamsterkäufe bei elektrischen Heizlüftern gesehen. Das wollen wir nicht wieder erleben. Wie gesagt: Wir sind erheblich besser vorbereitet als im Vorjahr.
Die Bundesregierung hat im Eiltempo LNG-Terminals auf den Weg gebracht. Immer wieder gibt es von Umwelt- und Klimaschützern Kritik, dass hier Überkapazitäten geschaffen werden. Wie stehen Sie dazu?
Mit mehr LNG-Kapazitäten beschaffen sich Deutschland und Europa mehr Möglichkeiten zum Gaseinkauf. Wenn ein Winter einmal nicht so lauwarm sein sollte wie der letzte oder wenn sich Putin entscheidet, die Gaslieferungen über die Ukraine nach Südosteuropa zu drosseln, dann haben wir durch die zusätzlichen LNG-Terminals Reserven, die die Versorgung sicherstellen. Die Terminals sind deshalb wie eine Versicherung, um unsere Gasversorgung zu garantieren und um die Versorgung in Ländern ohne Küste - Österreich, Tschechien, Ungarn, die Slowakei - zu gewährleisten. Ich bin mir sicher: Sollten die Lieferungen nach Südosteuropa unterbrochen werden, dann werden diese Länder nach Deutschland schauen. Die Gaskrise ist nicht vorbei. Ich höre die Kritik von Umweltverbänden, aber ich teile sie nicht. Zumal alle deutschen Terminals für den Import von Wasserstoff geeignet sein müssen, den werden wir in einigen Jahren brauchen.
Sie wollen am Donnerstag mit einer Übung testen, wie in einem richtig kalten Winter mit einer echten Mangellage die Rationierung von Gas umgesetzt wird. Welche Unternehmen werden zuerst abgeschaltet?
Auch das Unwahrscheinliche muss man geübt haben. Die Netzagentur, die Bundesregierung, Länder und Marktakteure werden das Zusammenspiel bei einer Gasmangellage testen. Die entsprechende EU-Verordnung sieht vor, dass zuerst für Industrieunternehmen, die Güter im nicht lebensnotwendigen Bereich erzeugen, der Gasbezug reduziert wird. Das wollen wir durchspielen. Es ist wichtig, dass wir im Falle eines Falles sehr ruhig, aber entschlossen handeln können.
Sind die Preisbremsen bei Gas und auch bei Strom überhaupt noch nötig?
Ich werbe dafür, auch die Preisbremsen als Versicherung zu betrachten. Heute gibt es für jeden Neukunden Strom- und Gastarife, die unterhalb der Preisbremsen liegen. Das ist gut so. Aber die einzige ehrliche Antwort ist: Niemand weiß, wie sich die Preise entwickeln. Wenn wir die Preisbremsen dann doch brauchen, sind wir froh, dass sie da sind.
Trotz des billigeren Stroms fordern viele Industrieunternehmen staatliche Subventionen für die Energie. Was halten Sie davon?
Diese Entscheidung trifft die Bundesregierung und nicht die Bundesnetzagentur. Ich sehe aber mit Begeisterung, dass immer mehr Bundesländer den Ausbau der Erneuerbaren – vor allem von Windenergie – zunehmend als Standortvorteil betrachten, weil dies eine Garantie für günstige Strompreise ist. Entscheidend ist nun, bei der Windenergie genügend Flächen zu Verfügung zu stellen, denn das ist immer noch der Engpassfaktor. Doch nun will auch die EU-Kommission den Ausbau beschleunigen. Wir sehen zudem im Solarbereich eine wirklich bemerkenswerte Dynamik.
Bei der jüngsten Ausschreibung für Windenergie an Land ist der Umfang der Gebote weit unter dem Angebot der Netzagentur geblieben. Was ist da los?
Windkraftanlagen haben längere Planungshorizonte und sie brauchen Flächen. Zum Glück stellen viele Bundesländer diese Flächen nun zur Verfügung. Investoren brauchen zuerst Flächen, dann können sie planen und danach erst bei Ausschreibungen antreten. Die Verzögerungen machen uns nicht glücklich. Aber eine gewisse Dynamik können wir bereits verzeichnen. In der Summe liegt die Zuschlagsmenge nach drei von vier Ausschreibungsrunden in diesem Jahr bereits über dem Gesamtjahr 2022. Für 2024 hoffen wir auf weiter steigende Zahlen.
Der Ausbau der Stromautobahnen muss zudem her?
Das ist richtig. Für ein klimaneutrales Deutschland brauchen wir auch einen Ausbau der sogenannten Stromautobahnen, die künftig im Boden verlegt werden. Entsprechende Konsultationen haben wir vor zwei Wochen eingeleitet. Wir prüfen dann sehr genau, welche neuen Leitungen erforderlich sind. Klar ist aber jetzt schon, dass wir bis 2045 einen erheblichen zusätzlichen Ausbau des Stromnetzes brauchen werden. Wir sprechen über eine Größenordnung von insgesamt 6200 zusätzlichen Trassenkilometern und weitere 6000 Kilometer Verstärkung bereits vorhandener Trassen.
Deutschland muss inzwischen mehr Strom importieren als exportieren. Müssen Sie Ihre Einschätzung, dass die Abschaltung der AKW keinen Einfluss auf den Strommarkt hatte, revidieren?
Wir stehen zu dieser Aussage. Was derzeit passiert: Primär liefert Dänemark Windstrom und Schweden Wasserstrom, und hinzu kommt aus Frankreich der Strom aus Solarenergie und aus den bestehenden Atomkraftwerken, der dort anders als im letzten Jahr reichlich vorhanden ist. Diese Energie ist preiswerter als Strom aus deutschen Gas- und Kohlekraftwerken. Jetzt tritt genau das ein, was der europäische Binnenmarkt erreichen will: Wir produzieren den Strom nicht immer selbst, sondern kaufen ihn dort, wo er am günstigsten ist. Das ist keineswegs ein Zeichen dafür, dass Strom in Deutschland knapp wäre.
Zur Person
Klaus Müller, Jahrgang 1971, ist seit März 2022 Präsident der Bundesnetzagentur. Seit Mai 2014 war er Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands. Von 2006 bis 2014 leitete er die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Zuvor war der Volkswirt für die Grünen in der Politik tätig: von 2000 bis 2005 als Umweltminister in Schleswig-Holstein, bis 2006 als Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Von 1998 bis 2000 war Müller Abgeordneter des Bundestages. Die Netzagentur ist nicht nur die Aufsichtsbehörde für die Sektoren Strom, Post, Telekommunikation und Eisenbahn, sie wacht auch über die Versorgung mit Erdgas.