Im Oktober 2015 wird Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker von Frank S. niedergestochen. Wir zeichnen den Anschlag nach – die Folgen reichen bis heute.
„Attentat am Blumenstand“Rechtsradikaler Täter will mit Henriette Reker sprechen
Es ist kurz nach neun Uhr morgens, als Frank S. auf dem Braunsfelder Wochenmarkt das Messer zieht. Die Kölner CDU, Grünen und FDP haben ihre Wahlkampfstände aufgebaut und verteilen Rosen, zusammen mit Henriette Reker, ihrer gemeinsamen Kandidatin für die Oberbürgermeisterwahl. Frank S. geht auf Reker zu, fragt sie nach einer Rose, dann rammt der Rechtsextremist ihr ein Jagdmesser in den Hals. Die OB-Kandidatin geht zu Boden. Frank S. dreht sich zu den umstehenden Personen um, eine Kommunalpolitikerin verletzt er schwer, drei weitere leicht.
Noch am selben Abend bilden Spitzenpolitiker aus Nordrhein-Westfalen, darunter die damalige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), Armin Laschet (CDU), Christian Lindner (FDP) und der damalige Oberbürgermeister-Kandidat Jochen Ott (SPD), eine Menschenkette vor dem Rathaus. Viele Bürger schließen sich an. Einen Tag später wählt Köln Henriette Reker zur nächsten Oberbürgermeisterin. Reker selbst feiert nicht; die Ärzte auf der Intensivstation haben sie in ein künstliches Koma versetzt.
Podcast des KStA thematisiert Attentat und Bedrohung von Kommunalpolitikern
Das Attentat auf Henriette Reker am 17. Oktober 2015 war ein Bruch in der Geschichte der Bundesrepublik. Zum ersten Mal seit dem Ende des Nationalsozialismus verübte ein Rechtsradikaler einen Mordanschlag auf eine Kommunalpolitikerin oder einen Kommunalpolitiker. Er geschah ausgerechnet in Köln – der Stadt, die eigentlich so stolz auf ihr tolerantes und weltoffenes Image ist. Es blieb nicht das letzte Attentat: Knapp vier Jahre später, am 1. Juni 2019, ermordete der Rechtsextremist Stephan E. den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dessen Wohnhaus.
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Die neue Podcast-Reihe des „Kölner Stadt-Anzeiger“ beschäftigt sich deshalb nicht nur mit den dramatischen Minuten auf dem Braunsfelder Wochenmarkt, sondern auch mit den Hintergründen, mit den Nachwirkungen, mit der Bedrohung von Kommunalpolitikern innerhalb und außerhalb von Köln.
Folge 1 von „Attentat am Blumenstand“ als Hörprobe
Die Folgen 2 bis 7 hören Sie exklusiv auf ksta.de. Hier geht es zur Übersicht: ksta.de/attentat
„Attentat am Blumenstand – der Angriff auf Kölns Oberbürgermeisterin und die Gefährdung der Demokratie“ heißt der Podcast, der die Geschehnisse – moderiert von Helmut Frangenberg – in sieben Folgen nachzeichnet: Das Attentat, den Prozess, die Folgen für die Opfer und die Auswirkungen von Bedrohungen, Beleidigungen und Angriffen für die erste Ebene der Demokratie: die Kommunalpolitik. Zu Gast sind unter anderem die Wahlkämpfer von CDU, Grünen und FDP, die bei dem Attentat verletzt wurden, die Richterin, die Frank S. verurteilte, Bürgermeister aus Köln und der Region, die über Drohungen und ihre Auswirkungen sprechen, und Henriette Reker selbst.
Terrorismusforscher sieht Definition eines Einzeltäters kritisch
Frank S., ein 44-jähriger arbeitsloser Maler aus Nippes, musste sich nach dem Anschlag vor dem Düsseldorfer Landgericht verantworten. Als die Polizei eintraf, stand er laut Zeugen in Siegerpose auf dem Wochenmarkt, er rief: „Reker, Merkel, Flüchtlingsschwemme“ und sagte den Beamten: „Ich bin heute Morgen aufgestanden, um heute Abend als Mörder im Gefängnis zu sitzen.“ Das Gericht verurteilte ihn wegen versuchten Mordes zu 14 Jahren Haft. Das Motiv: Fremdenfeindlichkeit. Reker wurde zu seinem Feindbild, weil sie als Sozialdezernentin für die Unterbringung von Geflüchteten verantwortlich war.
S. war ein klassischer Einzeltäter. In den 90er Jahren war er zwar in der Bonner Neonazi-Szene aktiv, wurde wegen politisch motivierter Straftaten zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung verließ er jedoch kaum sein Haus. Er radikalisierte sich weiter vor dem heimischen Computer, allein, ohne soziale Kontakte.
Der Terrorismusforscher Armin Pfahl-Traughber sieht die Definition eines Einzeltäters trotzdem kritisch. „Es gibt Einzeltäter, die fremdenfeindliche Stimmungen im Land wahrnehmen und sich deshalb zu so einer Tat entscheiden“, sagt Pfahl-Traughber im Podcast. „Und es gibt Einzeltäter, die in Gruppen organisiert waren, sich von dort verabschiedeten, aber aus der Ideologie heraus einen Anschlag begehen. Es geht darum, das Wirken dieser Täter in einem sozialen und politischen Kontext wahrzunehmen.“
Martin Bachmann: „Wenn ich abends ins Bett gehe, dann sehe ich dieses blutige Messer“
Neben Reker wurden vier weitere Kommunalpolitiker verletzt. Frank S. stach der CDU-Politikerin Marliese Berthmann in die Lende und verletzte sie schwer. FDP-Ratsfrau Katja Hoyer traf ein Stich an der linken Wange, Anette von Waldow, ebenfalls FDP, erlitt zwei Stichwunden, Pascal Siemens (Grüne) eine tiefe Schnittwunde am Arm. Die Tat haben sie heute verarbeitet; manche erwägen gar ein persönliches Treffen mit dem Täter.
Ausgerechnet einen Retter verfolgt der 17. Oktober jedoch bis heute. Martin Bachmann schlug damals mit einem Sonnensegel auf Frank S. ein, brüllte, er solle die Waffe fallen lassen. Der deutsch-kurdische Unternehmer hielt den Attentäter in Schach, bis ein privat anwesender Bundespolizist ihn überwältigte. „Ich habe das Trauma immer noch“, sagt Bachmann. Seit dem Anschlag befindet er sich in psychologischer Behandlung, zweimal ließ er sich stationär in einer Klinik aufnehmen. „Wenn ich abends ins Bett gehe, dann sehe ich dieses blutige Messer. Ich habe fast meinen Verstand verloren, weil ich nicht schlafen konnte.“
Henriette Reker hatte nach dem Anschlag zwar einige Monate Alpträume, doch sie kam über die Tat schnell hinweg. „Ich weiß auch, warum“, sagt sie im Podcast. Nach dem Angriff verlor sie nicht das Bewusstsein, dazu wusste sie, wie man mit einer Stichwunde umgeht. Also zog sie ihren Handschuh aus und stecke einen Finger in die Wunde, um die Blutung zu stoppen. „Insoweit konnte ich mich auch selbst retten. Ich bin dem Täter entronnen“, sagt sie. „Er hatte keine Macht über mich.“
Henriette Reker: „Ich muss einfach sagen, der Täter interessiert mich gar nicht“
Der Täter hat aus dem Gefängnis heraus den Wunsch geäußert, mitder Oberbürgermeisterin zu sprechen. Sie denke über ein Treffen mit ihm nach, so Reker. Schon beim Prozess habe er sich bei ihr entschuldigen wollen, sie nahm die Entschuldigung nicht an. „Wenn man sich wirklich hätte entschuldigen wollen, wäre man da vielleicht auch eher draufgekommen als in dem Prozess“, sagt Reker. „Ich muss einfach sagen, der Täter interessiert mich gar nicht.“
Jetzt, als Oberbürgermeisterin, ist Henriette Reker erst recht Ziel von Drohbriefen, -Mails und Feindeslisten. Ihr persönlicher Referent Pascal Siemens sortiert sie direkt aus, bevor er die Post an seine Chefin weitergibt. Ein Großteil der Schreiben kommen aus dem rechtsextremen Spektrum. Einer bedauert, dass das Attentat nicht erfolgreich gewesen sei; ein anderer schreibt, er warte nur auf die passende Gelegenheit, um sie umzubringen. Siemens schätzt: Jede Woche gehen drei schwere Beleidigungen oder Drohungen ein, die strafrechtlich relevant sind. Dazu kommen Bombendrohungen gegen das Rathaus.
Jeder dritte Kommunalpolitiker erlebt tätliche Angriffe
Doch was ist mit den Menschen, die kein Büro haben, das Drohungen direkt der Polizei übergibt? Kommunalpolitik geschieht zu einem großen Teil ehrenamtlich. 60 Prozent der Kommunalpolitiker in Großstädten sind von Aggressionen und Anfeindungen betroffen. Das zeigt die repräsentative Studie „beleidigt und bedroht – Arbeitsbedingungen und Gewalterfahrungen von Ratsmitgliedern in Deutschland“ der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahr 2022. Jeder Dritte erlebte tätliche Angriffe. Bei Politikerinnen kommt häufig eine sexualisierte Form der Gewalt dazu. Die Debatten polarisieren zunehmend, so die Befragten. Gerade durch soziale Medien werden Diskussionen emotionaler und persönlicher.
Viele der befragten Kommunalpolitiker kritisieren, dass Strafanzeigen gegen Beleidigungen und Bedrohungen verhallen. Folgen für die Täter gibt es selten. Die Studie bemängelt fehlende Sensibilität für politisch motivierte Gewalt bei den Strafverfolgungsbehörden: Es brauche eine konsequentere gerichtliche Ahndung der Straftaten.
Andreas Wolter (Grüne), Bürgermeister und erster Stellvertreter von Reker, wünscht sich zudem mehr juristische Unterstützung für Ratsmitglieder. Bei Prüfungen solle sich die Stadt zuständiger fühlen. „Eine Bekannte von mir aus dem Ruhrgebiet hörte auf, als ihre Kinder per Post bedroht wurden“, sagt Wolters im Podcast. „Es fehlt die administrative Unterstützung.“
Einer von zehn Kommunalpolitikern erwägt, aufzuhören
Die Belastung und Drohungen führen laut der Studie dazu, dass viele Ehrenamtliche über einen Rückzug aus der Kommunalpolitik nachdenken. Einer von zehn Befragten äußert ernsthaft den Gedanken, aufzuhören.
Kommunalpolitiker haben kein Berliner Büro, in dem anonyme Post weit weg von dem tatsächlichen Lebensmittelpunkt eingeht. Sie leben mit den Menschen, die sie bedrohen, in einem Ort, manchmal in einer Straße. Das Privatleben vermische sich so schneller mit dem Politikerdasein, so die Studie.
So geschah es auch bei Sascha Solbach. Der Bürgermeister von Bedburg im Rhein-Erft-Kreis fand einen Drohbrief im Briefkasten seiner Familie. Kurz zuvor hatte er in einer Videobotschaft angekündigt, dass in der Bürgerhalle von Königshofen vorübergehend Geflüchtete leben. Der Clip schlug vor allem in der rechten Szene Wellen– weit über die kleine Stadt im Rhein-Erft-Kreis hinaus. „Plötzlich haben Leute aus Österreich die Bedburger Kommunalpolitik für sich entdeckt“, sagt Solbach.
Havliza: „Aus den Gedanken können auch Taten werden“
Morddrohungen und Beleidigungen habe er schon früher bekommen, so der SPD-Politiker. Doch die Drohung im Briefkasten überschritt für ihn trotzdem eine Grenze: die Grenze ins Private. Der Absender forderte ihn auf, keine Flüchtlinge mehr in Bedburg aufzunehmen. „Ansonsten werde man meiner Frau und meinem vierjährigen Sohn das Gleiche antun, was die Flüchtlinge den hiesigen Familien antun werden“, sagt Solbach. „Was auch immer das heißt.“
Weil sich die allgemeine Debatte verschärfe, forderte Solbach seine Kolleginnen und Kollegen im Stadtrat auf, aufmerksamer zu sein. Nachdem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ darüber berichtet hatte, schlug der Fall auch bundesweit Wellen. Gegen den anonymen Absender erstattete der Bürgermeister zuerst keine Anzeige. Ein Fehler, findet er heute; solche Drohschreiben dürfe man nicht akzeptieren.
Richterin Barbara Havliza, die Frank S. vor dem Düsseldorfer Landgericht zu einer hohen Haftstrafe verurteilte, ist heute Opferschutzbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen. Beim Prozess nannte sie das Attentat einen Höhepunkt der Gewalt. Später zeigte sich: Dieser Höhepunkt war längst nicht erreicht, und die Hemmschwelle sinkt nicht nur im Netz. „Es ist eine alte Weisheit, dass die Gedanken weiterspazieren und aus den Gedanken dann auch Taten werden können“, sagt Havliza.
Alle sieben Folgen des Podcasts „Attentat am Blumenstand – der Angriff auf Kölns Oberbürgermeisterin und die Gefährdung der Demokratie“ finden Sie unter ksta.de/attentat.