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Betroffene Patienten fühlen sich diskriminert

Lesezeit 5 Minuten

Köln – In manchen Situationen hilft nicht einmal Ammoniak. „Wenn ich in einer Hochstressphase bin, bin ich nicht mehr in der Lage, klar zu denken“, sagt Siggi W. Dann kann sie sich in eine gewaltige Wut hineinsteigern. „Ich werde sehr laut, sehr intensiv und beharre auf meinem Recht. Hinterher schäme mich fürchterlich dafür, doch in dem Moment kann ich mich nicht stoppen.“Verlustängste, sagt sie, lösten bei ihr Angstausbrüche aus. „Ich kann nur noch weinen und fange irgendwann an zu hyperventilieren.“ Extreme Sinnesreize – etwa durch den beißenden Geruch von Ammoniak – können die drohenden Gefühlsexplosionen zwar abmildern, vielleicht sogar verhindern. Dauerhaft abstellen können sie sie nicht.

Siggi W., 30 Jahre alt, gelernte Erzieherin, leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung mit depressiven Phasen. Die Betroffenen unterliegen extremen Stimmungs- und Gefühlsschwankungen. Ihr Selbst- und Körperbild ist gestört, ihre Fähigkeit, emotional Maß zu halten, stark eingeschränkt. „Borderliner empfinden entweder gar nichts, oder sie empfinden alles sehr viel intensiver als andere Menschen“, präzisiert Siggi W. das Krankheitsbild. Für gesunde Menschen sei ihr Verhalten oft schwer auszuhalten. Ihre engste Freundin habe ihr kürzlich nach 15 Jahren die Freundschaft gekündigt. Auch ihr bester Freund wolle nach ihrem letzten Wutausbruch nichts mehr mit ihr zu tun haben.

„Wir werden gesellschaftlich diskriminiert und ausgegrenzt“

Ihr Fazit ist bitter: „Wir werden gesellschaftlich diskriminiert und ausgegrenzt, weil sich niemand vorstellen kann, wie es ist, psychisch krank zu sein.“ Schlimmer noch: Ein Gesetzesentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn droht, die Lage psychisch Kranker weiter zu verschlechtern. Das zumindest befürchten Psychotherapeuten und Betroffene. „Jetzt werden wir auch noch politisch diskriminiert“, so Siggi W.

Stein des Anstoßes ist das geplante Terminservice- und Versorgungsgesetz. Gesetzlich Versicherte sollen schneller als bisher einen ersten Arzttermin bekommen. Problematisch aus Sicht der psychisch Kranken: die darin vorgesehene „gestufte und gesteuerte Versorgung für die psychotherapeutische Behandlung“. Geplant ist, vor der eigentlichen Behandlung zunächst einen zusätzlichen Arzt über Dringlichkeit und Art der Therapie entscheiden zu lassen. Was nach Meinung von Therapeuten und Patienten einen weiteren Stressfaktor für die Betroffenen bedeutet und die freie Arztwahl einschränkt.

Bereits vor der ersten Lesung des Gesetzentwurfs im Bundestag am 13. Dezember 2018 hagelte es Proteste. Es dürfe nicht zu weiteren bürokratischen Hürden beim Zugang zur Psychotherapie kommen, forderten die Delegierten des Deutschen Psychotherapeutentags in Berlin. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, erklärte die umstrittene Neuregelung sogar für komplett überflüssig. Mit dem Inkrafttreten der neuen Psychotherapie-Richtlinien und der Einführung der Akut-Sprechstunde im April 2017 gebe es bereits eine nach Dringlichkeit gesteuerte Versorgung. Die Wartezeiten auf ein erstes Therapiegespräch hätten sich inzwischen von zwölfeinhalb auf 5,7 Wochen verkürzt.

Auch die psychotherapeutischen Berufsverbände reagierten entsetzt auf Spahns Gesetzesentwurf. Sie reichten im Bundesgesundheitsministerium eine Petition mit rund 200 000 Unterschriften ein und forderten die ersatzlose Streichung der Aufreger-Passage. Die psychisch Kranken würden unnötig belastet und gegenüber anderen Patientengruppen benachteiligt, so ihr Vorwurf. „Es entsteht ein neues Nadelöhr vor der eigentlichen Behandlung.“Siggi W. kann das nur bestätigen. Die 30-Jährige weiß aus eigener Erfahrung, welche Überwindung es einen psychisch Kranken kostet, einem Therapeuten die eigene Leidensgeschichte zu erzählen. „Das ist Stress pur.“ Mit 17 wird sie das erste Mal auffällig. Sie hatte begonnen, sich zu ritzen und in ihrem Zimmer „einzumurmeln“. „Ich merkte selber, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.“

„Borderline ist nicht heilbar“

Anpassungsstörung, so lautet die Diagnose der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der sie mehrere Wochen verbringt. Mit 20, nach der Trennung von einem Freund, landet die junge Frau ein zweites Mal in einer psychiatrischen Klinik. Jetzt ist die Diagnose eine andere: Borderline-Persönlichkeitsstörung. „Ein richtiges Totschlagargument. Denn Borderline ist nicht heilbar.“

Heute liegen – nach einer mehrjährigen stabilen Phase – zwei weitere Klinikaufenthalte hinter ihr. Der Tod ihrer Mutter hatte sie erneut aus dem Gleichgewicht gebracht. Siggi W. hat zwei Jobs, ihre Wohnung und einen Teil ihres sozialen Umfelds verloren. Sie ist nach wie vor in psychotherapeutischer Behandlung und sucht nach einer beruflichen Alternative. „Psychische Erkrankungen werden im sozialen Bereich nicht gern gesehen“, sagt sie. „Ich bin zwar im Aufschwung, doch wenn etwas passiert, kann ich jederzeit wieder einbrechen. Es ist wie bei einem trockenen Alkoholiker: Wenn das Leben kommt, weiß man nicht, was passiert.“

Ihren bisherigen Arbeitgebern hat sie ihre Erkrankung so lange wie möglich verschwiegen, ihre Dienstpläne so gestaltet, dass sich die Therapiestunden unauffällig in ihren Tagesablauf integrieren ließen. „Allein dieses Verschweigen ist auf Dauer eine unheimliche Belastung, die zu weiterem Stress führt.“ Viele psychisch Kranke lehnten eine Therapie ab, weil sie vor ihrem Arbeitgeber nicht zugeben wollten, Probleme zu haben. „Bis sie so krank sind, dass sie in der Klinik landen.“

Das neue Gesetz, fürchtet auch Siggi W., würde die Lage der Kranken noch verschärfen. „Erst erzählen Sie Ihrem Hausarzt alles, dann womöglich einem zweiten Arzt, den Sie nicht mal kennen, und schließlich Ihrem Therapeuten. Überhaupt zum Arzt zu gehen, das ist ja schon eine Riesenanstrengung.“ Sie selber würde es sich jedenfalls dreimal überlegen, ob sie diese Prozedur auf sich nehmen wolle.

Statt ein überflüssiges neues Gesetz zu schaffen, solle Spahn lieber dafür sorgen, dass mehr Therapeuten zugelassen würden, so die Kritiker des Ministers. Unisono klagen Verbände und Patienten über die „unzumutbar langen“ Wartezeiten von knapp 20 Wochen bis zum Beginn einer Psychotherapie.

„Man bekommt eine Liste mit 20 Telefonnummern in die Hand gedrückt und kann die abtelefonieren“, schildert Siggi W. das Prozedere. „Und das in einem Zustand, in dem man wenig rafft. Wenn man endlich jemanden gefunden hat, den angebotenen Termin aber aus beruflichen Gründen nicht wahrnehmen kann, muss man weitersuchen.“

Genau das solle ja durch das neue Gesetz verhindert werden, argumentiert man im Bundesgesundheitsministerium. „Das Problem sind nicht zu wenig Therapieplätze, das Problem ist die Steuerung der Versorgung“, sagt ein Sprecher dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Minister Spahn werde sich daher in den nächsten Tagen mit den Berufsverbänden zusammensetzen. „Es gibt da viele Missinterpretationen.“ Die gelte es auszuräumen. Ein wenig Zeit bleibt noch. Das Gesetz soll voraussichtlich im April in Kraft treten.