Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach aus Köln ist auf Bundesebene in Beratung zum Coronavirus.
Dem NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) wirft er eine gefährliche Verharmlosung vor.
Im Interview sagt er deutlich, dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt und warum er Handy-Ortung zur Kontrolle von Kontaktverboten für eine gute Idee hält.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wirft Ministerpräsident Armin Laschet bei der Diskussion über die Rückkehr in den Alltag eine „gefährliche Verharmlosung“ vor. Im Interview spricht er unter anderem über die aktuelle Lage des Coronavirus in Nordrhein-Westfalen und warum er Handy-Überwachung zur Kontrolle von Kontaktverboten für eine gute Idee hält.
Herr Lauterbach, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet ist dafür, jetzt schon Pläne für die Rückkehr in den Alltag zu entwickeln. Was halten Sie davon?
Lauterbach: Das halte ich für falsch und irreführend. Laschet erweckt damit den Eindruck, als ob in wenigen Wochen das Leben wieder so weitergehen würde wie früher. Das ist eine gefährliche Verharmlosung der Situation. Wenn wir die Kontaktverbote jetzt zu früh lockern und das Virus dadurch sich wieder geballt verbreitet, stehen wir am Ende schlechter da als jetzt. Das darf unter keinen Umständen passieren.
Halten Sie ein Ende der Kontaktverbote nach dem Ende der Osterferien für realistisch?
Eine Lockerung wäre zumindest wünschenswert. Wir müssen aber sehen, wie sich die Zahl der Neuinfektionen entwickelt. Es reicht nicht, wenn die Kurve sogar stark abflacht. Das ist überhaupt kein Grund für eine Entwarnung. Die Kontaktverbote müssen solange gelten, bis wir die Zahl der Neuinfektionen an den Boden gedrückt haben und am Boden halten können.
Reicht es nicht aus, wenn die Zahl der Neuinfektionen die medizinische Versorgung nicht an die Belastungsgrenze bringt?
Da bin ich absolut anderer Meinung. Diese Betrachtungsweise blendet völlig aus, dass eine längere künstliche Beatmung in der Regel schwere sehr oft bleibende Gesundheitsschäden nach sich zieht. Die Hirnleistung lässt zumeist deutlich nach, nicht nur bei älteren Menschen, Demenzen treten schneller auf.
Es gibt auch sehr oft eine nachhaltige Schädigung des Lungengewebes. Das kann auch vielen jungen Menschen drohen. Selbst ohne Beatmung. Wegen dieser massiven Folgewirkungen muss es unser Ziel sein, die Zahl der Erkrankungen so gering wie möglich zu halten bis wir eine wirksame Behandlung haben.
Reichen die bisherigen Maßnahmen aus, um das Ziel zu erreichen?
Es ist nicht auszuschließen, dass eine weitere Verschärfung der Auflagen nötig sein kann. Wir müssen versuchen, den Kampf gegen das Virus noch gezielter zu führen. Wenn wir einen erneuten Ausbruch im Sommer vermeiden wollen, müssten möglichst viele Menschen beim Einkaufen, im Nahverkehr und bei der Arbeit einen Mundschutz tragen. Jeder neue Fall muss konsequent nachverfolgt werden, alle Kontaktpersonen muss man testen und isolieren.
Der Markt für Mundschutz ist allerdings schon jetzt leer gefegt.
Ja, deswegen müssen wir dringend eine nationale Produktionsinfrastruktur aufbauen, die von Importen unabhängig ist. Es bringt nichts, wenn die Länder versuche, das im Alleingang zu lösen. Wir benötigen eine neue Bundesbehörde, die Bestellungen, Produktion und Verteilung organisiert.
Sollten sich Menschen selbst einen Mundschutz nähen?
Das kann nur eine Übergangslösung sein. Man fasst sich dann nicht mehr so häufig in das eigene Gesicht. Ich finde es aber natürlich gut, wenn die Menschen sich selbst behelfen und die wenigen vorhandenen Masken dort zum Einsatz kommen, wo sie im dringendsten benötigt werden.
Wie gut sind die Kliniken im Rheinland auf die Ausbreitung des Virus vorbereitet?
Das ist regional äußerst unterschiedlich. Derzeit gibt es insgesamt aber noch genügend freie Kapazitäten. Wir sollten uns aber jetzt so schnell wie möglich darauf vorbereiten, dass sich das ändern kann. Wir sollten Kliniken benennen, die sich auf Corona-Fälle konzentrieren – und Kliniken, in denen alle anderen Patienten behandelt werden.
Das funktioniert in Berlin schon sehr gut. Nordrhein-Westfalen sollte so schnell wie möglich auf dieses bipolare System umstellen. Durch eine Aufteilung ist die bestmögliche Versorgung bei einem größtmöglichen Ansteckungsschutz von Ärzten und Pflegern möglich.
Wie groß schätzen Sie die Gesundheitsschäden durch die Isolierung ein?
Die Schäden, die das Virus anrichtet, sind wohl deutlich erheblicher. Ob es wirklich deutlich mehr Depressionen geben wird, ist schwer zu sagen. Jedenfalls wird die Isolation von vielen Menschen nicht als so schlimm erlebt, wenn alle davon betroffen sind.
Kann die Handyortung im Kampf gegen das Virus helfen?
Das ist eine gute Idee, die wir verfolgen sollten. Südkorea zeigt, dass Handydaten, insbesondere Bluetooth-Daten, ein effektives Instrument sein können, um die Kontaktpersonen von Erkrankten technisch zu ermitteln. Bei der Eindämmung des Virus kommt es entscheidend darauf an, dass die Infektionsketten nachvollzogen werden können. Die Handydaten sollten aber nur auf freiwilliger Basis eingesetzt werden.
Derzeit wird über einen „Corona-Zuschlag“ für Pflegepersonal diskutiert.
Ja, unser Pflegepersonal ist leider immer noch völlig unterbezahlt. Der Bund sollte sich mit den Tarifpartnern zusammensetzen und über eine Aufstockung des Lohns verhandeln. Wir benötigen einen spürbaren Zuschlag. Mit ein paar hundert Euro im Monat ist es nicht getan. Der Pflegeberuf muss deutlich an Attraktivität gewinnen. Da nach der Pandemie eine Rezession kommt, könnten die Pflegekräfte wieder vergessen werden.
Was halten Sie davon, dass Unternehmen wie „Adidas“ ihre Miete nicht mehr zahlen?
Darüber bin ich sehr enttäuscht. Ich war schon als kleiner Junge Adidas-Fan, habe mich immer darüber gefreut, wenn ich Jacken oder Schuhe von Adidas geschenkt bekam. Das war damals etwas Besonderes. Jetzt denke ich darüber nach, mir nie wieder einen Artikel von Adidas zu kaufen.
Sehen Sie auch positive Aspekte der Krise?
Nur den, dass wir künftig besser vorbereitet sein werden. Corona wird nicht die letzte Pandemie sein, die uns erreichen wird. Die Globalisierung, Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und der Klimawandel verstärken das Risiko von weltweiten Infektionen stark.
Was vermissen Sie derzeit am meisten?
Geselligkeit, Restaurantbesuche – und mit meiner Tochter Tischtennis zu spielen, sie spielt für den 1 FC Köln.