Mojib Latif ist Deutschlands Klimaerklärer Nummer eins, jetzt wird er mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Was treibt ihn an? Ein Besuch.
Klimaforscher Mojib Latif„Ich habe Angst, dass die Welt in die Hände von Rattenfängern gerät“
Manchmal liegt das ganze Glück der Welt in einer Blume. Im Hasen auf dem Feld, im Reh, das auf der Wiese äst. Und wenn der Wind die Wellen formt in Tausenden Gestalten. „Einfach wunderbar“ sei das, sagt Mojib Latif. „Diese Faszination der Natur bewegt mich immer noch.“ Seine Augen leuchten auf, und in ihnen meint man den kleinen Jungen zu erkennen, der er einmal war.
Am Montag bekommt dieser naturbegeisterte Mann aus dem Hamburger Stadtteil Stellingen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz verliehen. Mojib Latif ist Deutschlands wohl bekanntester Klimaforscher, weltweit geachtet, kraft seines Ansehens und, ja, auch seines Alters längst so etwas wie ein Elder Statesman der Wissenschaft. Ist das nun also die Krönung einer Lebensleistung? Latif, 69, sitzt in seinem Büro und winkt freundlich ab: „Es ist eine Ermutigung, weiterzumachen.“
Mojib Latif ist auf einer Mission, die nie endet, nie enden will, gerade erst hat er beim Festgottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit im Hamburger Michel wieder die politische Elite des Landes adressiert und mit ihr die gesamte Öffentlichkeit. Die Botschaft: Die Zeit drängt, wenn wir die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten erhalten wollen. Aber sie ist eben auch noch nicht abgelaufen. „Es ist“, sagte Latif im Tonfall des Aufbruchs, „noch nicht zu spät.“
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Mittwoch, der Tag nach dem Auftritt im Michel, Latif sitzt in seinem Hamburger Büro, Ostflügel des Uni-Hauptgebäudes, und erklärt noch einmal seinen zentralen Satz vom Vortag. „Ich möchte vermeiden, dass die Leute sich abwenden und sagen: Es ist sowieso alles zu spät“, sagt er. „Fatalismus ist, glaube ich, das Schlimmste, was es in dieser Situation geben kann. Deswegen: Es ist noch nicht zu spät.“
Zum Fenster weht gelegentlich Sirenengeheul herein, das Quietschen der Zugbremsen vom nahen Bahnhof Dammtor. Hamburg ist laut, anders als das etwas beschaulichere Kiel, die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt war für viele Jahre seine berufliche Heimat. Zwei Jahrzehnte lang prägte Latif als Professor das heutige Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, stieg zu Deutschlands Klimaerklärer Nummer eins auf. Seit 2020 hat Latif, der seine Laufbahn in den frühen Achtzigerjahren nach abgeschlossenem Meteorologiestudium am Hamburger Max-Planck-Institut begonnen hatte und sich später in Ozeanografie habilitierte, eine Seniorprofessur an der Kieler Universität inne, im Sommersemester hat er seine letzte reguläre Vorlesung gehalten.
Die Wohnung in Schönberg, ganz nah an der Ostsee, halten seine Frau und er nach wie vor. Wenn Latif hochfährt, dann mit dem Auto, da ist er offen. „Ich kann Pendler gut verstehen, wenn sie nicht auf die Bahn umsteigen“, sagt er. „Entweder gibt es gar keine Bahn oder keinen Bus, oder die Bahn ist so schlecht, so unpünktlich, überfüllt, schmutzig, dass man den Menschen das Bahnfahren verleidet.“ Es sei doch auch in anderen Ländern möglich, eine vernünftige Bahnverbindung hinzubekommen, schimpft er, „das ist also offensichtlich keine Raketentechnik“. Das ist der Mojib-Latif-Sound, der über die Jahre zu seiner Marke geworden ist. Und der jetzt, in seiner neuen Rolle, vielleicht mehr denn je gefragt ist.
Gibt es ein richtiges Leben im falschen, wenn es ums Klima geht?
Seit Anfang 2022 ist Mojib Latif Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Als einen seiner Schwerpunkte hat er die Förderung der Wissenschaftskommunikation gewählt, ein Lebensthema für ihn. „Die Wissenschaft gerät heute immer mehr unter Druck. Fake News machen die Runde, die AfD stellt vieles infrage. Deswegen, glaube ich, ist Wissenschaftskommunikation so wichtig“, sagt er. „Die Aufgabe von Wissenschaft muss es auch sein, der Gesellschaft zu erzählen, was sie macht, wie sie funktioniert. Wenn sie das nicht tut, können wir auch keine Glaubwürdigkeit gegenüber der Wissenschaft erwarten. Und wir haben nichts anderes als unsere Glaubwürdigkeit.“ In seinem Rücken wacht Adorno, ein großformatiges Gemälde, sein Vorgänger hat es angebracht. Latif hat es hängen lassen.
Gibt es ein richtiges Leben im falschen, wenn es um den Klimawandel geht? Umweltschutz, sagt Latif, kann ohne Demokratie nicht funktionieren. Und genau deshalb sorgt er sich. „Das ist die große Angst, die ich habe, dass unsere Welt zersplittert, in die Hände von Rattenfängern gerät, die alles versprechen, aber nichts halten können. Die Fakten umdrehen oder nicht akzeptieren. Die ihre eigene Realität erschaffen. Das ist ein Riesenproblem“, sagt Latif. „Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, werden wir auch die großen globalen Umweltprobleme nicht in den Griff bekommen. Diese Leute interessieren sich dafür nicht.“
Diese Leute, das sind die Demagogen, Populisten, Opportunisten. Die Zerstörer. „Ich blicke mit Erschrecken in die USA“, sagt Latif, „weil meine Erfahrung ist: Alles, was da passiert, kommt mit Zeitverzögerung auch zu uns.“ An diesem Vormittag ist die Eilmeldung vom Sturz des Speakers des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, der das System lahmgelegt hat, gerade wenige Stunden alt. „Wo soll das enden?“, fragt Latif – und macht den Schwenk nach Deutschland. „Wenn ich jetzt bei uns sehe, dass die AfD im Osten in Umfragen auf über 30 Prozent kommt, ist das natürlich schon ein Alarmsignal. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie in allen ostdeutschen Bundesländern stärkste Partei wird. Und das sind die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für Umweltschutz.“
Dass der geboten ist, zeigt der Blick nach draußen. An diesem milden Tag an der Elbe sind es 18 Grad, kühler als zuletzt, nur immer noch viel zu warm. Das Ungewöhnliche ist längst Gewohnheit geworden, in Hamburg, in Deutschland und der Welt. Der Sommer war der global heißeste seit Aufzeichnungsbeginn, nie war ein September so warm, das Gesamtjahr 2023 ist klar auf Rekordkurs. Die Meere kochen, schicken Starkregen und Überflutungen ins Land, andernorts herrschen verheerende Dürren. Das Erdklima rast auf den Kipppunkt zu, wo auch immer der sich befinden mag, das 1,5-Grad-Ziel jedenfalls droht die Welt zu verfehlen.
„Ich habe schon damit gerechnet, dass sich die globale Erwärmung irgendwann beschleunigen wird“, sagt Latif in seiner nüchternen Hamburger Art, die für ihn ein großes Glück ist, denn das Verzweiflungspotenzial ist riesig im zähen Ringen um die Rettung der Welt. Eigentlich hätte man doch schon vor 50 Jahren sehen müssen, in der ersten Ölkrise 1973, dass Alternativen zu den fossilen Energieträgern gesucht werden müssen. Dass man nun, 2023, über CO₂-Verpressung in der Nordsee spreche, über gezielte Eingriffe ins Ökosystem durch Geoengineering, hält Latif „für ein Kapitulieren vor den Herausforderungen des Klimawandels. Man muss sich einfach mal vorstellen, was man da tut. Die einfachste Möglichkeit, ein Problem zu lösen, ist doch, das Problem an der Wurzel zu packen.“
Die Wurzel allen Übels, sagt Latif, ist der CO₂-Ausstoß
Und die Wurzel allen Übels, das sei der CO₂-Ausstoß. Also Schluss damit. Nur will die Welt nicht recht hören – oder eben diese Einsicht nur zögerlich zur Kenntnis nehmen. Für den Forscher sind das altbekannte Leiden. „Natürlich frustriert es mich“, sagt Latif, „aber ich lasse es auch nicht zu sehr an mich rankommen.“ Für ihn sei das vergleichbar mit einem „Arzt-Patient-Verhältnis. Ich meine, jeder Arzt müsste ja verrückt werden bei all den Krankheiten, all den Patienten, die ihre Medikamente nicht nehmen. Insofern habe ich da schon eine gewisse Distanz.“
Und wenn die Praxis dann gewissermaßen zu ist, wenn Latif sein Büro abschließt, dann fährt er gern raus in die Natur, mit dem Fahrrad. Dann lässt er die Forschung, die er noch immer betreibt, hinter sich, und – auch das gehört leider dazu – all den Hass, der im Internet wütet, den die Leugner über ihn und seinesgleichen hereinbrechen lassen. Latif löscht die E-Mails, auch die mit strafrechtlich relevanten Beleidigungen und Drohungen.
In der Natur ist das weit weg. Der Kopf ist frei, und nicht mal sein geliebter Hamburger SV bringt diesen mehr zum Schmerzen: „Der HSV ist doch gut dort aufgehoben, wo er ist. Lieber oben mitspielen als unten rumkrebsen in der 1. Bundesliga.“ Latif, Sohn pakistanischer Eltern, hat selbst einst gekickt, erst mit den Freunden auf den Straßen Stellingens, später dann auch im Fußballverein. Die HSV-Leidenschaft bekam er von seinem Vater vermittelt, der ihn mit ins Stadion nahm, auch wenn der kleine Mojib in der Stehkurve kaum etwas sehen konnte.
„Natürlich habe ich eine Mission“
Überhaupt, sein Vater, eine interessante Figur: Er war Imam an der Fazle-Omar-Moschee in Stellingen, dem ersten Moscheeneubau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Pionier, ein Prediger, und ganz so weit hat sich Mojib Latif davon beruflich dann auch gar nicht entfernt. Und damit zurück zu der Sache mit der Mission. „Natürlich habe ich eine Mission. Ich möchte gerne, dass wir die Umwelt schützen“, sagt Latif. „Aber es gibt einen großen Unterschied: In der Religion geht es um Glauben, in der Wissenschaft geht es um Fakten. Und ich finde, das muss man auseinanderhalten, denn viele Skeptiker wollen die Forschung ja genau in diese Ecke rücken, dass sie eine Art Religion sei. Dass sie ein Glaube sei und nicht faktenbasiert.“
Dagegen, sagt er, müsse man angehen. Das meint er, wenn er von der Bedeutung der Wissenschaftskommunikation spricht. Die Forschung muss sich erklären. Und: Sie muss, findet Latif, auch offen sagen, wenn sie sich unsicher ist. „Wenn ich gefragt werde, wie unsere Welt 2050 oder 2100 aussieht, sage ich immer: Ich weiß es nicht genau. Das System ist so komplex, ich kann es nicht in allen Details vorhersagen“, sagt Latif. Und trotzdem, findet er, sei doch genau das der beste Grund für Klimaschutz. „Ich benutze dann gerne das Bild eines Autofahrers, der mit Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn fährt, im dichten Nebel und nicht weiß, ob da ein Stauende kommt.“ Was man stattdessen machen sollte, gelte eben auch fürs Klima: „Fuß runter vom Gas“. Auf den Klimaschutz übertragen heißt das: „Weniger Treibhausgase ausstoßen.“
Nur: Erzwingen lässt sich nichts. Weshalb er die Aktionen der Letzten Generation auch als „kontraproduktiv“ empfindet. „Erstens steht niemand über dem Gesetz, zweitens bringt man die Menschen gegen sich auf und drittens wird eigentlich nur noch über die Form des Protestes diskutiert“, sagt Latif. Er hält es da eher mit inhaltlicher Kritik am politischen Vorgehen, sagt: „Es fehlt an Anreizen. Die Menschen haben das Gefühl, sie werden nur belastet, aber sie haben irgendwie nichts davon. Und deshalb besteht meiner Meinung nach die Gefahr, dass Klimaschutz zum Reizwort wird. Ich halte Zukunftsfähigkeit ohnehin für den besseren Begriff.“
Zukunftsfähigkeit ist für Latif nationales Interesse
Zukunftsfähigkeit, weil die Sache doch im nationalen Interesse sein sollte, allein schon aus wirtschaftlichen Gründen. Wer bei Förderung und Ausbau erneuerbarer Energien „nicht vorne auf der Lokomotive sitzt“, sagt Latif, „der wird dann auch ökonomisch das Nachsehen haben.“ Hoffnung macht ihm dabei, tatsächlich: der Kapitalismus. Über den könne man „sagen, was man will. Aber eins kann er: Dynamik entfachen.“ Technologiewandel sei innerhalb von zehn, zwanzig Jahren möglich, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Also: Wenn es Anreize gibt. „Sobald Gewinne locken“, sagt Latif, „gibt es keinen Halten mehr.“
Der Mann ist Optimist. Schlicht, weil er dazu keine Alternative sieht, vom Pessimismus wird‘s halt auch nicht besser mit dem Klima. Wenig kann Latif wirklich aus der Fassung bringen. Aber gibt es da etwas? Ungerechtigkeit zum Beispiel. Vor allem aber: Dummheit. „Dummheit macht mich wirklich verrückt. Gerade beim Klima, wenn dann so komische Argumente kommen wie: CO₂ hat ja nur einen Anteil von 0,04 Prozent an der Atmosphäre, das kann ja keinen Einfluss haben. Dann sage ich den Leuten immer: Ich kann euch auch mit einer kleinen Prise Arsen umbringen. Diese Scheinargumente, die machen mich verrückt.“
Mojib Latif bleibt ein leidenschaftlicher Streiter für die Sache, der seine Sicht auch in etlichen Buchveröffentlichungen dargelegt hat, das letzte ist von 2022 und heißt „Countdown: Unsere Zeit läuft ab“. „Ich hatte schon früh den Hang, Dinge zu erforschen, Theorien zu entwickeln. Das war irgendwie schon immer ein Teil von mir“, sagt der ältere Mojib Latif über den ganz jungen, den von den Zusammenhängen der Welt faszinierten Schüler. „Ich war aber nicht so ein Nerd. Zum Teil war ich auch stinkfaul, muss ich sagen.“ Ein sanftes Grinsen flammt auf in seinem Gesicht.
Latif hat in der Schule Strafarbeiten aufbekommen
Man hat ihm damals sogar hin und wieder Strafarbeiten aufgebrummt, Latif zahlte es dann gern mit gleicher Münze heim, schrieb komplexe Abhandlungen, einmal zum Beispiel über den Süßwasserpolyp, ein anderes Mal über Diabetes, damit die Lehrer sich mit Themen beschäftigen mussten, von denen sie ziemlich sicher keine tiefergehende Ahnung gehabt haben dürften. Ganz schön plietsch, sagt man in Hamburg.
Mojib Latif, der große deutsche Klimaerklärer, bekommt schon lange keine Strafarbeiten mehr. Mittlerweile ehrt man ihn. Nun hat er im Schloss Bellevue als einer von 23 Bürgern und Bürgerinnen, die sich um die Bildung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie verdient gemacht haben, das Verdienstkreuz am Bande erhalten. Und dann geht es weiter. Mit der Mission, die nie endet.