Köln-Chorweiler – „Die Schlange“ wird der Hochhauskomplex genannt, der sich wie ein gekrümmtes Band am Rand von Chorweiler-Mitte entlang windet. 589 Wohnungen, 1500 Bewohner, 17 Hauseingänge, mehr als hundert Nationalitäten. Vor einem der Wohntürme steht an diesem frostigen Morgen Michail (Name geändert). Als er die beiden Streetworker sieht, die auf ihrem täglichen Rundgang auch dort vorbeikommen, steuert er auf sie zu. Seit Monaten, erzählt Michail, wohne seine Freundin und ihre Kinder mit in seinem Ein-Zimmer-Appartement. Sie findet keine bezahlbare Wohnung, Streetworker Roman Friedrich soll helfen.
Ein paar Schritte weiter wartet schon Andrej, ein weiterer alter Bekannter. Dem Mann geht es schlecht, das ist offensichtlich. Er schnappt nach Luft, stützt sich schwer auf sein Fahrrad. Mehrere Drogentherapien hat er schon abgebrochen. Friedrich soll abchecken, ob ihm noch einmal eine Chance gegeben wird. „Für die Drogenberatung müssen die Leute in die Innenstadt fahren, weil es hier kein eigenes Büro gibt. Das kriegen viele nicht organisiert“, schildert Friedrich das Problem.
Keine Sprachbarriere
Das Gespräch mit Andrej führt Friedrich auf russisch. Wie alle Unterhaltungen an diesem Morgen. Der Sozialarbeiter ist Russlanddeutscher, sein Teamkollege Taner Erdener Deutscher mit türkischem Hintergrund. Ein ideales Gespann für Chorweiler: Sowohl die russlanddeutsche als auch die türkische Community hier ist groß. Sie kennen deren Sprache und den kulturellen Hintergrund.
Seit Mai 2016 sind Friedrich und Erdener im Auftrag der GAG täglich auf den Straßen rund um das Einkaufszentrum City-Center unterwegs. Die Wohnungsbaugesellschaft hatte seinerzeit die „Schlange“ und zwei weitere Hochhauskomplexe mit insgesamt 1200 Wohnungen übernommen und bemüht sich seither um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in den zuvor zwangsverwalteten Gebäuden. Die GAG füllt damit eine Lücke, die die Stadt mit eigenen Kräften bislang zu nicht schließen imstande war. In der Vergangenheit gab es gerade einmal sechs von der Stadt bezahlte Streetworker für ganz Köln. Nach Chorweiler kamen sie nur auf Anforderung – wenn Jugendeinrichtungen, Ordnungsamt oder Polizei konkrete Problemlagen meldeten.
Künftig, so hat es der Stadtrat nun beschlossen, sollen es immerhin zwölf Streetworker sein. Auch in Chorweiler soll dann ein Büro mit festen Sprechzeiten etabliert werden. Für Friedrich und Erdener hatte der Morgen mit einem Rundgang durchs City-Center begonnen. Immer wieder wird Taner Erdener von Jugendlichen begrüßt, gegenseitiges Schulterklopfen, ein paar freundliche Worte. „Hier kommt jeder im Laufe des Tages mal durch. Wenn wir mit jemandem etwas zu klären haben, suchen wir ihn hier“, sagt Friedrich.
Bei nur einem falschen Blick kann es zur Prügelei kommen
Die beiden gehen mit ihren Klienten, wie sie es nennen, Tee trinken oder Mittag essen und besprechen bei der Gelegenheit anstehende Gerichtstermine und Behördengänge, erinnern sie an Sozialstunden, helfen bei der Suche nach Wohnung oder Ausbildungsplatz. „Und wir bekommen sehr schnell mit, wenn sich ein Konflikt hochschaukelt, viel früher als die Polizei“, sagt Friedrich.
Wie neulich, als es in dem Einkaufszentrum zu einer Schlägerei mit 30 Beteiligten kam. Ein falscher Blick – schon flogen die Fäuste. Einen wirklichen Grund gab es wohl nicht, außer dem, dass Aggressoren und Angegriffene verschiedenen Gruppen angehörten. „Wir gegen die. Türken gegen Russlanddeutsche gegen Deutsche, »Gläubige« gegen »Ungläubige«, Ukrainer gegen Russen, Kurden gegen Türken. Ganz oft steckt hinter den Konflikten die Frage nach der Identität, gerade bei Jugendlichen“, sagt Erdener. Und das Gefühl, von der Gesellschaft abgehängt zu sein, keine Zukunftsperspektive zu haben.
Das Duo kennt das Veedel schon lange
Erdener gelang es schließlich, zu vermitteln. Eine Aussprache zwischen den Kontrahenten wurde verabredet, am Ende entschuldigten sich die Angreifer. „Um das zu erreichen, brauchst du das absolute Vertrauen der Rädelsführer. Dein Wort muss etwas gelten, die Regeln, die du aufstellst, müssen respektiert werden. Sonst begibst du dich womöglich noch selbst in Gefahr“, sagt Friedrich. Die Regel für die Aussprache lautete: Während des Treffens passiert nichts. Es blieb friedlich.
Die beiden Streetworker können so agieren, weil sie sich im Stadtteil auskennen. Erdener ist hier aufgewachsen, hat sich schon als Student in der Hausaufgabenhilfe engagiert. Diejenigen, denen er damals Nachhilfe gab, sind heute teilweise seine Kunden. Er kennt ihre Familien, ihre Väter und Brüder. Auch Friedrich ist seit zehn Jahren im Auftrag wechselnder sozialer Träger in Chorweiler unterwegs. Täglich. Auf ihrem Facebook-Account haben die beiden Streetworker mehr als tausend Kontakte aus dem Veedel.
Ein Jahr dauert es mindestens, sagen beide, um in die Szene einzutauchen und das notwendige Vertrauen der Menschen zu gewinnen. „Die Beziehungsarbeit ist das A und O“, sagt Erdener und Friedrich meint: „Mal »Hallo« sagen, Visitenkarten verteilen und wieder verschwinden, damit erreicht man gar nichts. Solche Feuerwehreinsätze sind Verschwendung von Ressourcen.“