Köln – Die Aufhebung eines Strafurteils zum Einsturz des Stadtarchivs könnte sich sich zu einem Justiz-Skandal ausweiten. Womöglich sehenden Auges haben Verwaltungsmitarbeiter des Kölner Landgerichts das Mammut-Verfahren mit 49 Verhandlungstagen und 79 Zeugen riskiert, indem sie dem Vorsitzenden Richter Michael Greve die Genehmigung für eine Zeugenaussage in einem ähnlichen Verfahren erteilt haben. Laut Bundesgerichtshof (BGH) war Greve damit für seinen eigenen Prozess verbrannt.
Stadtarchiv-Richter als Zeuge im Parallelprozess gehört
Greve hatte zu einem Zeitpunkt im Parallelprozess um fahrlässige Tötung – zwei Männer starben bei dem Einsturz im März 2009 – gegen einen Oberbauleiter ausgesagt und Eindrücke geschildert, als er sein bereits mündlich gesprochenes Urteil von acht Monaten auf Bewährung gegen einen Bauüberwacher der Kölner Verkehrs-Betriebe noch nicht schriftlich verfasst und unterschrieben hatte. Greve schrieb das Urteil zwar dann noch, es war aber wertlos, wie der BGH entschied.
„Der Vorgang ist ausgesprochen bedauerlich“, teilt Landgerichtssprecher Jan F. Orth auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit. Richter Greve träfe hier keine Schuld, aufgrund der erteilten Genehmigung seien er und auch zwei beisitzende Richter verpflichtet gewesen, in dem zweiten Stadtarchiv-Verfahren als Zeugen auszusagen. „Ob die Richter in dieser Konstellation vor der anderen Kammer aussagen können, war bis zur jetzigen BGH-Entscheidung eine offene Rechtsfrage“, so Orth.
Kölner Strafverteidiger widerspricht dem Landgericht
Und diese „offene Rechtsfrage“, erklärt Sprecher Orth, sei „hier seinerzeit mit guten Gründen anders beurteilt worden“. „Insoweit sind wir heute sehr davon überrascht, dass der BGH sie in die andere Richtung entschieden hat. Damit war so nicht zu rechnen.“ Dem widerspricht der bekannte Kölner Strafverteidiger Sebastian Schölzel, der auch in der Juristenausbildung tätig ist: „Von einer Überraschung kann hier keine Rede sein, die Aufhebung des Urteils musste befürchtet werden.“
Laut Strafprozessordnung ist ein Richter von seinem Verfahren ausgeschlossen, wenn er in der gleichen Sache als Zeuge vernommen wird. Offenbar ging das Landgericht davon aus, dass dies nach der mündlichen Verkündung des Urteils nach Paragraph 338 Nr. 2 obsolet sei. Doch Nr. 7 ziele auf die schriftliche Begründung ab. Und die konnte der Richter dann nicht mehr rechtswirksam unterschreiben. „Paragraphen sollte man immer bis zum Ende lesen“, so Anwalt Schölzel scherzhaft.
Richter habe unfreiwillig sein eigenes Verfahren zerstört
„Dieses Dilemma hätte das Landgericht leicht vermeiden können“, sagt Schölzel. So hätte es gereicht, wenn nur ein Richter aus Greves Strafkammer als Zeuge ausgesagt hätte, die anderen beiden hätten das Urteil dann noch immer absetzen dürfen. Auch hätte man mit der Zeugenvernehmung im Parallelverfahren noch etwas warten können – auch wenn hier Zeitdruck wegen drohender Verjährung herrschte. Der Leidtragende sei nun vor allem Richter Michael Greve.
„Der Richter wurde von seinen Kollegen in den Zeugenstand gezerrt und musste unfreiwillig an der Zerstörung seines eigenen Verfahrens mitwirken“, bewertet Schölzel den Vorgang. „Das ist tragisch und skandalös zugleich.“ Umso mehr wird es Greve ärgern, dass das Urteil im Parallelverfahren – ein Jahr Haft auf Bewährung für den Oberbauleiter – aufgrund von Widersprüchen ebenfalls aufgehoben wurde. Seine erzwungene Zeugenaussage war somit letztlich auch weitgehend wertlos.
Angehöriger eines Opfers will endlich Gewissheit
„Das macht mich wütend“, sagt Marvin Pagel (19), der Bruder des beim Einsturz des Stadtarchivs getöteten Bäckerlehrlings Kevin Koster. Denn alles auf Anfang heißt es nun, auch mehr als 13 Jahre nach der Katastrophe steht kein Schuldiger fest.
Das Landgericht muss nun kostspielig gegen vier Personen neu verhandeln, denn auch zwei Freisprüche hatte der BGH kassiert. Nebenkläger Pagel: „Ich will niemanden hinter Gittern sehen, ich möchte nur endlich Gewissheit und einen Abschluss.“