Die Polizei sucht den Kölner Intensivtäter Alexander D. per Haftbefehl. Beim Zugriff im Agnesviertel feuert ein Beamter auf den Fliehenden.
Alle Treffer haben tödliches Potenzial. Ein Schuss geht in den Rücken und tritt am Hals wieder aus, der andere geht seitlich durch den Bauch, ein Projektil bleibt stecken und zertrümmert seinen Oberschenkelknochen.
Die Frage ist nun: Waren die Schüsse gerechtfertigt oder hat der Polizist womöglich im Übereifer die Kontrolle verloren?
Köln – In Nordrhein-Westfalen haben Polizeibeamte im vergangenen Jahr 1632 Mal ihre Pistole benutzt. In 1600 Fällen haben sie damit auf Tiere geschossen. Sechsmal auf Objekte. Lediglich 26 Mal wurde die Waffe gegen Personen eingesetzt. So heißt es in einer Statistik des Innenministeriums. Zwölfmal waren es Warnschüsse, einmal wurde auf ein Auto mit Insassen gezielt, 13 Mal auf Tatverdächtige geschossen. Einer von diesen wenigen war der Kölner Alexander D..
Der damals 19-Jährige wird als Intensivtäter geführt. Im Oktober 2018 soll er an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt gewesen sein. Die Polizei sucht D. mit Haftbefehl. Am 10. Juli 2019 haben sich die Zivilfahnder deshalb in der Nähe der elterlichen Wohnung im Agnesviertel für den Zugriff postiert. Doch die Festnahme misslingt. D. türmt und verschanzt sich nach kurzer Verfolgungsjagd in einem Getränkemarkt. Dann geht alles ganz schnell. D. will erneut fliehen, ein Beamter schießt ihn von hinten nieder. Fünf Mal drückt er ab. Drei Mal trifft er den jungen Mann.
D. hat Anzeige gegen den Polizisten erstattet. Die Frage ist: Waren die Schüsse gerechtfertigt oder hat der Schütze womöglich im Übereifer die Kontrolle verloren? „Wir wollen, dass ein unabhängiger Prozess klärt, ob der Beamte korrekt gehandelt hat oder nicht“, sagt D.“ Anwalt Arno Dhein.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit wegen Körperverletzung im Amt, weist aber darauf hin, dass die rechtliche Einordnung noch nicht abgeschlossen sei. Am Ende könnte demnach auch eine Anklage wegen eines versuchten Tötungsdelikts stehen. Aber auch eine Einstellung des Verfahrens komme in Betracht, sollte die Behörde zu dem Ergebnis kommen, dass der Beamte verhältnismäßig gehandelt hat. Letzteres behauptet der Anwalt des Schützen gegenüber der Staatsanwaltschaft. Auf eine Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ will er sich nicht äußern. Im vergangenen Jahr führte die Kölner Staatsanwaltschaft 295 Verfahren gegen Polizeibeamte wegen Verbrechen und Vergehen im Amt. An einen Fall wie diesen allerdings, könne er sich nicht erinnern, sagt ein erfahrener Kölner Ermittler.
„Ich wäre fast gestorben“, sagt D.. Ein Jahr nach den Schüssen sitzt er auf dem Sofa im Wohnzimmer und zeigt seine Narben. „Er ist nicht mehr derselbe“, sagt Vater Maik. Er habe seinen Pasta-Laden verkauft, um die Anwaltskosten decken und sich um Alexander kümmern zu können. „626 hat unser Leben zerstört.“ Der Vorfall vom 10. Juli 2019 und das Verhalten des Beamten, der in der Akte zum Schutz der Identität nur 626 heißt – es gibt nichts, das diese Familie in den vergangenen Monaten häufiger beschäftigt zu haben scheint. Der „Spiegel“ hat vor kurzem eine große Geschichte über den Fall veröffentlicht.
Er könne kaum noch schlafen. Flashbacks suchten ihn heim, immer wieder denke er daran: Er rennt davon, 626 feuert. Ein Schuss geht in den Rücken und tritt am Hals wieder aus, der andere geht seitlich durch den Bauch, ein Projektil bleibt stecken und zertrümmert seinen Oberschenkelknochen. D. geht neben der Kasse des Getränkehandels zu Boden, in dem sich zu diesem Zeitpunkt auch mehrere Unbeteiligte aufhalten. Um ihn herum bildet sich eine Blutlache. Ein rechtsmedizinisches Gutachten besagt: Alle drei Treffer hatten das Potenzial, den jungen Mann zu töten.
Alexander D. kommt gerade aus der psychologischen Tagesklinik, die er seit seiner Entlassung aus der U-Haft im November 2019 immer wieder besucht. Gesprächs- und Ergotherapie von acht bis 16 Uhr, Medikamente gegen die immer wieder aufflackernde Depression.
Bei Menschen, die so aussehen wie D., fällt es schwer zu glauben, dass irgendwas sie brechen könnte: Ein muskelbepackter Koloss, 1,84 Meter groß, das Haar kurz geschoren, Kampfsportler seit seiner Kindheit, die Liste der Vorstrafen ist lang. „Mir geht es beschissen, ich bin ein seelisches Wrack“, sagt er.
Gewisse Freiheit bei der Benutzung der Dienstwaffe
Die Familie zweifelt am Aufklärungswillen der Ermittlungsbehörde. Auch der Statistik wegen. Etwa 98 Prozent aller Verfahren gegen Polizeibeamte wegen Gewaltausübung werden laut einer Studie der Uni Bochum eingestellt. Das Polizeigesetz des Landes NRW lässt den Beamten für die Benutzung ihrer Dienstwaffe eine gewisse Freiheit. Der Paragraf 64, der den Schusswaffengebrauch gegen Personen regelt, sieht vor, dass ein Polizist feuern darf, um eine Person anzuhalten, die sich durch Flucht der Festnahme zu entziehen versucht und wenn sie eines Verbrechens dringend verdächtig ist. Tödliche Schüsse seien nur im Falle einer lebensbedrohlichen Situation abzugeben. Ansonsten, so lautet die Vorgabe, solle auf die Beine gezielt werden.
Die Akte zu den Schüssen auf D., die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ einsehen konnte, wirft zahlreiche Fragen auf. Zu lesen ist etwa, dass der Beamte noch vor dem Zugriff Verstärkung gerufen hatte. Warum er nicht auf die Unterstützung gewartet hat, bleibt indes unklar. Ein Video einer Überwachungskamera zeigt zudem, dass der Beamte die Waffe – eine Walther P99, Kaliber neun Millimeter – bereits bei der Verfolgung gezogen hatte. Nachdem Beamter 626 D. im Kühlhaus im Hinterhof des Getränkemarkts gestellt hatte, trafen zwei weitere Polizisten zur Unterstützung ein. „Leg“ dich auf den Boden, du Wichser“, soll der Beamte laut Zeugenaussagen gebrüllt haben.
Einem Vermerk zufolge soll 626 unmittelbar nach dem Geschehen behauptet haben, dass ihm D. mit einem schwarzen Gegenstand entgegengesprungen sei, der offenbar einer Waffe ähnelte. Seine Kollegen konnten das nicht bestätigen. Später räumt er laut Akte ein, dass D. mit den Armen hinter dem Kopf aus dem Kühlhaus gekommen sei, sich dann aber erneut zur Flucht entschlossen habe. Demnach sei D. losgelaufen, obwohl 626 die Waffe und eine Kollegin das Pfefferspray auf ihn gerichtet hatten. Dann drückte der Beamte aus nächster Nähe ab. Auch einen Warnschuss hatte es offenbar nicht gegeben. Sogar eine Kollegin habe sich laut Akte „überrascht“ gezeigt, als der erste Schuss fiel.
Da D. zunächst weitergelaufen sei und er nicht habe erkennen können, ob er ihn getroffen hatte, habe er weitergefeuert, gibt 626 zu Protokoll. Auch bei der Reihenfolge, in der die Projektile sich in D.“ Körper bohrten, gibt es widersprüchliche Aussagen. In einem Schreiben behauptet der Anwalt von 626, dass der erste Schuss ins Bein ging. D. dagegen beteuert, der Schütze habe ihn zunächst zwei Mal am Oberkörper getroffen. Erst der letzte Schuss in den Oberschenkel habe ihn zu Boden gebracht.
„Für andere war ich der Assi“
D. hat die Kölner Polizei in der Vergangenheit oft beschäftigt. Gefährliche und schwere Körperverletzungen, Sachbeschädigung, Nötigung, Beleidigungen. Bei seiner ersten Tat ist er gerade 13 Jahre alt. Immer wieder kommt er vor Gericht und immer wieder mit Bewährung oder anderen Auflagen davon. Er gilt als gewaltbereit.
„Für andere war ich der Assi“, sagt D.. „Ich konnte schneller und härter zuschlagen als die anderen. Irgendwas hat mir das gegeben“, sagt er. In der Schule ging es ebenfalls abwärts, vom Gymnasium auf die Förderschule. Am Ende schaffte er noch den Realschulabschluss.
Die Polizei ist für D. über die Jahre zum Feind geworden. Er spricht von Demütigungen, Beschimpfungen. Schikane. Es sei völlig richtig, dass man in Deutschland nun endlich auch über ausufernde Polizeigewalt spreche, sagt Vater Maik. Sein Sohn sei nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Seine Verachtung für die Polizei hat sich Alexander D. als Code in den Nacken tätowieren lassen. „1312“ ist da zu lesen. Die Ziffern stehen für einzelne Buchstaben des Alphabets. Zusammen ergibt das „ACAB“. All cops are bastards. Alle Polizisten sind Bastarde.
„Mein Sohn ist sicher kein Engel“, sagt Vater Maik. „Aber er war auf einem guten Weg.“ Er habe eine Ausbildung zum Kinderpfleger beginnen wollen, weg von der Straße, die kriminelle Jugend hinter sich lassen. An dem Raubüberfall, der damals Grund für den Zugriff war, sei er nicht beteiligt gewesen, behauptet Alexander D.. Die Polizei dagegen ist sicher, dass er im Oktober 2018 mit zwei Komplizen einen Drogendealer in dessen Wohnung überfallen und etwa zwei Kilogramm Marihuana sowie 320 Euro Bargeld erbeutet hatte. D. sagt, er kenne den Mann. Er ging früher mit ihm zur Schule und ist obendrein ein Nachbar. Der Prozess steht noch aus.
Alexander D. hat vor einigen Tagen Geburtstag gefeiert. 21 Jahre alt ist er geworden. Wie es mit seinem Leben weitergehen soll, könne er nicht sagen. Er hofft, dass es zum Gerichtsverfahren kommt. Zudem habe er den Wunsch, einmal persönlich mit 626 zu sprechen. „Ich möchte einfach von ihm hören, warum er das getan hat.“