Acht Brücken Festival 2017Die „Einstürzenden Neubauten“ spielen in der Philharmonie
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Greatest Hits? Doch, „Greatest Hits“. Den Titel hat Blixa Bargeld sich für die jüngste Albumveröffentlichung und die aktuelle Tournee der Einstürzenden Neubauten ausgedacht.
So geht Humor bei einer Band, die traditionell nicht eben mit Amüsement verbunden wird. Bargeld hat das solidarische Grinsen des Publikums aber auf seiner Seite, wenn er auf eine Karriere anspielt, die sich nicht über Chartspositionen und starke Verkaufszahlen definiert. Eher über die Strahlkraft der Dissonanzen, die das in Metall geborene Band-Projekt zu einem langjährigen deutschen Kulturexportschlager gemacht hat.
„Anti–Musik“
Berlin 1980, Geburtsjahr der Neubauten. Geburtsort: der stählerne Innenraum einer Autobahnbrücke, die Akteure bedienen Presslufthämmer, Flexmaschinen und Motorsägen, sie operieren mit Glas, Ketten und Ölfässern.
Klangforschung unter besonderer Berücksichtigung von Altmetall – Gitarre, Bass, erst einmal Fehlanzeige. Die Musik verwies auf den Schrott der Wohlstandsgesellschaft, Anti-Musik, sagte man damals stolz. Und las zur vertiefenden Lektüre Diedrich Diederichsen in „Sounds“ und „Spex“.
Der Beginn der Neubauten fällt auch in die Zeit der neuen Erzählungen und Ausdrucksformen. In der geteilten Stadt sägen junge Punk-Kinder an allen kulturellen Selbstverständlichkeiten. Es geht nicht weniger als um das Leben, um die Verletzungen, die Verwirrungen, die dieses Leben gebiert.
Frühere Alben stehen für hysterisches Statement
Die Band von Blixa Bargeld jagt ihre Lebensgeräusche über den kanonischen Rock'n'Roll hinweg, bis zu einem hysterischen Statement: Apokalypse now! Dafür stehen die frühen Alben, von „Kollaps“ (1981) bis zu „Zeichnungen des Patienten O.T“ (1983).
Das aufregendste brutale Stück berichtet vom „Krieg in den Städten“, den Metallterror durchbrechen nur die theatralischen Rufe des dünnen Jünglings Bargeld: „Aufstehn/Hinlegen/Verbrannte Erde/Ich steh auf Viren/Ich steh auf Chemie/Aufstehn/Abstürzen/Einstürzen“. Neubauten auf einem Bierdeckel, in diesen knapp vier Minuten Frontberichterstattung schrumpft der Krieg auf ein paar zerstörerische Bilder und Worte zusammen.
Kontrolliertes Bürsten gegen den Strich
Mit „½ Mensch “ (1985) fährt Ordnung und rhythmische Struktur in den Sound, auf dem „Haus der Lüge“ (1989) spielen die Neubauten einen mephistophelischen Folk und Blues, der aus dem Handgemachten schöpft. Aus dem Krach wächst später das Spiel mit der Stille („Silence Is Sexy“, 2000).
Im Spannungsfeld von Avantgarde, Melancholie und doppelbödigen Reflexionen findet die Band jene Haltung, für die sie bis heute steht: ein kontrolliertes Bürsten gegen den Strich. Längst ist Bargeld, Jahrgang 59 und zwischenzeitlich bei Nick Caves Bad Seeds engagiert, zum Liebling des Feuilletons geworden – als munter im Bürgerlichen wildernder Bohemien.
Zum Kulturgut avanciert
Er hat bei Bio im Fernsehen gekocht und plauderte in Interviews über Literatur, Loops und Gourmet-Restaurants. Die Neubauten sind zum Kulturgut avanciert. Sie spielen der Enkelgeneration vor, wie das mit dem Überleben in Würde geht und was der Rock in den Klassiktempeln zu suchen hat.
Einsturzgefahr ist bei den Neubauten schon seit geraumer Zeit nicht mehr auszumachen, sie sind souveräner und beherrschter geworden, aber herrschende Schieflagen sind immer noch ihr Thema.
Sie gingen auch mit der Zeit, wo die Zeit ihnen passende Strategien anbot. Als 2002 ihr alter Plattenvertrag auslief, entwickelten sie ein Geschäftsmodell über ihre Internetseite neubauten.org. Albumproduktionen wurden von Fans per Subskription finanziert. Sie erhielten mit der Entrichtung eines Obolus virtuelle Intimität in vielen bunten Facetten, von exklusiven Stücken über Konzertaufnahmen und Chats bis zu Webcam-Übertragungen aus dem Studio. Wer keine „Greatest Hits“ produziert, das wusste Blixa Bargeld schon damals, muss sich etwas einfallen lassen – oder die Live-Ochsentour hinlegen.
Lebensgeräusche zu urbanen Auseinandersetzungen
Heute stehen mit dem Wortakrobaten Bargeld, dem erklärten Metallisten N.U. Unruh und dem urgewaltigen Bassisten Alexander Hacke drei Original-Recken aus der Anfangsphase auf der Bühne, dazu kommen Schlagzeuger Rudi Moser, Gitarrist Jochen Arbeit und Keyboarder Felix Gebhard. Ein Verein aus Würdeträgern in dunklen Anzügen, die Rebellion müssen sie sich nicht mehr ins Programm schreiben.
Wenn die Musiker jetzt nach ihren beiden Elbphilharmonie-Auftritten in Hamburg die Kölner Philharmonie bespielen werden, vor einem wohl gesetzten und bestimmt gut sitzenden Publikum, wird sich auch niemand über eine domestizierte Performance beklagen.
Die Neubauten dürfen aber weiterhin hohe Aktualität für sich reklamieren. Der Soundtrack der frühen Jahre, der Tonarten für Angst und Zerstörung definierte, klingt heute vielleicht noch dringlicher als im Moment seiner Entstehung. Er liefert Lebensgeräusche zu den Auseinandersetzungen, die wir gerade in den Städten führen. Anti-Musik möchte man das gar nicht mehr nennen.
Porträt der Einstürzenden Neubauten
Als beständigsten Aprilscherz der Musikgeschichte bezeichnen Kritiker die Einstürzenden Neubauten. Eben die Berliner Band, die die sich quasi als Zufallsprodukt am 1. April 1980 zusammenfand, als Blixa Bargeld für ein Konzert im Berliner Moon-Club angefragt wurde, „und einfach ein paar Freunde anrief“ (die da waren: N.U. Unruh alias Andrew Chudy, Gudrun Gut und Beate Bartel).
Danach verschwanden die Vier für eine Weile im Berliner Untergrund – bis Bargeld und Unruh sich in einem Proberaum unter einer Autobahnbrücke wiedertreffen, um auf einer alten Waschmaschine, einem Stahlschlagzeug und sonstigen Alltagsgegenständen ihre erste Single „Für den Untergang“ einzuspielen.
Bandname entstand bevor Dach der Berliner Kongresshalle einstürzte
1983 komplettieren Gitarrist Alexander Hacke (von Borsig) und Bassist Mark Chung die Band. 1996 verlassen Chung und FM Einheit die Band, ihnen folgen Jochen Arbeit (Gitarre), Rudi Moser (Schlagzeug), und später Felix Gebhard (Keyboard).
Die Neubauten, deren Name übrigens laut Bandangaben entstand, bevor das Dach der Berliner Kongresshalle im Jahr 1980 einstürzte, traten auf einigen Theaterbühnen auf – unter anderem für Peter Zadeks „Andi“ (1987) im Schauspielhaus Hamburg. Daneben hatten sie Auftritte bei der Biennale in Paris und auf der Documenta in Kassel.
Highlights des Acht Brücken-Festival in Köln
Das Festival „Acht Brücken/Musik für Köln“ findet in diesem Jahr zum siebten Mal statt, und zwar zwischen dem 28. April und dem 7.Mai.
In rund 50 Veranstaltungen aus den Bereichen neue Musik, Jazz, Weltmusik und Pop wird an unterschiedlichen Spielorten das Verhältnis von Musik und Sprache erkundet. Zentrale Gestalt ist 2017 die südkoreanische Komponistin Unsuk Chin, 13 ihrer Werke werden aufgeführt.
Feierliche Eröffnung in der Kölner Philharmonie
Den Auftakt gibt „Lift!“ (28. April): In über vier Stunden bespielen Studierende der Kölner Musikhochschule und das Studio Musikfabrik – Jugendensemble des Landesmusikrats NRW den Lanxess Tower. Es folgt die feierliche Eröffnung in der Kölner Philharmonie mit der (von Berios „Chemins I“ und Ives’ vierter Sinfonie gerahmten) deutschen Erstaufführung von Peter Eötvös’ „Halleluja – Oratorium balbulum“. Der Komponist dirigiert selbst das WDR-Sinfonieorchester, Erzähler ist der Schauspieler Matthias Brandt (29. April).
Das Gürzenich-Orchester leistet zwei Beiträge zum Festival: Im Rahmen von „Acht Brücken“ ist – am 7. Mai – das neunte Abokonzert unter François-Xavier Roth mit Werken von Britten, Chin, Ravel und Debussy platziert. Und für die Interpretation von Philippe Manourys Raumkomposition „In situ“ begibt es sich am 30. April in die Sartory-Säle. Auf das Publikum wartet ein Hörabenteuer, es befindet sich mitten im Klangkosmos.
„Puzzles and games from Alice in Wonderland“
Am selben Tag präsentieren die Bamberger Symphoniker unter ihrem neuen Chefdirigenten Jakub Hrusa in der Philharmonie ein herausragendes Orchesterwerk der Porträtkomponistin: das Konzert „Šu“ für die chinesische Mundorgel Sheng. Als Solist ist der Virtuose Wu Wei geladen. Es folgt – vor Brahms’ vierter Sinfonie – als Uraufführung Toshio Hosokawas „Umarmung – Licht und Schatten“.
Einblicke in Chins schillernde Klangwelten verschaffen weiterhin zwei Porträtkonzerte mit dem Pariser Ensemble intercontemporain unter Bruno Mantovani (4. Mai) und dem SWR-Symphonieorchester unter Tito Ceccherini (7. Mai), jeweils in der Kölner Philharmonie. Beim zweiten Porträt wird Chins Oper „Alice in Wonderland“, basierend auf den Texten von Lewis Caroll, in einer speziell für das Festival erstellten, konzertanten Fassung unter dem Titel „Puzzles and games from Alice in Wonderland“ zu hören sein.
Sieben Konzerte unter dem Titel „Freihafen“
Das Kölner Ensemble Musikfabrik führt Chins „Cantatrix Sopranica“ auf – thematisiert wird der Akt des Singens und sängerische Befindlichkeiten (2. Mai).
Der 1. Mai bietet unter dem Titel „Freihafen“ sieben Konzerte zu freiem Eintritt in Philharmonie, WDR und Filmforum. Aufgeführt werden unter anderem Klassiker der neuen Vokal- und Sprachkomposition nach 1950, von Berio, Nono, Ligeti, Kagel und Lachenmann.
Stadt Köln finanziert Festival in kommenden fünf Jahren mit jeweils 450 000 Euro
Statt wie bisher eine eigene „ON-Nacht“ trägt das Netzwerk ON – Neue Musik Köln diesmal drei über das Festival verteilte Konzerte bei, darunter ein Programm des weithin einzigartigen Kölner Sprachkunsttrios Sprechbohrer (5. Mai im Kölnischen Kunstverein).
Besondere Aspekte des Themas Musik und Sprache beleuchten auch der Rap-Poet Saul Williams, das Hip-Hop-Kollektiv Stargaze, die „Sound Poetry“ der Vokalakrobatin und Schauspielerin Hannah Silva sowie, am 3. Mai in der Kölner Philharmonie, die Berliner Lärmkunst-Heroen Einstürzende Neubauten.
Die Stadt Köln finanziert das Festival in den kommenden fünf Jahren mit jeweils 450 000 Euro. Zusätzliche Mittel stammen von Bund, Land, Stiftungen, Unternehmen und dem Kuratorium Kölnmusik. Die Kunststiftung NRW fördert allein den Chin-Schwerpunkt mit 130 000 Euro. Insgesamt verfügt die Veranstaltung über ein Budget von 1,5 Millionen Euro. (MaS)