- Die vierjährige Paula lächelt viel, doch das heißt nicht, dass sie besonders glücklich ist. Paula fehlt ein Stück des 15. Chromosoms.
- Paula hat das „Angelman-Syndrom“. Rund 5000 Menschen in Deutschland sind davon betroffen. Nur wenige der betroffenen Kinder können einzelne Wörter sprechen.
- Der 15. Februar ist der internationale Tag des Angelman-Syndroms. Manche Gebäude in der Region werden an diesem Tag blau beleuchtet. Markante Gebäude in Köln zählen nicht dazu.
Köln – Als Paula nach der Geburt viel schreit und wenig schläft, stellt der Kinderarzt eine Saugschwäche fest. Die Eltern freuen sich, dass Paula früh anfängt zu lächeln. Als sie mit einem halben Jahr weder brabbelt noch versucht sich zu drehen, wundern sich Jutta Kühle und Paul Fürhoff: Die Eltern haben beide Sport studiert und sind motorisch nicht unbegabt.
Die eingeschränkte Beweglichkeit könnte an einer blockierten Wirbelsäule liegen, mutmaßt eine Physiotherapeutin und rät den Eltern eine Behandlung bei einem Osteopathen.
Helle Haut, blondes Haar, kleine Hände und Füße
Als keine Besserung eintritt, beginnen die Eltern, zu recherchieren. Paula hat sehr blondes Haar, sehr helle Haut, kleine Hände und Füße sowie einen verhältnismäßig großen Mund. Sie hat früh begonnen, zu lächeln, und lächelt oft. Sie schläft schlecht und hat regen Speichelfluss.
Bei der Suche im Internet findet Jutta Kühle heraus: Sämtliche Symptome treffen auf das Angelman-Syndrom zu, eine meist schwere Mehrfachbehinderung, die der britische Kinderarzt Harry Angelman im Jahr 1965 erstmals beschrieb und „Happy-Puppet-Syndrom“ nannte, weil die Kinder fröhlich wirkten und sich ein bisschen wie Marionetten bewegten.
Paula ist gerade ein Jahr alt, als Ärzte des Kinderkrankenhauses an der Amsterdamer Straße den Verdacht der Eltern nach einer Messung der Hirnaktivität und einem genetischen Test bestätigen: Auf dem 15. Chromosom der mütterlichen Gene fehlt ein Stück, auf dem eigentlich ein Protein angesiedelt ist, das unentbehrlich ist für eine gesunde Hirnfunktion: Es trägt dazu bei, dass sich Hirnzellen miteinander verknüpfen, wichtige von unwichtigen Reizen unterschieden werden können.
Teil des 15. mütterlichen Chromosoms fehlt
Menschen wie Paula, denen das Protein des 15. mütterlichen Chromosoms fehlt, zeigen bei der Geburt in der Regel keine Auffälligkeiten. Nach einigen Monaten bekommen viele Kleinkinder mit Angelman-Syndrom epileptische Anfälle. Sie sind leicht erregbar, nicht selten hyperaktiv, schlafen schlecht und können sich schlecht konzentrieren. Viele der Kinder leiden unter Gleichgewichtsstörungen, einige lernen nie zu laufen. Nur wenige Kinder mit dem Gen-Defekt, von dem in Deutschland Schätzungen zufolge rund 5000 Menschen betroffen sind, können einzelne Wörter sprechen.
Das Leben der Kölner Familie, die in Niehl lebt, ist komplett auf Paulas Bedürfnisse und Einschränkungen ausgerichtet. Zwar hat sie an sich keine geringere Lebenserwartung, da sie aber keine Gefahren kennt und ihr Schmerzempfinden gering ist, „können wir Paula keine Sekunde aus den Augen lassen“, sagt Paul Fürhoff. Paula klettert auf Esstisch oder Herd, reißt Sachen aus dem Regal oder greift in den gerade aufgebauten Legoturm ihres Bruders Kalle. Wenn der sie wütend an den Haaren zieht, macht Paula das nichts aus – sie scheint es kaum zu spüren.
Eher nicht besonders glücklich
Den Reporter lächelt sie so an wie den Fotografen, dreht sich immer wieder im Kreis, stapft mit abgehackten Bewegungen durch die Wohnung, fasst Kamera, Rucksack und Jacke an, lacht manchmal so lange und energisch, dass man ein wenig Sorge bekommt. Man wisse nicht, ob Angelman-Kinder tatsächlich besonders glücklich sind, sagt Christine Makowski, Oberärztin für Neuropädiatrie an der München Klinik Schwaben. Eher sei das nicht so. „Die Kinder sind einfach sehr liebenswert und bekommen viel positives Feedback, weil sie fröhlich wirken. Einige Lachen aber auch bis zum Umfallen und finden da nicht mehr heraus.“
Paula schläft sehr unruhig und ist nachts oft wach. Vater und Mutter schlafen deswegen im Wechsel bei ihr. Sie lässt sich nicht die Zähne putzen, an Zahnarztbesuche ist kaum zu denken. Wenn nur ein Elternteil zu Hause ist und mal auf die Toilette muss, muss Paula in einem gesicherten Bereich sein. „Viele Lebensträume funktionieren in so einer Konstellation nicht mehr“, sagt Jutta Kühle. „Wir sind in ständiger Hab-Acht-Stellung und eigentlich nicht mehr gesellschaftsfähig.“
„Wir fallen aus jedem Raster“
Besuche mit Freunden, die auch Kinder haben, hätten sie sich weitgehend abgewöhnt. Es müssten schon sehr enge Freunde sein: „Denen klar ist, dass man sich nicht mal normal für ein oder zwei Stunden unterhalten kann.“ Inzwischen, sagt Kühle, sehe sie das allerdings nicht nur negativ: „Dadurch, dass wir aus dem Raster fallen, müssen wir uns auch nicht mehr anpassen. Viele Etiketten und Pflichtbesuche fallen für uns weg.“
Vater und Mutter sind anfangs unterschiedlich mit der Diagnose umgegangen. „Während ich von Tag zu Tag geschaut habe und mich nicht zu viel damit beschäftigen wollte, was vielleicht in ein paar Jahren ist, hat Jutta angefangen, akribisch zu recherchieren“, sagt Paul Fürhoff. Trotzdem seien sie beide erst nach und nach in die Rolle hineingewachsen. „So geht es wohl jedem, der ein Schicksal oder eine schwere Veränderung in seinem Leben verarbeiten muss.“
Schauspieler Jürgen Vogel unterstützt Kampagne
Eine Ärztin habe ihr gesagt: „Entweder Sie akzeptieren die Behinderung ihrer Tochter, oder sie werden daran zugrunde gehen“, erinnert sich Jutta Kühle. „Ich wollte beides nicht. Daher habe ich alles gelesen, was es zu dem Thema gibt – vor allem Studien aus den USA und medizinische Publikationen.“ Sie begann, sich in einem Verein für Angehörige von Betroffenen des Angelman-Syndroms zu engagieren und gewann den Schauspieler Jürgen Vogel für eine Kampagne. Und sie erfuhr, dass es Hoffnung gibt: Es gibt eine Therapiemöglichkeit, mit der das fehlende Stück des 15. Chromosoms der Frau ersetzt werden könnte, in dem die entsprechende Erbgutinformation auf dem gleichen Chromosom des Mannes reaktiviert wird.
Klinische Studien an Tieren haben enorme Erfolge gezeigt, auch erste Studien am Menschen sind viel versprechend: Die kognitiven Fähigkeiten der Kinder werden stark verbessert, auch die Nervenübertragung zum Sprachzentrum funktionierte besser. Die gleiche Methodik wird bei spinalen Muskelatrophien bereits eingesetzt. „In den kommenden fünf Jahren könnte es einen Durchbruch geben“, hofft Kinderärztin Makowski.
Gebäude werden blau angestrahlt
Paulas Familie lebt darauf hin. Paul Fürhoff hat das Erzbistum Köln gefragt, ob der Dom am 15. Februar, der wegen des defekten 15. Chromosoms zum Internationalen Tag des Angelman-Syndroms erkoren wurde, blau angestrahlt werden könnte, um auf die Krankheit aufmerksam zu machen. Das Bistum habe mit dem Hinweis abgelehnt, sehr viele ähnliche Anfragen zu erhalten und den Dom nicht jeden Tag in anderem Licht erscheinen lassen zu können. Auf eine Anfrage bei der Verwaltung des Rhein-Energie-Stadions erhielten die Eltern keine Antwort.
Das Riesenrad am Wiener Prater leuchtete im vergangenen Jahr in blau – in der Folge berichteten viele Medien über das Angelman-Syndrom. Am 15. Februar 2022 leuchten nur die Siegener Stadtmauer, ein Theater und die Kinderklinik in Siegen, die Kirchen und ein Museum in Neunkirchen und ein paar andere unbekannte Gebäude blau. „Wir brauchen einfach mehr Öffentlichkeit“, sagt Jutta Kühle. Je mehr Menschen von der Krankheit wüssten, desto mehr werde geforscht – desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder wie Paula bald erfolgreich behandelt werden können.