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Kölner Reggae-Star Gentleman im Interview„Ich habe mich ein stückweit nackig gemacht“

Lesezeit 8 Minuten
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Gentleman sprach früher sogar auf der Bühne lieber Patois – im Herbst erscheint sein erstes deutschsprachiges Album.

  1. Der Kölner Reggae-Star Gentleman wirft der Europäischen Union angesichts überfüllter Flüchtlingslager eine „unglaubliche Doppelmoral“ vor.
  2. Im Interview spricht der 45-Jährige über sein bald erscheinendes, erstes deutschsprachiges Album sowie über die Krise der Veranstaltungsbranche.
  3. Er verrät außerdem, welche Chancen die Pandemie birgt und weshalb er früher sogar auf der Bühne lieber Patois statt Deutsch geredet hat.

Auf Konzerten und in Ihren Liedern senden Sie oft Botschaften gegen rechts. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder vom brennenden Flüchtlingslager Moria auf Lesbos gesehen haben?

Gentleman: Es ist schwer zu ertragen, wie die Europäische Union da komplett versagt. Es ist eine unglaubliche Doppelmoral, woanders Menschenrechte einzufordern und in unseren Breitengraden so etwas zuzulassen. Gerade als Vater die Bilder von Kindern zu sehen, die verloren und unbegleitet da herumlaufen, diese Zustände mitten in Europa zu wissen, ist furchtbar.

Zu Beginn der Pandemie wurde auf die dramatische Lage dort hingewiesen. Warum brauchen EU-Länder erst solche Bilder, um aktiv zu werden?

Ich glaube, das liegt leider in der Natur des Menschen. Anscheinend lernen wir nur, wenn es knallt. Wir können uns da nicht so ausschließen. Wir müssen solidarischer werden. Es war ja auch absehbar. So viele Menschen auf einen Haufen – eine tickende Zeitbombe, die jetzt explodiert ist. Das ist nicht das einzige Flüchtlingslager, in dem solche Zustände herrschen. Unerträglich ist auch, dass Menschen, die sich privat dafür einsetzen, Menschen vorm Ertrinken zu retten, noch Morddrohungen erhalten. Trotzdem hoffe ich, dass es nur ein Teil ist, der so denkt. Die schweigende Mehrheit muss den Mund aufmachen, damit nicht der Eindruck entsteht, die meisten hätten jedes Gefühl verloren.

Im Herbst soll Ihr erstes, deutschsprachiges Album „Blaue Stunde“ erscheinen. Für manche mag dies überraschend kommen, da Sie lange Zeit auch auf der Bühne bei der jamaikanischen Kreolsprache Patois blieben. Jetzt gibt es gleich ein ganzes Album auf Deutsch. Warum gerade jetzt?

Den Wunsch habe ich schon seit Jahren. Mich hat es immer gewurmt, dass dort, wo ich die meisten Konzerte spiele, vielleicht auch die meisten Platten verkaufe, der Großteil meiner Texte nicht verstanden wird. 1999, als ich mein erstes Album beim Label der Fantastischen 4 veröffentlicht habe, gab es fast ausschließlich englischsprachige Musik – auch bei uns. Das hat sich verändert. Deutsch funktioniert mittlerweile – und ich bin nicht dabei gewesen, dabei will ich auch verstanden werden. Es heißt nicht, dass ich in Zukunft keine englischen Lieder mehr singen werde. Das hat mir auch erlaubt, in Afrika, Amerika und Südamerika zu touren. Ganz früher habe ich in meinem jugendlichen Leichtsinn auch zwischen den Songs auf Patois geredet. Von heute aus betrachtet war das totaler Schwachsinn. Da bin ich mit so einer bestimmten Stimmung reingegangen, und das Switchen zwischen den Sprachen war dabei problematisch. Jetzt bin ich gereift und habe das Album nach einem Prozess von drei Jahren fertig.

Zur Person

Gentleman heißt bürgerlich Tilmann Otto und wurde 1975 in Osnabrück geboren. Der Pfarrerssohn zog mit seiner Familie nach Köln, als er ein Jahr alt war. Er wurde der erste Reggae-Star Deutschlands und hat schon mit internationalen Künstlern wie Sean Paul und Ky-Mani Marley gearbeitet.

Sein Album „Confidence“ (2004) war seine erste Platin-Platte. 2014 nahm er als erster Reggae-Künstler ein MTV-Unplugged-Album auf. Im November erscheint sein deutschsprachiges Album „Blaue Stunde“.

Wie fühlt sich Singen und Schreiben auf Deutsch für Sie an?

Als ich bei »Sing meinen Song« ein Lied von Mark Forster gecovert habe, habe ich gemerkt, dass die deutsche Sprache kein Fremdkörper ist, sondern sich total vertraut anfühlt. Ich kann mir alles vom Herzen singen. Jetzt habe ich 16 Songs, die ich guten Gewissens loslassen kann. Ich habe bei null angefangen, weil es eine ganz andere Art zu texten ist. Viele Wörter, die man benutzen will, fließen erst nicht: Bis ich eine eigene Sprache in der deutschen Sprache gefunden habe, hat es gedauert.

Ihre neuen Singles »Ahoi« und »Time Out« handeln beide von Zeit. Haben Sie Angst davor, alt zu werden?

Nein, im Gegenteil. Ich will nicht vier Jahre jünger sein. Es fühlt sich gerade sehr gut an. »Time Out« und »Ahoi« sind beide vor Corona entstanden, passen aber gut in die Zeit jetzt. »Time Out« fordert dazu auf, dass man mal die Beschleunigung rausnimmt. »Ahoi« ist ein Wunsch nach Reduzierung, nach Ruhe im Alter. Ein Appell, bewusst zu leben und mehr zu reflektieren. Ich weiß nicht, ob es bei mir schon immer klappt – aber die Richtung stimmt.

Auch ihre dritte Single »Garten« handelt vom eigenen Ort der Reflexion. Diese Themen scheinen sich durch Ihr gesamtes Album zu ziehen …

Ich sage bei jedem Album, dass es mein persönlichstes ist. Aber das ist mein persönlichstes. Wer es hört, lernt mich kennen. Es handelt vom Hin- und Her zwischen Rock’n’Roll-Leben, der eigenen Verantwortung, meiner Vaterrolle, der Schnelligkeit und dem Entwurzeltsein. Ich habe mich ein stückweit nackig gemacht. Was ich früher auf Englisch gemacht habe, viel gesellschaftskritischer und politischer – da bin ich nicht weg von, aber es passiert auf einer anderen Ebene.

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Würden Sie denn auch auf Kölsch singen? Sie standen ja schon mal mit den Bläck Fööss auf einer Bühne ...

Dafür ist mein Kölsch nicht gut genug. Mein Vater hat immer versucht, mit Rheinländern auf Kölsch zu sprechen, und das kam komisch rüber. Das ist etwas ganz Eigenes. Aber vom Singsang ist es dem Patois näher als dem Hochdeutschen. Aber so einen Song mit einem kölschen Songwriter zusammen? Warum nicht. Ich finde, Kölsch klingt wunderbar.

Sie sind immer zwischen Köln und Kingston hin- und hergependelt. Wegen Corona ist der Reiseverkehr sehr zum Erliegen gekommen. Welche Nachrichten erreichen Sie von dort?

Das letzte Mal war ich vor anderthalb Jahren in Jamaika. Für uns ist die Situation dort schwer nachzuvollziehen. Auch dieses »Wir bleiben zu Hause« während des Lockdowns können sich dort viele nicht erlauben. Ich habe auch Freunde in Südafrika, in den Townships, und viel mit denen telefoniert . Da geht es teilweise ums blanke Überleben. Das muss man klar so sagen.

Seit Geburt der Tochter ist sein Mittelpunkt in Köln

Haben Sie also Ihren Lebensmittelpunkt mittlerweile eindeutig nach Köln verlagert?

Ja, der war immer hier. Köln ist meine Heimat, ich fühle mich tierisch wohl hier. Ich habe nie in Jamaika gelebt, war aber immer wieder zwei bis drei Monate da. Seit meine Tochter vor fünf Jahren geboren ist, hat sich das vermindert. Aber es bleibt ein Ort der Wiederkehr und der Inspiration – ich fühle mich da sehr zu Hause. Ich telefoniere gerade mehr mit Jamaika als vorher. Das schweißt zusammen. Das Reisen pausiert aber gerade.

Wie ist es für Sie als erklärter Weltbürger, dass die Grenzen wegen Corona wieder so eng werden?

Das war schon vor Corona Thema, wenn Trump etwa von der »Beautiful Wall« spricht und wenn man sich anschaut, was in Ungarn und in Polen passiert mit der PiS-Partei. Für meine Generation war das nie ein Thema. Wir waren extrem frei. Dafür bin ich dankbar. Aber es gibt gerade auch keine Alternative, finde ich, wir sind keine Experten und müssen vorsichtig sein. Als das mit der Pandemie anfing, gab es kein Flugzeug am Himmel, in Italien ließen sich auf einmal wieder die Delfine in den Gewässern blicken. Die Natur holt sich zurück, was wir ihr weggenommen haben. Vielleicht muss das auch mal sein.

Eins Ihrer neuen Videos zeigt die Aufnahme vom jungen Gentleman. Wie blicken Sie heute auf den Pfarrerssohn zurück, der Reggae machen wollte?

Ich fühle mich in dem bestätigt, dass, wenn man für etwas brennt, sich irgendwann Wege erschließen. Ich bin dankbar, dass es nun schon so lange geht. Natürlich ist es eine skurrile Geschichte: Der Pastorensohn aus der »Middleclass«, aus dem Eckhaus, der nach Jamaika geht, auf Patois Lieder macht und erfolgreich ist. Das bestätigt mich darin, dass Musik die einzig universelle Sprache ist.

Sie haben sich eher dem klassischen Roots-Reggae verschrieben. Mittlerweile gibt es Stars wie die junge Koffee, die sich in ihrem Sound davon wegbewegt. Wie entwickelt sich der Reggae heute?

Es wird oft so gesehen, dass ich hauptsächlich den klassischen Roots-Reggae bedient habe. Aber das ist nicht so. Schon auf dem ersten Album waren Hip-Hop-Beats enthalten, da sind Dancehall-Nummern. Es ist alles Teil von diesem Genre, das wir so lieben. Auch eine Koffee hat Songs, die zum klassischen Roots-Reggae gezählt werden können. Das eine schließt das andere nicht aus. Es ist ein Klischee, das Reggae nur einen Beat hat und einseitig ist: Er erfindet sich immer neu. Generell wachsen die Genres mehr zusammen. Heute bedienen sich selbst Singer-Songwriter an Dancehall-Elementen. Auch bei Beyoncé findet man Dancehall-Rhythmen.

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Gentleman bei seinem Konzert im Kölner Schrotty.

Wie erleben Sie gerade die akute Krise der Veranstaltungsbranche?

Die macht Angst. 2,5 Millionen Arbeitsplätze hängen dran – die Caterer, Zulieferer, Bühnenaufbauer, Promoter. Anstatt, dass man klug investiert, werden weiter Kredite vergeben: Ich sehe da gerade eine Insolvenzverschleppung. Ich habe Angst vor Geisterstädten. Es ist schwierig, weil man nicht weiß, wann es weitergeht. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir viel lernen. Ich lebe viel bewusster als vor Corona. Dieser kollektive Burn-out, dieses »Höher, Schneller, Weiter« wird gebremst. Ich schaue nicht mehr auf die nächsten fünf Jahre, sondern auf nächste Woche. Das fühlt sich sehr gesund an. Ich fliege auch nicht für jedes Meeting nach Berlin.

Sie sind kürzlich in der Bickendorfer Open-Air-Location »Schrotty« aufgetreten. Kurz schien das Projekt in Gefahr, weil die Stadtverwaltung die Schank-Konzession verweigert hatte. Wie steht es in Köln um Subkultur?

In jeder Großstadt gibt es diese Entwicklung, die mir Sorgen bereitet. Luxuswohnungen, Supermärkte – Kulturorte werden geschlossen, Investoren kommen. Auch in Köln: gerade in Ehrenfeld. Dafür muss man kämpfen, dass die Kultur erhalten bleibt. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft, und wenn sogar von der Politik Sätze wie »Kultur ist verzichtbar« kommen oder Söder sagt, »man kann mit seiner Frau auch zu Hause tanzen«, dann fehlt mir das Signal.