Sie kennen die Welt nur im Ausnahmezustand und sorgen sich um Klima, Frieden, Zukunft. Nach den Millennials kommt jetzt die Generation Alpha. Noch sind sie Kinder – aber sie stehen vor einer gewaltigen Aufgabe: die reale Welt mit der digitalen zu versöhnen.
„Wir sind die Neuen“Die Krisenkinder: Wer ist die Generation Alpha?
Yannick ist elf, aber sein digitaler Fußabdruck ist bereits gewaltig. Noch vor dem Sprechen lernte er Scrollen und Swipen. Seine Woche ist bündig gefüllt mit Karate, Sprachkurs und Robotik-AG. Aber das Zentrum seines Universums liegt schimmernd in seiner Hand, es ist viereckig und leuchtet von innen. Seine Eltern rufen ständig „Handy weg!“. Aber sie selbst lassen ihr Smartphone kaum aus den Augen.
Eltern als 24-Stunden-Aufräumkommando
Yannick ist ein prototypisches Exemplar der Generation Alpha. Die Alphas sind zwischen 2010 und 2025 geboren. Es sind die Kinder der Generation Y, der Millennials, die heute gut 30 bis 45 Jahre alt sind. Wie Millionen seiner Kindheitsgenossen hat Yannick die alte, anstrengende, analoge Welt vor allem als fragiles Konstrukt im Dauerkrisenmodus erlebt.
Persönlich scheitern aber ist in seiner Welt nicht vorgesehen: Vor lauter Bemühen, bloß nichts verkehrt zu machen, räumen seine massiv verunsicherten Eltern ihm als 24-Stunden-Aufräumkommando sämtliche Hürden aus dem Weg. Die Folgen: Es fällt Yannick schwer, sich zu begeistern, sich zu gedulden oder aus Niederlagen zu lernen. Yannick ist das Kind von „Rasenmähereltern“.
Das ist die eine Seite.
Andererseits gleitet Yannick durch digitale Welten wie ein Fisch durchs Wasser. Blitzschnell erfasst sein Gehirn, was es zu benötigen meint. Geschmeidig fügt er sich in soziale Gruppen ein. Streit und Rebellion interessieren ihn nicht. Sein solides Selbstbewusstsein wird ihm eines Tages genügend Mut liefern, die Grundpfeiler des Weltgefüges infrage zu stellen. Auch wird er nicht 200 Therapiestunden brauchen, um über seine Gefühle sprechen zu können. Gefühle sind der Treibstoff seiner Generation.
Die Alphas. Was soll das denn jetzt schon wieder sein? Nach den Generationen X, Y und Z beginnt das Alphabet der Menschheit schlicht von vorn. Willkommen, Gen Alpha. Es steckt auch ein symbolhafter Neustart in dieser Formel, die der australische Demografieforscher Mark McCrindle prägte. „In den nächsten Jahren wird ihre Zahl die der Babyboomer übersteigen“, schreibt er. „Und viele von ihnen werden das 22. Jahrhundert erleben.“ Für McCrindle wird der Sprung von Generation Z zu Alpha „der bedeutendste in der Geschichte“ sein.
In 15-Jahres-Intervallen rufen Soziologen seit Mitte des 20. Jahrhunderts neue Generationenlabel aus. Warum? Weil Menschen solche Schubladenwörter und das hübsche Spiel mit dem inneren Datenabgleich bei der Selbstverortung helfen. Was ist typisch für „uns“ und was nicht? Playmobil-Piratenschiff, jemand? Kabelsalat, wisst ihr noch? Douglas Coupland? Generation X?
Wir hatten: die arbeitsamen, kriegsgeprägten Babyboomer (geboren bis 1964). Die skeptische, aber konsumbegeisterte Generation X (geboren bis 1979). Die brave, hyperperfektionistische Generation Y (Millennials, geboren bis 1995). Zuletzt die kulanzarme, ernste Generation Z (geboren bis 2010). Das waren die ersten „Digital Natives“, die in einem der größten Sozialexperimente der Geschichte als irrlichternde Pioniere in einer weitgehend unregulierten Netzwelt aufwuchsen.
Das Prinzip ist nicht unumstritten. Denn natürlich ticken Millionen Menschen niemals gleich, sind Altersgrenzen und Kultureinflüsse stets fließend, die Erfahrungen hoch persönlich, die Lebensverhältnisse geografisch massiv unterschiedlich. Schon ein Kind aus einem Berliner Armutskiez spricht nicht dieselbe Sprache wie eine Blankeneser Bürgerstochter. Und doch sind da immer wieder Schnittmengen und überraschend treffende Adjektive.
Viele Alphas dagegen haben schon jetzt bessere Selbstkontrollmechanismen als ihre großen Geschwister. Es hat sich gezeigt: Das Zeug kann giftig werden. Nicht alles, was geht, ist gut. „Die Generation Alpha ist die materiell am besten ausgestattete und technologisch versierteste Generation aller Zeiten“, schreibt McCrindle. „Und sie wird eine längere Lebenserwartung haben als jede andere Generation zuvor.“ 2,8 Millionen Alpha-Babys werden weltweit pro Woche geboren. Jedes dritte von ihnen wird voraussichtlich älter als 100 Jahre werden. Es ist die erste Generation, die vollständig im 21. Jahrhundert heranwächst.
Die größte Generation der Menschheitsgeschichte
Wer sind diese Alphas? Was werden sie wollen? Noch kassieren sie Taschengeld, zupfen am ersten Bartflaum und vergessen ihre Turnbeutel. Aber fest steht: 2025 werden sie mit gut 2,5 Milliarden Mitgliedern die größte Generation der Menschheitsgeschichte sein. Ziemlich schlau. Ziemlich selbstbewusst. Ziemlich überbehütet. Und ausgestattet mit der selbstverständlichen Erwartung, dass sich ihre Umwelt perfekt auf sie einzustellen hat, von den Eltern über den Arbeitgeber bis hin zum LED-Ambient-Licht hinter ihrem Fernsehgerät.
Ihr Medium ist nicht die Schrift, sondern das bewegte Bild. Ihre liebste Suchmaschine ist nicht Google, sondern Youtube. Facebook? Ist längst mausetot bei Elias, Finn, Noah, Emma, Hannah, Theo und Liam. Die Alphas sind – so zeigen es die ersten Studien – sozial, digital, umweltbewusst, technisch versiert, visuell, rastlos und hypervernetzt mit jungen Influencern in aller Welt. Sie zocken, aber sie spielen nicht.
Besorgt über den Zustad der Welt
Und sie sind massiv besorgt, was den Zustand der Welt angeht. „Seit über 20 Jahren befindet sich die Jugend in Deutschland im Krisenmodus“, schreibt der Jugendforscher Klaus Hurrelmann. „Das setzt ihr zu.“ Unter der Oberfläche eines grundsätzlichen „jugendtypischen Optimismus“ zeige sich ein beträchtliches Ausmaß von Verunsicherung: „Viele machen sich große Sorgen um ihre berufliche, finanzielle und wirtschaftliche Zukunft.“
Und wen könnte das wundern? Die Alphas wachsen auf in einer massiv zerstrittenen Welt mit erodierenden Gewissheiten und ständig neu verhandelten Spielregeln. Einer Welt, in der der russische Präsident über Atomkriege raunt. In der Krieg in Europa herrscht. In der eine Pandemie drei Jahre lang das Leben lähmte. In deren unnatürlich heißen Sommern die Folgen des Klimawandels für jeden offensichtlich werden.
In der Rechtsextreme an die Macht streben. In der der globalisierte Turbokapitalismus durchgespielt scheint. In der Cybermobbing Alltag ist. Kindheit im Ausnahmezustand. Die Kernfrage wird sein, wie die Alphas eines Tages auf die lange To-do-Liste für den Planeten reagieren werden: mit Resignation oder Tatendrang.
Die Alphas werden wohl einen Mittelweg finden
Die Vorgängergeneration, die Gen Z, hat mit massiver Skepsis zu kämpfen, seit sie den Arbeitsmarkt erreichte. Vor allem weil sie keck den 24/7-Selbstzerstörungsmodus ihrer Eltern infrage stellt und die Viertagewoche propagiert. Prompt galt sie als faul, verweichlicht und egoistisch.
Die Alphas, so nimmt man an, werden wohl einen Mittelweg suchen zwischen den 60-Stunden-Wochen ihrer Großeltern und den Latte-macchiato-Mittagspausen der urbanen Viertagewöchler in ihren dünn besiedelten Co-Working-Spaces, denen nur wenige Trendforscher die Reparatur der maroden Volkswirtschaft zutrauen.
Die Alphas sind durch und durch digitale Wesen. Sie tippen nicht, sie diktieren. Oder sie sprechen mit Google, Siri und Alexa. Ihre Geburtsstunde 2010 markierte auch den Marktstart von Apples iPad und von Instagram. Künstliche Intelligenz wird ihre Welt dereinst dominieren. Die Datenströme einzuhegen, ohne sie ihrer auch segensreichen Wirkungen zu berauben, wird die Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts sein. Es ist eine Mammutaufgabe.
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