Serie „Schule in Not“Schulplatz-Lotterie enttäuscht hunderte Kölner Kinder
Köln – „Die Verzweiflung war groß. Das ist ein Schicksalsschlag für ein Kind in diesem Alter.“ Arnt Kirchner glaubt, dass seine Tochter auch anderthalb Jahre nach der schmerzhaften Erfahrung immer noch unter einem angeknacksten Selbstbewusstsein leidet.
Das Mädchen hatte in der Lotterie verloren. Das Albertus-Gymnasium (AMG) in Neuehrenfeld hatte ausgelost, wer es ab dem Schuljahr 2016/17 besuchen darf. „Unsere Tochter dachte, sie sei selber schuld daran, dass sie als einzige aus ihrem Freundeskreis nicht aufgenommen wurde. Sie wollte nicht mehr zur Schule gehen, hat sich im dunklen Zimmer eingeschlossen.“
Die Kirchners wohnen gleich neben dem Gymnasium. Auch die Grundschule, in der das Kind lernte, steht gleich daneben. Doch solche naheliegenden Argumente spielen mittlerweile bei den meisten Schulen, die mehr Anmeldungen als Plätze haben, keine Rolle mehr.
„Ich weiß, dass ich Familien Schmerzen zufüge“, sagt Maria Hartmann, Leiterin des Montessori-Gymnasiums in Bickendorf, ehrlich. Das „Monte“ war eine der ersten Kölner Schulen, die vor einigen Jahren mit dem Losverfahren begonnen haben. Nur Geschwisterkinder kommen nicht in den Lostopf.
Auch für sie und ihre Kollegen sei die Zeit zwischen Anmeldung und der Entscheidung über die Aufnahme der Kinder „furchtbar“, so Hartmann. Anders könne man aber mit dem hohen Anmeldeüberschuss und der Bereitschaft der Eltern, vor Gericht zu ziehen, nicht umgehen.
Früher habe man zumindest noch Kinder von Montessori-Grundschulen bevorzugt aufgenommen. Doch auch dieses eigentlich naheliegende Kriterium sei von einem Gericht gekippt worden.
Beratungsgespräche, Besuche von Tagen der Offenen Tür, Kennenlernabende, unzählige Stunden an Debatten am heimischen Familientisch – die Entscheidung für die richtige weiterführende Schule kostet Eltern und Kindern viel Zeit und Nerven.
Weite Wege für die Schüler
Doch wozu das Ganze, wenn am Ende gelost und der Rest am grünen Tisch verteilt wird? Nach den Erfahrungen in diesem Jahr weiß man: Wenn es ganz schlecht läuft, wird das Kind sogar gegen seinen Willen auf einen langen Schulweg durch die Stadt geschickt. Von Widdersdorf nach Rodenkirchen, von Lövenich nach Mülheim – weil an Kölner Gymnasien die Plätze knapp sind, sind auch weite Wege möglich.
Die Stadt müsste mehr bauen, sie hält mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt. Doch für den Stress sorgen nicht zuletzt die Schulen selbst. Die Schulleiter sind Herren eines Aufnahmeverfahrens, das nicht einheitlich geregelt ist.
Kritierien sind nicht verpflichtend
Das Land hat ihnen recht freie Hand bei der Festlegung der Auswahlkriterien gegeben. Die Länge des Schulwegs könnte ein Kriterium sein, genauso wie die Frage, ob schon ein Bruder oder eine Schwester auf der Schule ist. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen wird empfohlen, ebenfalls die Bevorzugung von Kindern, die eine nahe gelegene Grundschule besuchen. Doch diese Kriterien sind nicht verpflichtend.
In der Ausbildungs- und Prüfungsordnung heißt es nur: „Übersteigt die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmekapazität der Schule, berücksichtigt die Schulleiterin und der Schulleiter bei der Entscheidung über die Aufnahme in die Schule Härtefälle und zieht im Übrigen eines oder mehrere der Kriterien heran.“ Anders ausgedrückt: Eines der Kriterien reicht. Danach kann gelost werden.
Intransparenz und Chaos
Weil es an jeder Schule anders läuft, viele den suchenden Eltern und Kindern die Modalitäten ihres Aufnahmeverfahren noch nicht einmal mitteilen und so schließlich vieles dem Zufall überlassen bleibt, herrschen Intransparenz und Chaos.
Noch nicht einmal die Schulaufsichtsbehörde hat einen Überblick. Die Bezirksregierung empfiehlt eigentlich ein transparentes Aufnahmeverfahren mit nachvollziehbaren Kriterien, muss aber eingestehen: „Solange sich keiner beschwert, wissen wir nichts vom jeweiligen Aufnahmeverfahren“, so Abteilungsdirektorin Christa Kuhle.
Losverfahren gilt als rechtssicher
Wenn es Einsprüche gebe, prüfe man die „Rechtssicherheit des Aufnahmeverfahrens“. Das Fazit all dieser Prüfungen angesichts einer „Klagewut der Eltern“ ist ernüchternd: Das rechtssicherste aller Verfahren ist tatsächlich das Losverfahren. Das hat absurde Folgen. Kinder aus der unmittelbaren Nachbarschaft eines Gymnasiums werden dort abgelehnt und müssen einen längeren Schulweg antreten.
Das Land könnte die Rechtslage ändern und ein einheitliches und nachvollziehbares Aufnahmeverfahren durchsetzen, indem es die verschiedenen Aufnahmekriterien in einer bestimmten Abfolge zur Pflicht macht. Das ist bislang aber offensichtlich kein Thema.
Ein anderer Hebel wäre die Einführung sogenannter Schuleingangsbezirke. Dafür wäre die Stadt zuständig, die damit bei Grundschulen viele Jahre Erfahrungen gesammelt hat. Das Recht auf freie Schulwahl war im Grundschulbereich bis 2008 faktisch abgeschafft.
Die Stadt legte fest, für welchen Einzugsbereich jede einzelne Schule zuständig ist. Eltern hatten nur noch zwei, vielleicht drei Schulen zur Auswahl – eine in Zeiten der Not naheliegende Beschränkung.
Zur Serie „Schule in Not“
Kölns Schuldezernentin Agnes Klein (SPD) hat angesichts steigender Schülerzahlen in der wachsenden Stadt den „Notstand“ erklärt. Die Stadt halte mit dem Bevölkerungswachstum nicht mit. Das fehlende Tempo beim Neubau ist nicht das einzige Problem, das zu lösen ist. Die Stadt schiebt einen Sanierungsstau vor sich her, während das Land nach Lehrern sucht. Schon jetzt fehlt es an vielen Kölner Schulen an Personal. Ungeklärt ist auch die Frage, wie die Zukunft des Lernens grundsätzlich aussieht. Über alle diese Themen wird der „Kölner Stadt-Anzeiger“ in den nächsten Wochen immer montags umfangreich berichten – ein tiefer Blick in die Kölner Schullandschaft.
Stadt und Bezirksregierung haben bei ihren Gesprächen zu den kommenden Aufnahmeverfahren über die Idee gesprochen, dies auch bei Gymnasien einzuführen – und sie dann gemeinsam verworfen.
„Der Elternwille wird zu stark eingeschränkt“, sagt die städtische Schuldezernentin Agnes Klein. Es sei „schwer vorstellbar, dass Eltern das akzeptieren“, meint auch Christa Kuhle für die Bezirksregierung. Einzelne Schulprofile würden zudem kaum noch Beachtung finden, so Klein. Außerdem sei der organisatorische Nutzen wegen der ungleichen Verteilung des Schulangebots in der Stadt zweifelhaft.
Diese Argumente für eine Beibehaltung des uneinheitlichen Aufnahmeverfahrens an den Gymnasien haben bei Kölns Gesamtschulen noch nie gegolten. Die sind auch ungleich verteilt, ihre Profile und Angebote durchaus unterschiedlich, und jedes Jahr werden Hunderte Kinder abgelehnt.
Ihnen wird noch nicht einmal eine Alternative in der gleichen Schulform angeboten. Hier wird jedoch bei den meisten Schulen recht strikt das Kriterium der Nähe von Schule und Wohnort beachtet – auch ohne offizielle Festlegung von Schuleingangsbezirken. Noch nicht einmal als Zweitwunsch hat eine weiter entfernt liegende Gesamtschule eine realistische Chance.
Ob man in Zeiten der Not nicht so auch bei den Gymnasien verfahren müsste, wird mittlerweile auch von Eltern gefragt. Allerdings äußern sich vor allem diejenigen laut, deren Kinder bei einem Losverfahren den Kürzeren zogen. So brach ein Sturm der Entrüstung los, als in diesem Jahr Kinder aus dem Kölner Westen zu weit entfernten Schulen geschickt wurden, weil in der Nachbarschaft keine Plätze mehr frei waren.
Der Vorsitzende der Stadtelternpflegschaft, Reinhold Goss, fordert, dass die Interessenvertretungen von Eltern und Schülern stärker in die Überlegungen zum Umgang mit der Krise einbezogen werden.
Vom Prinzip der freien Schulwahl möchte er sich aber nicht verabschieden. Dass so viele Kinder an einzelnen Schulen abgelehnt würden, liege vor allem daran, dass es in Köln zu wenig Schulplätze gebe. Die Stadt müsse mehr bauen und endlich Notmaßnahmen ergreifen. „Wir brauchen einen Krisengipfel!“
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Plätze an Gesamtschulen sind knapp
Die meisten Ablehnungen hat zum laufenden Schuljahr die Max-Ernst-Gesamtschule in Bocklemünd verschicken müssen: Es waren 135. Ähnlich hoch war die Zahl an der Gesamtschule Innenstadt.
Die Stadt möchte solche Zahlen eigentlich nicht mehr veröffentlichen, weil sie in der Vergangenheit als Indiz für die Beliebtheit einer Schule fehlinterpretiert wurden. Unbestritten ist aber, dass die Zahl der Ablehnungen den Bedarf an Schulplätzen in bestimmten Bereichen der Stadt beschreibt.
So fehlen nicht nur in den unterversorgten Bezirken Innenstadt und Ehrenfeld Gesamtschulplätze. Auch in Chorweiler und im Bezirk Mülheim, wo schon riesige Gesamtschulen arbeiten, wurden Hunderte Kinder abgelehnt. Insgesamt waren es bei allen Kölner Gesamtschulen 730.
Plätze an Gymnasien fehlen in vielen Vierteln
An Gymnasien gab es keine Ablehnungen. Hier erfüllt die Stadt im Gegensatz zu den Gesamtschulen zumindest den Wunsch nach der Schulform. Wenn es aber um eine bestimmte Schule geht, an der man sein Kind anmelden will, kann es unerfreulich werden.
Die Zahl der Ablehnungen belegen insbesondere in den Stadtbezirken Lindenthal, Ehrenfeld und Nippes großen Bedarf nach zusätzlichen Plätzen. In der Innenstadt, wo es aus historischen Gründen besonders viele Gymnasien gibt, ist die Lage unterschiedlich.
Während bei einzelnen Schulen nach der ersten Anmelderunde noch viele Plätze frei blieben, verschickten das Humboldt-Gymnasium, das Deutzer Gymnasium an der Schaurtestraße und die Königin-Luise-Schule Dutzende Ablehnungen.
Auch bei Realschulen gibt es Probleme
Auch bei Realschulen gab es in diesem Jahr Probleme. So konnten im Stadtbezirk Mülheim viele, in Nippes und Kalk einige Wünsche nicht erfüllt werden. In den anderen Stadtbezirken blieben dagegen Plätze frei.
Bei den Hauptschulen gibt es auch nach den vielen Schließungen der vergangenen Jahre noch ein großes Überangebot – zumindest für Fünftklässler. 147 Plätze blieben unbesetzt.
Sechs der zwölf Schulen schafften es nicht, die vom Gesetz vorgeschriebenen zwei Parallelklassen zu bilden. Zwei Schulen haben bei der Klassenbildung nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Untergrenze von 18 Schülern unterlaufen.
Stadt und Schulen verweisen darauf, dass sich in den höheren Schuljahren die Zahlen verändern, wenn Seiteneinsteiger und Schulwechsler dazu kommen.