„Rolling Stone“-Chefredakteur„Das Hallmackenreuther war die Rampe in die Nacht“
Lesezeit 4 Minuten
Köln-Belgisches Viertel – Die neunziger Jahre begannen im milden Neonlicht der Fünfziger. Eine Frau in einem Cocktailkleid, eher eine elegante Welle, die an eine Frau in einem Cocktailkleid denken ließ, schimmerte an der kathedralenhohen Wand des Lokals und warf ein cremefarbenes Licht durch die riesige Fensterfront. So etwas hatte Köln noch nicht gesehen.
Und dieser Name: Hallmackenreuther, der Bettenverkäufer aus einem Loriot-Sketch, ein Nierentisch auf zwei Beinen, rückwärtsgewandt wie das sorgfältig zusammengetragene Interieur des neu eröffneten Lokals am Brüsseler Platz. Man betrat es skeptisch.
Das Kölner Nachtleben spielt sich in Laufentfernung ab, man lässt sich von einer Kneipe zur nächsten treiben, durch die engen Gassen, vorbei an beleuchteten Türen, Musikfetzen und Menschengeplapper. Unter den Ausgehquartieren galt das Belgische Viertel damals als Nukleus der Kunst- und Musikszene. Das Trapez zwischen Stadtgarten, Rudolfplatz und Aachener Straße war voller Nachtschwärmer, aber nicht überfüllt wie heute. Es gab noch keinen Kneipentourismus, kein Cornern, kein feuchtfröhliches Campieren auf den Straßen und kaum genervte Anwohner.
Künstler wie Cosima von Bonin, Michael Krebber und Kai Althoff stellten bei Christian Nagel aus, am Abend standen sie an der Theke des Königswassers. Zwei Ecken weiter, an der Aachener Straße, hatte die Musikzeitschrift „Spex“ ihre Büros und schräg gegenüber, im Six Pack, den nächtlichen Redaktionstresen. Die „Stadt-Revue“ und der Plattenladen Groove Attack saßen bereits an der Maastrichter Straße, ein paar Hundert Meter über den Ring hinaus traf man sich dicht gedrängt im plüschigen Dos Equis beim Kölsch. Und wenn nichts mehr ging, dann ging es noch ins Roxy, da war es laut und sowieso schon alles egal.
Dass etwas fehlte, merkten wir erst, als es plötzlich da war. In der Mitte des Belgischen Viertels, am Brüsseler Platz, öffnete 1990 das Hallmackenreuther. Eine praktische Namensverkürzung wie etwa „Halli“ hat sich nie durchsetzen können. Aber es dauerte nicht lange, bis das Café mit der Neonwelle in die Bruderschaft der relevanten Kneipen aufgenommen wurde. Denn das Hallmackenreuther hatte allen anderen Lokalen gegenüber einen Vorteil: Es war schon tagsüber geöffnet. Und so wurde es zur Rampe in die Nacht.
Wer zu den Stammgästen zählte, saß an einem der Tische am Schaufenster. Außer, es hatte sich schon jemand anderes dorthin gesetzt, was nicht verboten, aber unbotmäßig war und von jenen, die sonst immer dort saßen und nun an den Ausweichtischen unter der Treppe standen, stirnrunzelnd beobachtet wurde. Doch das kam selten vor. In aller Regel war es so: Man trat durch die Glastür, wandte sich nach rechts, grüßte in die Runde und schob sich einen der Schalensessel an den Tisch, unter dem die Bulldogge eines Skateboard fahrenden Kreativarbeiters kauerte.
Latte Macchiato gab es noch nicht
Man trank Milchkaffee, denn Latte Macchiato gab es noch nicht, man setzte sich hin und lief nicht mit Pappbechern durch die Stadt. Die neunziger Jahre, wie gesagt. Rund um den Tisch herrschte ein Kommen und Gehen, ein Hinsetzen und Aufstehen. Cyrus, der Wirt, trug einen gepflegten Dreitagebart, ein Basecap und eine Espressotasse und sammelte all diese Designstücke aus der Adenauer- bis Brandt-Ära. Einmal wurde das ganze Lokal im Verner-Panton-Stil eingerichtet, doch der Designer starb, bevor er es sich anschauen konnte.
Ein anderes Mal feierte die ähnlich designte New Yorker Popband Deee Lite eine spontane Aftershowparty, und Partys wurden im Hallmackenreuther-Keller sowieso immer gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Im hinteren Teil des Lokals fanden Drehbuchbesprechungen statt, dämmerten durchreisende DJs vor leeren Kaffeetassen, wurden Kölns erfolgreichstes Tanzmusik-Trio Whirlpool Productions gegründet und Daniel Brühl entdeckt. Aus den Kugellautsprechern säuselte indifferente Housemusic, der Tag zog vorbei, bis wieder irgendwer aufstand und rausging in die Nacht. Das waren die neunziger Jahre in Köln. Oder zumindest die am Brüsseler Platz. Es gab kaum bessere.
Zur Person
Sebastian Zabel, 53, war 1990, als das Hallmackenreuther eröffnete, Redakteur der Musikzeitschrift „Spex“, später beim „Express“. Heute ist er Chefredakteur des „Rolling Stone“ in Berlin.