Herr Hein, in Ihrem Buch beschreiben Sie, dass die Polizei unterbesetzt und schlecht ausgestattet ihre Arbeit verrichten muss. Hätten bessere Bedingungen den Berliner Terroranschlag verhindert?
Viele sagen jetzt, dass man aus den Erfahrungen der Anschläge von Nizza und anderswo hätte Schlüsse ziehen und an potenziell gefährdeten Orten Betonpfeiler errichten müssen, damit ein Lkw nicht durchkommt. Vielleicht wäre der Täter dann mit einem Sprengstoffkoffer aufgetaucht. Dann wäre gefordert worden, mehr Polizisten und Sprengstoffspürhunde einzusetzen. Also ja und nein. Ja, denn viel hilft viel. Nein, weil es absolute Sicherheit nie geben kann, gerade gegen so hinterhältige und menschenverachtende Angriffe. Trotzdem ist es wichtig, Probleme zu benennen: Zu geringe Polizeipräsenz in der Fläche, zu wenig Beamte in den Spezialgebieten. Etwa in der Forensik, wo es unter anderem nach Einbrüchen darum geht, Spuren zu analysieren. Auch bei der Strafverfolgung gibt es zu wenig Personal. In vielen Fällen gibt es keine Verurteilung, aber nur das würden Täter als Konsequenz für ihr Fehlverhalten ansehen.
Wie hat sich das auf Ihre Arbeit als Bundespolizist in Köln ausgewirkt?
Im Ernst: Wenn Anschläge wie die in Brüssel oder Paris am Kölner Hauptbahnhof stattgefunden hätten, wären wir nicht vorbereitet gewesen. Neben dem Personalmangel sind die Bewaffnung, die Schutzkleidung oder die gering gepanzerten Fahrzeuge der Beamten untauglich für einen überraschenden Anti-Terror-Einsatz. Und bis eine Sondereinheit wie die GSG 9 eintrifft, vergeht Zeit. Bis dahin reicht es nicht, das Gebiet zu sperren. Das Gesetz sieht vor, dass ein Polizist eingreift. Auch im Internet muss die Fähigkeit verbessert werden, den Cyber Crime zu bekämpfen – von der Überwachung der Terroristen-Rekrutierung bis zum Waffenhandel im Darknet. Ein stärkerer exekutiver Polizeiapparat in allen Bereichen ist dringend notwendig.
Zur Person und zum Buch
Nick Hein war elf Jahre lang Bundespolizist. Drei davon war der Kölner Hauptbahnhof Einsatzort des 32-Jährigen, ehe er Ende 2014 kündigte, um seine Karriere als Profi-Kampfsportler voranzutreiben. Sein Buch „Polizei am Limit“ ist entstanden, nachdem Heins Stellungnahme in sozialen Netzwerken zur internen Situation bei der Polizei im Januar 2016 viele Reaktionen hervorrief und die Debatte um die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht befeuerte.
www.nick-hein.de
Das Buch „Polizei am Limit“ ist am 16. Dezember bei Rowohlt erschienen. 208 Seiten, 9,90 Euro.
Ihr Buch ist als Reaktion auf das Geschehen der Silvesternacht 2015 in Köln entstanden. Welchen Beitrag kann es zu der Debatte und zur Aufarbeitung der Ereignisse leisten?
Es ist wichtig, dass über die Ereignisse diskutiert wird. Das Thema ist von Interesse, Menschen streiten darüber. Das kann produktiv bei der Suche nach Lösungen sein. Politik wird durch öffentlichen Druck zum Handeln gezwungen, gerade im Wahlkampf. Das Thema Sicherheit ist in der Köpfen der Menschen so präsent, dass man es ernst nehmen muss. Es wurde lange heruntergespielt und gesagt, Deutschland sei eines der sichersten Länder der Welt. Mag sein, dass anderswo deutlich schlimmere Zustände herrschen, aber die Sicherheitslage hier ist heute viel schlechter, als sie es noch vor drei bis vier Jahren war.
Sie bemängeln, dass es für die Beamten, die direkt mit Kriminalität konfrontiert sind, zu wenig Rückhalt in Politik und Gesellschaft gibt. Warum ist das so?
Mir scheint, dass derzeit die politischen Lager versuchen, die Angst der Menschen zu nutzen, um Wahlkampf zu betreiben. Dem möchte ich mit meinem Buch entgegenwirken. Vor allem aber auch einer Bewegung, die es darauf anlegt, die Polizei zu instrumentalisieren, um so Stimmen zu erhaschen. Ein Beispiel ist die Grünen-Politikerin Renate Künast, die damals den Anschlag in einem Zug bei Würzburg kommentiert und über Twitter gefragt hat, warum der Täter nicht „angriffsunfähig geschossen“ werden konnte. Damit hat sie nur die Stimmung aufgeheizt – denn es ist absolut weltfremd, sofort in einem Zug voller Menschen zu schießen. Den Beamten wird es schwer gemacht, einfach ihren Dienst zu tun.
Gibt es weitere Beispiele?
Viele. Etwa die Mitglieder der Einsatz-Hundertschaften, die sich zu allen Seiten absichern müssen, wenn sie beispielsweise in einem Stadion versuchen, Hooligans daran zu hindern, einen Fanblock zu stürmen. Sobald sie jemanden berühren, müssen sie einen Bericht schreiben und sich zig Mal vor verschiedenen Stellen rechtfertigen. Damit wird ihre Arbeit lächerlich gemacht. Das ist frustrierend und beängstigend, denn es zeigt, wie es momentan um die Polizei steht.
Aber sollte es für die Arbeit der Polizei nicht Kontrollinstanzen geben?
Definitiv. Die Polizei muss wie jedes andere Organ im Staat kontrolliert werden. Aber es muss Sinn machen, denn die Beamten gehen nicht ins Fußballstadion, um sich zu prügeln. Viele sogenannte C-Fans legen es aber darauf an, die Beamten zu provozieren. Dann sollte es Hauptaufgabe sein, die Situation zu schlichten oder zu neutralisieren, damit es nicht zu Gewaltausbrüchen kommt. Wer einmal einen Großeinsatz miterlebt hat weiß, welche Hektik gerade bei einer Gruppendynamik entsteht und wie schnell Gewalt ausbrechen kann. Es ist weltfremd, die Beamten mit solchen Auflagen zu versehen. In Kombination mit personeller Unterbesetzung und schlechter Ausstattung kann so schnell Frust entstehen. Vielen Menschen fehlt der Einblick dafür, was für Polizisten realistisch und umsetzbar ist.
Im Silvester-Ausschuss des NRW-Landtags haben Kriminologen mehr Integration als Mittel zur Kriminalitätsprävention gefordert. Werden mit aufgerüsteter Polizei statt der Ursachen also nur Symptome bekämpft?
Wenn man sich zum Beispiel Straftäter mit Migrationshintergrund und im Flüchtlingskontext ansieht, muss man klar unterscheiden. Sie sind eine absolute Minderheit der Kriminellen, aber eben eine hochgradig aktive Gruppe. Integration ist wichtig, auf dem Gebiet sollte nachgebessert werden, auch finanziell. Fakt ist aber: Wir haben allgemein ein riesiges Problem mit Straftätern, deutschen wie ausländischen. Um das in den Griff zu bekommen, gibt es derzeit einfach zu wenig Kräfte – der Polizeiapparat ist maßlos überfordert. Hinzu kommt eine lasche Strafverfolgung. Die betrifft alle Täter, unabhängig von ihrer Herkunft.
Sie wollen Probleme ansprechen und Täterkreise benennen. Führt eine öffentliche Kriminalitätsdebatte, in der immer wieder der „nordafrikanische Intensivtäter“ auftaucht, zu einseitiger Wahrnehmung – und auch zur Stärkung von Demagogen?
Die Befürchtung hatte ich , als ich mich erstmals öffentlich zum Thema geäußert habe. Ich will niemandem ein Werkzeug geben, um Stimmung zu machen. Meine Frau hat mir damals geraten, meine Erfahrungen und bekannte Fakten zu nennen. Sie ist Japanerin und sagte, dort hätte man nicht gezögert. Diese Intensivtäter-Gruppe der Nordafrikaner gibt es – aber im Buch kommt klar heraus, dass es sich bei ihnen um einen Bruchteil der Kriminellen handelt, die nicht Stellvertreter aller Nordafrikaner sind. Ja, es hat Einladungen und Anfragen aus dem rechten Spektrum gegeben und Versuche, Zitate von mir einzubinden. Aber das lehne ich ausdrücklich ab.
Die erste Mitteilung der Kölner Polizei zum Verlauf der Silvesternacht 2015 lautete: „Weitgehend friedliche Nacht, kaum Zwischenfälle, ausgelassene Stimmung“. Die Realität sah anders aus.
Die Polizei lässt sich nicht gern in die Karten schauen. Ich würde mir eine bessere Informationskette wünschen, aber manchmal geht es auch darum, Panik oder Nachahmung zu vermeiden. Silvester war vielen Beamten das Ausmaß der Ereignisse nicht klar – die frühe Mitteilung war ein Fehlschuss.
Was passiert Silvester 2016 Ihrer Meinung nach am Hauptbahnhof?
Das Sicherheitskonzept ist bombastisch, es wird aufgefahren wie nie. Ich bin zu 90 Prozent sicher, dass nichts passiert. Allerdings zeigt auch das traurige Beispiel aus Berlin, dass immer Unsicherheit bleibt. Der Kölner Hauptbahnhof ist ein Ort mit unglaublich viel Bewegung – ein Knotenpunkt für den Nah- und Fernverkehr. 2014 war Köln die deutsche Hauptstadt der Taschendiebe, ein Großteil davon findet am Hauptbahnhof statt. Dann gibt es noch die Fußballspiele und ein aktive Drogen-Szene. Das alles führt zu harten Arbeitsbedingungen für die Polizei vor Ort, womit wir wieder beim Thema Personalmangel sind.
Am Ende des Buches bezeichnen Sie Ihre Ex-Kollegen als „Vorbilder“ und „Idealisten“. Sie haben 2014 den Dienst quittiert – ist Ihnen der Idealismus abhandengekommen?
Im Herzen bin ich weiter Polizist. Aber ich musste mich zwischen meiner Kampfsport-Karriere und dem Polizeiberuf entscheiden. Wäre ich dazu nicht gezwungen gewesen, würde ich heute noch meine Beamtenuniform tragen.
Innenminister kritisiert Ermittler und Justiz
Ein Jahr nach den massenhaften Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière scharfe Kritik an Ermittlungsbehörden und Justiz geübt. „Es ist völlig unverständlich, dass nach einer so großen Anzahl an sexuellen Übergriffen so wenige Täter verurteilt worden sind. Das empfinde ich als Problem“, sagte der CDU-Politiker der „Bild am Sonntag“. Die Justiz solle „hier in aller Härte urteilen“.
Außerdem hätten die Verfahren viel zu lange gedauert, rügte der Minister. „Das führte zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass nur wenige Straftaten hart verfolgt und verurteilt wurden.“
An Silvester hatten mehrheitlich nordafrikanische Männer rund um den Hauptbahnhof Hunderte Frauen umzingelt, bestohlen und sexuell bedrängt. Insgesamt gingen 1205 Strafanzeigen ein, 509 davon befassten sich mit Sexualdelikten. Viele Verfahren sind bereits eingestellt worden. In rund 30 Fällen kam es zu einer Verurteilung, einige Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Nur bei drei Verurteilungen gab es einen Bezug zu einem Sexualdelikt. (dpa, ksta)