Die Feiernden hinterlassen Müll, Scherben und Erbrochenes. Manch Angetrunkener bringt sich in lebensgefährliche Situationen.
Alkohol, gefährliche Klettereien und MüllbergeSo lief der 11.11. im Kölner Kwartier Latäng
Die magische Uhrzeit 11.11 Uhr verpufft im lauten Getöse und Gedränge der Zülpicher Straße im wahrsten Sinne des Wortes ein wenig – zwar ohne gemeinsamen Countdown, aber doch einigermaßen pünktlich zünden junge Feiernde vereinzelt Bengalos und Feuerwerkskörper. Die Menge jubelt und grölt.
Die Zülpicher Straße ist zu diesem Zeitpunkt schon mehr als zwei Stunden für Neuankömmlinge gesperrt. Bereits gegen 9 Uhr hat die Polizei die in Scharen heranströmenden Menschen per Lautsprecherdurchsagen darum gebeten, die Ausweichfläche der Uniwiesen anzusteuern. Einige harren vor den Zugängen aus, in der Hoffnung, doch noch hereingelassen zu werden.
Ein Durchkommen auf der Zülpicher Straße selbst ist kaum möglich, dicht an dicht stehen die jungen Leute mit Bier und Mischgetränken in den Händen, manch einer ist bereits so betrunken, dass er sich alleine nicht mehr auf den Beinen halten kann und von Sanitätern versorgt werden muss. 11.11 und Zülpicher Straße – das hat, hört man sich unter den Feiernden um, scheinbar Tradition.
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„Es ist Kultur“, sagt ein junger Mann, der als Air-Force-Pilot verkleidet ist. Man müsse es mal gemacht haben, sagt er. Dazu gehört für andere offenbar auch, auf Ampeln und Laternenmasten in schwindelerregende Höhen zu klettern, um sich dort feiern zu lassen und unter lautem Jubel das Oberteil vom Körper zu reißen. Aufgehalten hat die Kletterer in ihrem teils lebensgefährlichen Vorhaben niemand.
Trotz aller Unvernunft bleibt die Situation den Tag über weitgehend friedlich, wenngleich von übermäßigem Alkoholkonsum gezeichnet. Das Feiern verlagert sich schon am Mittag gen Ausweichfläche Uniwiese.
Klaus Adrian, Anwohner im Kwartier Latäng und Mitglied der Bürgervereinigung Rathenauplatz, sagt dazu am Samstagmorgen: „Unsere Befürchtung ist, dass außer der abgesperrten Fläche an der Uniwiesen der Rest des Grüngürtels in Richtung Aachener Weiher auch noch in Mitleidenschaft gezogen wird.“ In der Tat breiten sich die Feiern im Laufe des Samstags auch in diese Richtung aus. Die dortigen Grünflächen sind, anders als auf der offiziellen Ausweichfläche, nicht mit Bodenplatten geschützt.
Bezirksbürgermeister Andreas Hupke hält die Uniwiesen für den Hauptmagneten. Dadurch habe sich der Andrang innerhalb der vergangenen zwei Jahre verdoppelt. „Die Uniwiesen sind zu einem Festivalgelände geworden. Die Polizei spricht von 60.000 Menschen, mit denen sie auf der Wiese rechnet, gegenüber 12.000 oder 15.000 im Zülpicher Viertel.“
Allein das zeige, dass der Begriff ‚Ausweichfläche‘ falsch sei. „Eigentlich ist die Zülpicher Straße traurig. Ein Nachbar sagte eben zu mir: ‚Die Zülpicher Straße kommt mir wie ein Müllkanal vor, auf dem sich die Menschen einfach nur besaufen‘“, so Hupke.
Gegen 13.30 Uhr ist die Uniwiese deutlich stärker besucht als die Zülpicher Straße, die inzwischen so viel Platz hat, dass die Polizei die Zugänge wieder öffnet. Die Besucherinnen und Besucher scheinen dafür Gefallen an der Uniwiese gefunden zu haben, feiern ausgelassen im Sonnenschein, sie trinken und tanzen zu der lauten Musik, die aus den aufgestellten Anlagen wummert. Doch: Die Ausweichfläche wird zeitweise ebenfalls dichtgemacht, weil sie voll ist.
Auch Oberbürgermeisterin Henriette Reker macht sich ein Bild von der Situation. Sie sagt am Ende ihres Rundgangs durch das Kwartier Latäng: „Die Zülpicher Straße macht mir den Eindruck, entspannter zu sein als im Vorjahr.“ Zu ihrem Besuch am frühen Nachmittag war die Straße allerdings auch nicht ansatzweise so gefüllt wie am Morgen und Vormittag. „Hier“, sagt Reker mit Blick auf die abgedeckte Grünfläche, „sind mehrere zehntausend Jugendliche, die auf ihre Art Karneval feiern.“ Eine Alternative zur umstrittenen Uniwiesen-Lösung sieht sie aktuell nicht. „Ich habe keine Idee, wo wir diese Zehntausenden in der Stadt sonst unterbringen hätten können“, sagt sie.
Sie zeigt Verständnis dafür, dass die jungen Leute Party machen wollen. „Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit. In Köln ist jeder Jeck anders: Der eine bleibt in sich gekehrt und beklagt die Opfer der Kriege, der andere versucht, das ein paar Stunden lang zu vergessen.“ Das sei gerade für die jungen Menschen, denen Corona noch in den Knochen stecke, wichtig, sagt Reker.
Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten bleiben aber auch zur Sessionseröffnung im Kwartier Latäng nicht gänzlich vergessen. Vor ihrem Rundgang besuchte Reker die Synagoge in der Roonstraße, entzündete eine Kerze für die Opfer des Krieges.
Sie sei heute, am Schabbat, nicht so gut besucht wie gewöhnlich. Es habe Ängste bei Jüdinnen und Juden gegeben, unbeschadet zur Synagoge in unmittelbarer Nähe zum Feier-Hotspot zu gelangen, so Reker. Später, um kurz vor 16 Uhr, versammeln sich etwa 60 Karnevalisten aus den Kölner Traditionscorps vor der Synagoge. Nach einem von der Polizei unbestätigten Vorfall, bei dem ein Mann auf der Zülpicher Straße antisemitische Parolen gerufen haben soll, stellen sie sich symbolisch schützend vor die Absperrungen vor dem Gotteshaus.
„Ich bin enttäuscht von dem Vorfall“, sagt Abraham Lehrer, Vizepräsident vom Zentralrat der Juden vor Ort. Aber: „Das Festkomitee und die Traditionscorps haben heute ein wunderbares Zeichen gesetzt.“ Festkomiteepräsident Christoph Kuckelkorn sagt sichtlich bewegt: „Ich komme aus einer Generation, in der man dachte, dass dieses Schreckgespenst Antisemitismus verschwunden ist. Jetzt stellen wir aber fest, es ist noch da, und es ist groß. Da müssen wir Zivilcourage zeigen.“
An Zivilcourage denken auf der Feiermeile vermutlich die wenigsten. Die riesige Outdoorparty breitet sich nicht nur über den Aachener Weiher, sondern auch auf die Luxemburger Straße aus. Wo sie auch feiern, hinterlassen die jungen Jecken Berge an Müll: Überall fliegen leere Kurze, Becher, Plastiktüten sowie Teile von Kostümen und Jacken herum. Zerbrochene Glasflaschen pflastern die Straßen, in Hauseingängen liegt vereinzelt Erbrochenes. Der 11.11. verabschiedet sich in die Nacht.