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GrenzkontrollenVergisst Deutschland Europa?

Lesezeit 6 Minuten
16.09.2024, Nordrhein-Westfalen, Aachen: Ein Schild mit der Aufschrift «Bundesrepublik Deutschland» steht in der deutschen Grenzsiedlung Köpfchen an der Grenze zu Belgien. Um Mitternacht startete die Polizei ihre Kontrollen gegen unberechtigte Einreisen nach Deutschland.

Die deutsche Grenzsiedlung Köpfchen an der Grenze zu Belgien. (Archivbild)

Über Zukunftspläne für Europa als Ganzes will in Deutschland kaum noch jemand reden. Große Europäer wie Helmut Schmidt und Helmut Kohl wären entsetzt.

Kleine Quizfrage: Wie viele Grenzen zu anderen Staaten hat Deutschland? Die richtige Antwort lautet: neun. An Deutschland grenzen Dänemark, Polen, Tschechien, Österreich, die Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande.

Zusatzfrage: Gibt es in Europa Staaten mit genauso vielen oder gar mehr unmittelbaren Nachbarn? Richtige Antwort: nein.

Eine Rückbesinnung auf diese Unabänderlichkeiten wäre nützlich. Sie könnte den Deutschen helfen, in diesen aufgeregten Zeiten nicht den Kompass zu verlieren.

Der Draghi-Report ist ein Weckruf für ganz Europa.
Valérie Hayer, aus Frankreich stammende Chefin der Fraktion Renew Europe im Europaparlament

Liegt es an Solingen, an Thüringen, an Sachsen? Mit einem sonderbar verengten Blick jedenfalls haben viele Deutsche in den vergangenen Tagen einer Rückkehr zu Grenzkontrollen Applaus gespendet. Unausgesprochen hält ein rückwärtsgewandter Gedanke Einzug in viele Hinterköpfe: Wenn wir uns als Deutsche nur hinreichend abschotten gegenüber Europa, wird alles gut.

Brandgefährliche Politik der Abschottung

Diese spontane Kettenreaktion ist psychologisch erklärbar. Als strategische Ausrichtung für die Zukunft aber ist eine Politik des deutschen Dichtmachens innerhalb Europas nicht nur untauglich, sondern brandgefährlich.

Berlin muss aufpassen. Denn die Turbulenzen der aktuellen Asyldebatte treffen das einst ruhig und stolz dahinziehende Großraumflugzeug EU in einem prekären Moment. Politische Krisen in Berlin und Paris lassen die beiden Triebwerke qualmen, auf die bislang noch immer Verlass war.

Als mächtige gestaltende Kraft, europaweit gar, fällt der deutsche Kanzler inzwischen ebenso aus wie der französische Präsident. Sollte sich bei der Landtagswahl in Brandenburg die AfD vor die SPD schieben, ist ungewiss, wie lange sich Olaf Scholz in Berlin noch im Sattel hält. Emmanuel Macron darf bei der nächsten Präsidentschaftswahl ohnehin nicht mehr antreten. Zudem hat er keine Mehrheit mehr in der Nationalversammlung.

Wer setzt in Europa jetzt noch Ziele?

Wer setzt in Europa jetzt noch Ziele? Im Juli dieses Jahres wählte das Europäische Parlament Ursula von der Leyen für weitere fünf Jahre zur Kommissionspräsidentin. Doch die Deutsche fühlt sich in ihrem Büro im 13. Stock des Brüsseler Barlaymontgebäudes inzwischen politisch mehr denn je alleingelassen. Wen soll sie anrufen? Wer soll ihr Rat geben? Diverse Zukunftspläne hat von der Leyen zwar durchaus vor sich. Doch wenn die Pilotin hinter sich blickt, stellt sie fest: Die Nationalstaaten liefern keinen Schub.

Besonders apathisch wirkt in diesen Tagen ausgerechnet Europas größte Wirtschaftsmacht, Deutschland. Mit der deutschen Regierung, heißt es in Führungskreisen der EU-Kommission in Brüssel, könne man über Pläne zur Zukunft Europas „derzeit leider gar nicht mehr vernünftig reden“. Wie zuvor schon in anderen Hauptstädten dominiere nun auch in Berlin das Nationale. Von einer europapolitische „Selbstverzwergung“ ist die Rede.

Jüngstes Beispiel: In ganz Europa diskutieren Regierende, Oppositionelle und Medien derzeit über den Draghi-Report. In ganz Europa? Nein. In Deutschland hat kaum jemand mitbekommen, was der Draghi-Report überhaupt ist. Denn im Land der großen Europäer Helmut Schmidt und Helmut Kohl sind, wenn es um Europa geht, neuerdings auch die sogenannten Eliten uninformiert und desinteressiert wie noch nie.

Mario Draghi, 77, war bis zum Jahr 2019 Chef der Europäischen Zentralbank. Der Italiener ist ein weltweit renommierter Ökonom, seinen Doktortitel erwarb er einst am Massachusetts Institute of Technology in den USA. Seit der Euro-Rettung hat Draghi nicht nur in Fachkreisen, sondern auch unter Regierungschefs in aller Welt einen Ruf wie Donnerhall.

Draghi fordert Ruck durch Europa

Draghi hat soeben Antworten gegeben auf eine Frage, die der Alte Kontinent seit Langem vor sich her schiebt: Was genau müsste Europa tun, um nicht schon bald von den USA und von China ein für allemal ökonomisch abgehängt zu werden? Von der Leyen hatte Draghi beauftragt, dazu mit einem Kreis von Experten eine umfassende Analyse zu erarbeiten, kombiniert mit konkreten Vorschlägen zu einem wirtschaftlichen Neustart Europas.

Am 9. September wurde der Draghi-Report in Brüssel vorgestellt. Auf knapp 400 Seiten wird darin so etwas beschrieben wie der nächste große Schritt für Europa. Draghi verlangt, grob gesagt, dass nach Schaffung des Binnenmarkts in den Achtzigern und nach Einführung der gemeinsamen Währung in den Neunzigern abermals ein Ruck durch Europa geht. Die 27 Staaten sollen auf intelligente Art noch enger zusammenrücken, um zukunftstauglich zu werden fürs 21. Jahrhundert.

Draghi sieht in seinen Empfehlungen nicht irgendeinen Tipp, sondern etwas Zwingendes: „Für Europa geht es jetzt um eine Überlebensfrage.“ Draghis Diagnose ist schonungslos, seine Arznei stark.

Mit 880 Milliarden Euro will Draghi die „Innovationslücke gegenüber den USA und China bei Schlüsseltechnologien“ schließen – das wäre eine massivere Förderung als durch den Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg.

Dem früheren EZB-Chef schwebt ein Mix aus öffentlichen und privaten Investitionen vor. Da alles auf mehr Wettbewerbsfähigkeit in der Zukunft ziele, nicht auf mehr Konsum in der Gegenwart, sei dazu die Aufnahme gemeinsamer Schulden in der EU gerechtfertigt.

Fachleute applaudieren dem Draghi-Plan

Start-ups sollen sich endlich nach europaweit einheitlichen Regeln Kapital besorgen können. Die dazu nötige Kapitalmarktunion stockt seit Langem wegen nationalen Eigensinns in vielen Staaten.

Hightech-Firmen sollen durch eine Deregulierungsoffensive neuen Schwung bekommen.

Fachleute innerhalb und außerhalb der EU applaudieren. Draghis Plan sei „erfrischend unverblümt“, urteilt die Londoner Zeitung „Financial Times“. Der Italiener habe „ein Überlebenshandbuch für die EU geschrieben“, lobt „Ekatheremi“ aus Athen. Sander Tordoir, Chefökonom der renommierten Denkfabrik Centre for European Reform, sieht in Draghis Schrift etwas Historisches: Sie verbinde Pläne von Jean Monnet (Verteidigungsintegration) und Jacques Delors (Binnenmarkt) mit Bidenomics (Clean Tech plus Resilienz).

Zu den wenigen Deutschen, die sich auf Draghi einlassen und den Daumen nach oben drehen, gehört Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Fratzscher findet Draghi sogar alternativlos: Eine europäische Politik, die Deindustrialisierung verhindern wolle, müsse endlich ihre nationalen Scheuklappen ablegen. Allzu lange schon hätten deutsche Regierungen „eine systematische Stärkung Europas“ abgelehnt.

„Der Draghi-Report ist ein Weckruf für ganz Europa“, jubelt Valérie Hayer, Chefin der Fraktion Renew Europe im Europaparlament. Die 38 Jahre alte Liberale aus Frankreich würde lieber heute als morgen loslegen mit der Umsetzung: „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Kein Kommentar von der deutschen Bundesregierung

Von der deutschen Bundesregierung dagegen kam ein Kommentar wie ein kurzer heiserer Husten. Finanzminister Christian Lindner (45), ebenfalls ein Liberaler, erklärte: „Mit einer gemeinsamen EU-Schuldenaufnahme lösen wir keine strukturellen Probleme.“

Der Draghi-Report wurde am Tag seiner Vorstellung in Brüssel auch bei der Bundespressekonferenz in Berlin zur Sprache gebracht, aber erst als Thema Nummer 14 – und mit auffallender Einsilbigkeit. Der Bericht werde jetzt „erst einmal gründlich ausgewertet“, verkündete Steffen Hebestreit, der Sprecher von Bundeskanzler Scholz.

Woher kommt so viel Kälte?

Woher kommt so viel Kälte? Liegt es etwa am Druck, den antieuropäische Kräfte mittlerweile in Deutschland entfalten? Steckt den Berlinern noch die Selbsttraumatisierung von 2023 in den Knochen, als ihnen vor dem Bundesverfassungsgericht ein grundgesetzwidrig aufgestellter Haushalt um die Ohren flog?

Deutschlands Regierende jedenfalls machen es derzeit wie die Regierten: Sie konzentrieren sich aufs Nationale. Davon allerdings wird nichts besser, weder in Deutschland noch in Europa.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.