Eineinhalb Jahre dauert es im Schnitt, bis traumatisierte Geflüchtete einen Therapieplatz bekommen.
Asylpolitik nach AttentatenEin Besuch im Kölner Therapiezentrum für traumatisierte Geflüchtete
Eins möchte Andrea Kremser, stellvertretende Leiterin des Caritas-Therapiezentrums für Menschen nach Folter und Flucht, vor dem Gespräch klarstellen: „Wenn ich über die Therapie von traumatisierten Geflüchteten spreche, geht es mir um Differenzierung.“ Ein einziges Mal sei in den vergangenen 25 Jahren die Polizei gerufen worden. „Zu uns kommen Menschen, die sehr viel Leid erfahren haben: Krieg, Folter, Gefängnis, lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer. Sie sind sehr belastet. Und sie kommen aus eigener Motivation zu uns, um ihr Leben in den Griff zu bekommen.“
Neben Kremser sitzt Tim Westerholt, bei der Kölner Caritas für Integrationsthemen verantwortlich. „In der politischen Debatte wird aktuell oft vergessen, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben“, sagt er. „Das ist zynisch und gefährdet die Errungenschaften der Demokratie.“
Während Psychotherapeutin Kremser und Westerholt in einem Besprechungsraum des Therapiezentrums in der Innenstadt von ihren Erfahrungen erzählen, wird im Bundestag über den „5-Punkte-Plan zur Migrationspolitik“ der CDU abgestimmt, der zum Beispiel Vorsorgehaft, schnellere Abschiebungen und dauerhafte Grenzkontrollen vorsieht. Der Antrag geht mit den Stimmen der AfD durch. „Der Plan widerspricht der Menschenwürde, dem Europarecht und dem Grundgesetz“, sagt Westerholt. „So eine Botschaft führt unweigerlich zu weiteren Traumatisierungen bei den Betroffenen.“
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Auslöser dafür, dass die Migrationspolitik den Bundestagswahlkampf dominiert, waren die Attentate der vergangenen Monate – mit dem tödlichen Angriff eines psychisch Kranken Afghanen in Aschaffenburg vor zehn Tagen als traurigem, vorläufigem Höhepunkt.
Geflüchtete warten in Köln eineinhalb Jahre auf einen Therapieplatz
164 Geflüchtete (72 Erwachsene und 92 Kinder) stehen momentan auf der Warteliste für eine Behandlung im Kölner Caritas-Therapiezentrum. Die Wartezeit betrage rund eineinhalb Jahre, sagt Andrea Kremser. „Wir konnten die Wartezeit etwas reduzieren, weil wir bedarfsorientiert prüfen, wem wir zunächst zumindest ein kurzzeitiges Angebot machen können.“
Von rund 9300 Flüchtlingen, die momentan in Köln registriert sind, litten „30 bis 40 Prozent unter Traumafolgestörungen – also mindestens 3000 Menschen“. Die Menschen kämen mit Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Albträumen und Flashbacks, wiederkehrenden traumatischen Erinnerungen.
„Nicht selten reagieren wir in der Beratung auf den Eindruck von Selbstgefährdung. Fremdgefährdung zeigt sich dagegen fast nie.“ Wenn diesen Menschen nicht geholfen würde, „ziehen sie sich in sich zurück – gerade alleinreisende, unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die bei Beginn der Flucht zwölf, 13 oder 14 Jahre alt waren und mit 17 hier ankommen, benötigen psychosoziale Anbindung. Fehlt diese, isolieren sie sich zunehmend – mit fatalen mentalen Folgen“.
Das Therapiezentrum kann mit rund sieben Psychotherapie-Stellen und zwei Stellen mit Schwerpunkt Sozialarbeit nur einen Teil der Menschen behandeln – trotz gut 3000 Einzelberatungsstunden im Jahr 2024. Die Therapeutinnen und Therapeuten bieten auch Sprechstunden in Geflüchteten-Einrichtungen der Caritas an. „Es gibt aber momentan in Deutschland keine funktionierende Struktur, um Traumatisierungen von Geflüchteten zu einem frühen Zeitpunkt in sämtlichen Einrichtungen festzustellen“, sagt Westerholt.
Die Stadt Köln teilt dazu mit, dass ein Team für Flüchtlingsmedizin regelmäßig in den Unterkünften vor Ort sei und Beratung bei allen medizinischen Problemen anbiete. Psychische Probleme würden oft erst spät angesprochen – bei Bedarf vermittelten die Mediziner die Menschen weiter. Heimleiter und Sozialarbeiterinnen registrierten „psychisch auffälliges Verhalten in der Regel durchaus“, ebenso Bewohner, die dann die Heimleiter informierten.
Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind Menschen ohne gesicherten Schutzstatus von psychotherapeutischen Leistungen ausgeschlossen. Das Therapiezentrum – eine freiwillige Leistung, die von Bund, Stadt und katholischer Kirche finanziert wird – kompensiert die Versorgungslücke zum Teil. Es wurde 1985 in Köln gegründet, weil traumatisierte Flüchtlinge seinerzeit gar nicht behandelt worden waren. Rund 50 ähnlich arbeitende Therapiezentren in Deutschland können den Bedarf nicht annähernd decken.
Die Bundesmittel seien bundesweit binnen zwei Jahren um 60 Prozent (von 16 auf sieben Millionen Euro für alle psychosoziale Zentren) reduziert worden, sagt Westerholt. „Im städtischen Haushalt ist die Unterstützung für 2025 in Höhe von knapp 270.000 Euro zum Glück zugesagt, für 2026 steht bereits eine leichte Kürzung fest. Die Finanzierung ab 2027 ist allerdings noch komplett unsicher. Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen dringend unsere Unterstützung. Und wir brauchen die Sicherheit zu den finanziellen Mitteln, um diese Unterstützung anbieten zu können.“
Während das Therapiezentrum immerhin einigen Hundert der traumatisierten Geflüchteten helfen kann und auch die notwendigen Übersetzungen über öffentliche Mittel sicherstellt, sei das bei Klinikaufenthalten nicht gewährleistet. Dort fehlten zu oft die Möglichkeiten der Übersetzung. „Ohne angemessene Verständigung birgt die Einweisung in eine Klinik für traumatisierte Menschen die Gefahr einer Retraumatisierung“, sagt Kremser.
Statt Leistungen wie jene des Therapiezentrums zu kürzen, bräuchten Geflüchtete „dringend eine psychosoziale Regelversorgung“, sagt Westerholt. Wenn die Unterversorgung tatsächlich Gefahr verursache, „lautet dann die Folgerung, wir machen die Grenzen dicht und stigmatisieren damit viele Menschen, die Anrecht auf Asyl haben, oder ist die Schlussfolgerung, wir müssen das Hilfesystem besser ausstatten?“ Die Caritas habe dazu „eine klare Haltung“.