Die Fahrradbranche ist hochgradig abhängig von Fernost, kein Modell wird mehr vollständig in Deutschland produziert. Ein Kölner Trio versucht, das zu ändern.
Kein Teil aus ChinaWie Kölner Profis es geschafft haben, ein europäisches Rennrad zu bauen
Wer Radsport betreibt, kommt bei Kettenproblemen nicht ins Schwitzen. Es sei denn, es handelt sich um versagende Lieferketten. Ein ganz neues Phänomen seit der Corona-Pandemie: explodierender Freizeitkonsum trifft auf Produzenten, die wegen Lockdowns und Hafensperren ihre Leistung drosseln mussten. Gut zwei Jahre lang erlebten Hobbyradsportler eine Marktlage außer Kontrolle: Preise stiegen, die Lager leerten sich, die Fabriken kamen nicht hinterher. Bei sehr beliebten Herstellern ziehen sich die Auswirkungen bis heute hin: Wer Gravel-Bikes oder Renner bei Marken wie Canyon oder Rose bestellt, kann jedenfalls nicht mit einem baldigen Liefertermin rechnen – oft ist völlig unklar, wann die Räder eintreffen.
70 Prozent der Fahrradrahmen kommen aus China
Was Hobbyradler im Laden oder online als manchmal nervigen, oft teuren Engpass erleben, ist mit deutlich größeren Zusammenhängen verkettet. Die Beschäftigung damit kann so etwas sein wie ein Crashkurs in Wirtschaftspolitik, VWL und BWL. Während in der Politik intensiv über Abhängigkeiten von Russland und China diskutiert wird, haben viele Radfahrer längst verstanden: globale Lieferketten können kollabieren, wichtige Verschleißteile ungewohnt teuer werden. Zwar stehen jetzt wieder Räder in den Läden, doch die Lage bleibt empfindlich.
Michael Böhmer ist nicht nur begeisterter Rennradfahrer, sondern vor allem Chefvolkswirt und Partner beim Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos. „Die Radbranche hat eine spezielle Konzentration, was die Handelspartner anbelangt“, sagt Böhmer. Besonders zeigt sich das beim Kern jedes Fahrrads: dem Rahmen. Selbst Marken, die vermeintlich deutsche Produkte verkaufen, beziehen ihre Rahmen fast immer aus Fernost. 70 Prozent der Fahrradrahmen kommen aus der Volksrepublik China, noch einmal 16 Prozent aus Taiwan. Bei den Schaltgruppen kommen zusammen etwa 90 Prozent aus China und Japan. „Wenn irgendwo etwas ausfällt, macht sich das extrem bemerkbar“, sagt Michael Böhmer, „und dauerhaft sind weltpolitisch neue Risiken dazugekommen. Es wäre gut, wenn die Radbranche ihre Resilienz erhöhen könnte.“
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Wir wollen ein Fahrrad „made in Cologne“ bauen, das nachhaltig ist
James Buckley, gebürtige Nordengländer, begeisterter Radsportler und ehemals Manager in der Textilindustrie, setzt in Köln mit seiner Marke Finnbar Trout einen Kontrapunkt zur Großmarktlage. Ich treffe ihn im Oktober 2022 erstmals, weil uns ein gemeinsamer Bekannter zusammengebracht hat. Wir stehen in einer Bayenthaler Garage, wo Buckley seine Werkstatt improvisiert hat, vor mir ein glänzend rotes Rennrad, dahinter viel Werkzeug, Kartons, Schmiermittel.
Zusammengebracht hat uns Sebastian Klaus, Experte für Fahrrad-Biomechanik, Absolvent der Deutschen Sporthochschule in Köln und Inhaber des Unternehmens Komsport, wo sich nicht nur Radsportler in die richtige Sitzposition auf dem Fahrrad bringen lassen. Wir drei diskutieren an diesem Oktobermorgen eine Alternative zu den schicken Rädern, die in Fachmagazinen und auf Instagram beworben werden. Wir wollen ein Fahrrad „made in Cologne“ bauen, das auf verschiedene Weisen nachhaltig sein wird.
„Wie wäre es, ein Rennrad zu bauen, mit dem du alle möglichen Arten von Rennen und Touren fahren könntest?“, fragt mich James. Ich habe bereits einen Startplatz für 2023, die Strade Bianche in Italien stehen an, eine Mischung aus klassischem Straßenrennen und holprigen, weißen Schotterpisten. „Schaffen wir es bis März?“, frage ich James – und er lässt keinen Zweifel. Wir bauen ein Rad, das dort das erste Mal fährt – und mich danach durch mehrere Rennen tragen soll. „Es geht darum, mit dem Mainstream zu brechen und Teile auszuwählen, die erstmal überraschen“, sagt Buckley.
Das Ziel ist ein Fahrrad, das wirklich zum Kunden passt
„Nachhaltig“, dieses Wort sagt er gern, auch wenn er als Berater in diesem Themenfeld weiß, dass es oft eine Floskel ist. James Buckley aber hat sich mit Sebastian Klaus zusammengetan, um ein nachhaltiges Fahrrad zu ermöglichen: eines, das wirklich zum Kunden passt, zu dem man nicht noch zwei Alternativen in der Garage haben muss, und das viel länger seinen Zweck erfüllt als die meisten Räder aus dem Massenmarkt.
Zwischen Oktober und Anfang Dezember diskutieren wir online. „Können wir auch bei den Zulieferern das Problem mit der Lieferkette lösen?“, frage ich, und dann nehmen wir uns ein Fahrrad vor, bei dem möglichst kein Bestandteil aus Fernost kommt. Nicht, weil wir etwas gegen chinesische Produzenten hätten. Nein, wir wollen schauen, wie weit wir mit einem wirklich europäischen Produkt kommen. James recherchiert, kontaktiert die Hersteller, denkt über das Konzept dieses Fahrrads nach. Nach einer gemeinsamen Runde durch den Erftkreis und mit den exakten Maßen von Sebastian Klaus ausgestattet, macht er sich an das Design und die Zusammenstellung der Komponenten.
Anfang Februar hat James Buckley eine neue Werkstatt bezogen, wir treffen uns in Bayenthal und ich halte zum ersten Mal das Zentrum des künftigen Rads in der Hand. Nachhaltig und komfortabel soll es sein, weshalb James Stahlrohre aus Italien und Großbritannien zusammenschweißt, lötet und feilt. Das wirkt unmodern, aber die These ist: „Wenn wir die richtige Geometrie wählen und die richtigen Teile anbauen, wird es gerade auf lange Strecken deutlich komfortabler und damit auch schneller sein“, erklärt Sebastian Klaus.
Die Konstruktion ist ungewöhnlich, soll aber ergonomisch und biomechanisch überzeugen
Klaus und Buckley haben ein untypisches Rad konstruiert: Das Tretlager liegt tiefer als bei den meisten Rädern, der Sitzwinkel ist 75 Grad steil, die Sattelstütze gerade – das ist ungewöhnlich, soll aber ergonomisch und biomechanisch überzeugen. Die Auswahl fußt auf Daten aus der Forschungslage zu Radkomfort und Effizienz. Noch kann ich mir aber nicht vorstellen, wie diese Idee sich in der Praxis anfühlt. Am Donnerstag, 2. März, sehe ich das fertige Fahrrad zum ersten Mal. Es schimmert in Chromblau, in schnörkeliger Schrift hat der Berliner Lackierer „MAD in Cologne“ draufgeschrieben. „Verrückt in Köln“? Ein bisschen vielleicht. Aber vor allem: „Made And Designed in Köln“!
Am selben Abend werde ich nach Italien aufbrechen, jetzt justieren wir das Fahrgerät, das es vor ein paar Tagen noch gar nicht gab. Der Sattel ebenso wie der Lenker und Felgen kommen aus deutschen Nischenunternehmen, die hierzulande Carbon-Produkte fertigen. Die Kurbeln hat ein britischer Spezialist geschickt, ebenso Lager, die Schaltgruppe der italienischen Marke Campagnolo ist in Rumänien gefertigt. Und die federnde Gabel kommt aus Island. „Wobei wir nicht final validieren konnten, ob sie auch wirklich in Island produziert wurde“, sagt James Buckley. Handgefertigte Laufräder – ebenfalls in Köln von Zarko Ivanjac von Laufradtuning aufgebaut, komplettieren das Werk.
Das Fahrrad ist ein Geschöpf aus Köln, eine optische Wucht und ein Experiment mit unklarem Ausgang. Hätte es ein Kunde bei Finnbar Trout gekauft, wären dafür ca. 9900 Euro fällig. Ein teurer Spaß – allerdings in der Rennradwelt nicht ungewöhnlich. Topmodelle von Canyon, Specialized und anderen kosten oft mehr als 10.000 Euro, ohne auf Maß gefertigt und für viele verschiedene Rennarten geeignet zu sein.
Es ist Sonntag, der 5. März, früher Nachmittag. Knapp 100 Kilometer habe ich über teils steile Anstiege in der Toskana hinter mich gebracht. „Das Rad wird sich bergab fahren wie der Devil“, hat James Buckley angekündigt. Es stimmt. Der Stahl gibt mehr Komfort als mein Carbon-Rennrad, die 32 Millimeter breiten Reifen federn, die Gabel entlastet meinen Oberkörper. Ich erreiche das Ziel nach 138 Kilometern auf der historischen Piazza al Campo in Siena erstaunlich fit – und muss danach zahlreichen Radsportlern erklären, was das für ein Rad ist. Das erste Rennen mit diesem Unikat hat mich begeistert.