Vincenza Sanfilippo verlor als Kind Mutter und zwei kleine Geschwister – mutmaßlich durch einen Versicherungsbetrug. Erst viel später konnte sie darüber reden.
„Der Moment“33 Jahre nach Feuertragödie schreibt Kölnerin ein Buch und klagt an
Vincenza Sanfilippo ist das Herz und die Seele ihres Ladens „Mamma Maria“ an der Christophstraße. Fachfrau für italienische Feinkost ebenso wie für deutsche Schnitzel. Salami, Pecorino, Meeresfrüchtesalat, Wein, einen Espresso am kleinen Stehtisch. Oder doch eine Hühnerkeule. Alles gibt es hier. Vor einigen Wochen kam etwas Neues dazu: Auf einmal lag ein Stapel Bücher auf der Verkaufstheke. Zeitungsausschnitte mit riesigen Schlagzeilen auf dem Umschlag, der Titel „Non C’e Giustizia – Keine Gerechtigkeit“. „33 Jahre habe ich nicht darüber gesprochen, was passiert ist. Jetzt sollen es alle wissen. Das musste raus“, sagt sie. Es gehe um eine große Tragödie. Zu groß, um sie im Geschäft „Mamma Maria“ zu erzählen.
Zum Gespräch daheim bei Vincenza Sanfilippo in Höhenberg ist die Familie zusammengekommen. Tochter, Schwiegersohn und Neffe. Auch, um sie sprachlich zu unterstützen. Vincenza Sanfilippo spricht fließend Deutsch, aber wenn sie von der Vergangenheit erzählt, dann überwältigen sie oft Gefühle und manchmal Zorn. Und dann redet sie Italienisch.
Vincenza Sanfilippo kam in Köln zur Welt. „In Köln-Kalk“, sagt sie stolz. Die Eltern waren 1977 aus dem 4000-Seelen-Dorf Maletto auf Sizilien, in Italien bekannt für seine Erdbeeren, nach Köln gezogen. Der Vater hatte wie viele andere Männer von der Insel hier Arbeit als Bauarbeiter gefunden. 1980 wurde Vincenza als drittes Kind geboren. Doch schon bald fühlte sich die Mutter zu allein im fremden Land und 1983 zog die Familie nach Maletto zurück. In ein verwinkeltes Gebäude mit vielen Treppen, das im Grunde zwei Häuser miteinander verband. Das Ehepaar bekam noch drei weitere Kinder.
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Kölnerin verlor 1991 Mutter und zwei Geschwister bei Brand auf Sizilien
Die Familie wohnte im linken Teil des Gebäudes, unten rechts gab es ein leerstehendes Ladenlokal. Anfang der 90er Jahre, erzählt Vincenza Sanfilippo, eröffnete dort eine Metzgerei. Die Besitzer waren nicht aus Maletto, niemand kannte sie. „Es kamen nicht viele Kunden, sie konnten nicht gut mit Leuten umgehen.“ Eines Tages erstattete der Besitzer Anzeige: Vor seinem Geschäft sei Benzin ausgegossen worden und man habe Schutzgeld von ihm verlangt. „In unserem Ort war so etwas aber noch nie passiert, das hat uns damals gewundert.“ Auch habe er die Versicherungssumme erhöht, wie er selbst erzählte. In der Nacht zum 2. Juli 1991 flog die Metzgerei in die Luft.
Vincenza, vier Geschwister und die Eltern schliefen im Haus. Nur ein Sohn war gerade bei der Oma, er hatte sich das Bein gebrochen und konnte keine Treppen laufen. Rauch breitete sich blitzschnell aus, es herrschte undurchdringliche Finsternis. Vincenza, damals elf Jahre alt, versuchte, auf allen Vieren die Treppen hinaufzukriechen, zur frischen Luft auf die Dachterrasse. „Alle raus, alle raus“, hörte sie. Immer wieder musste sie in den verschachtelten Stockwerken nach den Stufen suchen. „Ich bin wohl immer wieder ohnmächtig geworden, sah niemanden von der Familie.“ Schließlich erreichte sie das Dach. „Da ist ein Kopf, da ist ein Kopf“, riefen Nachbarn und zogen sie in Sicherheit.
Um 2.45 Uhr wachte sie im Krankenhaus auf. Ihre große und eine kleine Schwester waren auch da. „Die anderen seien in anderen Krankenhäusern, haben sie mir gesagt.“ Die Wahrheit erfuhr sie erst, als sie entlassen wurde. Ihre Mutter Maria, der acht Jahre alte Claudio und die acht Monate alte Simona waren tot.
Was folgte, waren Entsetzen und Schweigen. Früh kam der Verdacht auf, dass hinter der Explosion ein Versicherungsbetrug steckte. Es wurde ermittelt. Vincenza sagte aus, sie habe den Sohn des Metzgereibesitzers am Abend in den Laden hinein- und hinausgehen sehen, er habe nicht wieder abgeschlossen. Der Metzgereibesitzer saß zwei Jahre im Gefängnis, aber dann wurde der Fall nicht mehr verfolgt. Da sei viel von der Justiz unter den Teppich gekehrt worden. „Gott wird das schon klären, sagte man damals“, erinnert sich Vincenza Sanfilippo. Ihr Vater habe nicht kämpfen können. Er hatte nur wenig Schulbildung und musste nun allein für vier Kinder sorgen. „Er konnte den Schmerz nicht in Worte fassen.“
Erste Arbeitsstelle in einem Feinkostgeschäft in Köln-Kalk
Er ging schließlich zum Geldverdienen zurück nach Köln. Tochter Vincenza folgte ihm, sobald sie mit 14 die Schule abgeschlossen hatte. Das Fahrtgeld verdiente sie sich in der Fleischabteilung eines Supermarkts. Sie wollte herausfinden, ob in der Branche tatsächlich Schutzgeld erpresst wurde. „Aber da war nichts.“ Mit dem Bus fuhr sie nach Köln. „Mamma hat immer gesagt, Köln sei so schön. Ich habe tagelang nur Autobahn gesehen, das war so weit.“ Auf der Fahrt lernte sie einen Mann kennen, der einen Mann kannte, der ein Lebensmittelgeschäft in Kalk hatte. „Da habe ich gearbeitet.“ Sie wohnte bei einer Tante und musste neu anfangen, Deutsch zu lernen. Sie biss sich durch, wechselte zu einem italienischen Feinkostladen, war an der Fleischtheke bei Edeka. „Immer diese Metzgereien“, wundert sie sich selbst. Schließlich machte sie sich mit „Mamma Maria“ selbständig. Das Logo ist die stilisierte Silhouette ihrer Mutter.
Sie ist verheiratet, hat drei Kinder. Die wussten von dem Brand, aber was genau passiert war, darüber sprach sie nie viel. Schon als Kind wollte sie nicht darauf reduziert werden: „Ach, das ist doch das Mädchen, das die halbe Familie beim Feuer verloren hat.“ Doch die Mutter und die beiden kleinen Geschwister sind auf Fotos immer präsent. Vor einem Bild von Mamma Maria leuchtet stets eine Kerze. „Ich träume oft, dass meine Mutter noch da ist und mit mir redet.“
33 Jahre nach dem Brand schrieb Kölnerin Buch über die Tragödie
2019 fuhr Vincenza Sanfilippo zu einem Klassentreffen nach Maletto, man saß in der Dorfgaststätte. Ihr gegenüber eine alte Freundin, die irgendwann fragte: „Was ist eigentlich aus der Sache von damals geworden, war es wirklich Versicherungsbetrug?“ Und dann erschrak die Freundin und sagte: „Schau mal in den Spiegel, hinter dir sitzt der Sohn des Metzgereibesitzers.“ In dem Moment habe es bei ihr Klick gemacht, erinnert sich Vincenza Sanfilippo. „Da ist alles hochgekommen und jetzt wollte ich kämpfen.“ Der Mann bemerkte sie und verschwand schnell. „Und ich hatte keine Angst mehr.“
Die Klassenkameradin erzählte, dass ihr Bruder Anwalt geworden sei. Zu ihm hat Vincenza Sanfilippo seitdem Kontakt, er hat ihr Gerichtsunterlagen besorgt. Gemeinsam wollen sie die Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen. Das Brandhaus, das den Sanfilippos gehört, steht noch da wie früher – mit neuen Methoden könnten noch Spuren gefunden und Abläufe geklärt werden. Und Vincenza Sanfilippo trug Zeitungsartikel über die Tragödie, Fotos und Erinnerungen in einem Buch zusammen. „Ich will Gerechtigkeit nach all den Jahren“, sagt sie. „Und dass keiner auf die Idee kommt, dass man mit so einem Verbrechen davon kommt.“ Jetzt habe sie auch die nötige Kraft. „Ich habe mir eine Familie aufgebaut, ich bin stolz auf mich und ich bin stärker geworden.“
Trotz der Tragödie fährt die Familie jedes Jahr nach Maletto. Schließlich ist das Heimat, hier wohnen noch viele Verwandte. In diesem Sommer gab es einen Gottesdienst, bei dem Vincenza Sanfilippo, von Freunden Enza genannt, gesprochen hat. „Hört, was Enza sagt“, mahnte der Pastor von der Kanzel. Der Bürgermeister kam mit zur Ruine und hielt eine Ansprache. Vincenza Sanfilippo traut sich regelmäßig in das Gebäude hinein, in dem sich nichts geändert hat. „Das Haus spricht zu mir“, sagt sie. Und sie zeigt ein Foto aus dem Treppenhaus. Darauf ist schemenhaft ein kleiner schwarzer Handabdruck an der Wand zu erkennen. „Der ist von mir, als ich hinaufgekrochen bin. Die Wand wurde schon mehrmals gestrichen, aber die Hand kommt immer wieder hervor.“
Am Donnerstag, 21. November, stellt Vincenza Sanfilippo ihr Buch um 18 Uhr im italienischen Kulturzentrum Mondo Aperto, Zugweg 22, vor.