Berivan Aymaz, Vizepräsidentin des NRW-Landtags, über das Ansehen Deutschlands im Ausland, die Kölner Großdemos und Pöbeleien der AfD im Landtag.
Proteste gegen Rechtsextremismus„Ich werde gefragt: Seid ihr überhaupt noch sicher in Deutschland?“
Frau Aymaz sind eng vernetzt mit Menschen in Köln, die eine Zuwanderungsgeschichte haben. Was haben die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus bei ihnen bewirkt?
Berivan Aymaz: Die Recherchen von „Correctiv“ haben viele Menschen zunächst in eine Schockstarre versetzt. Ich habe Nachrichten bekommen, in denen es hieß: Ich überlege mir jetzt einen Plan B. Wo wandere ich aus, wie organisiere ich das, wie mache ich das mit meinen Kindern? Als sich dann aber so schnell die Demokratie-Proteste formierten, gerade auch in Köln, haben Menschen mit Migrationsgeschichte zu mir gesagt: Ich war schon lange nicht mehr so stolz auf dieses Land. Diese Demos senden ein ganz wichtiges Zeichen an alle, die von Rechtsextremismus und völkischen Ideen besonders betroffen sind.
Was die „Remigrations“-Pläne der Rechtsextremen angeht, können Sie sich trotz Ihres deutschen Passes mitgemeint fühlen. Was macht das mit Ihnen?
Unabhängig davon, dass ich mit gemeint bin, erschüttert es mich. Das Treffen hat den hohen Grad an Vernetzung der Rechtsextremisten deutlich gemacht – bis in die finanzstarke Unternehmerlandschaft. Diese Netzwerke sollten wir in Zukunft viel stärker beleuchten, die Finanzströme unter die Lupe nehmen. Ohne das Kapital könnten sich die Akteure gar nicht in dieser Wucht organisieren und stärken.
Eine staatliche Aufgabe. Und eine journalistische. Ohne Journalisten wäre dieses Treffen nie öffentlich geworden.
Das war eine journalistische Meisterleistung, vor der ich großen Respekt habe. Journalismus ist eine wichtige Säule unserer demokratischen Verfasstheit. Bei dem Geheim-Treffen in Potsdam ging es zentral um die Pläne zur millionenfachen Deportation von Menschen, unabhängig von ihrem Pass oder der Frage, wo sie geboren worden sind.
Mir ist es aber wichtig, noch einmal deutlich zu machen, dass es bei dem Vernetzungs-Treffen im Endeffekt um die Abschaffung unseres pluralistischen demokratischen Systems, die Abschaffung der Meinungsfreiheit ging. Somit sind wir alle Demokratinnen und Demokraten betroffen von diesen hochgefährlichen Plänen.
Nimmt das Image Deutschlands Schaden – ausgerechnet in einer Zeit, in der wir dringend Fachkräfte aus anderen Ländern benötigen, um unseren Wohlstand zu sichern?
Ja, aber das ist nicht erst seit dem Geheimtreffen in Potsdam so. Die Umfragewerte der rechtsextremen AfD und die Zunahme antidemokratischer Einstellungen sind schon länger bekannt und lösen auch bei Menschen im Ausland Sorge aus. Freundinnen und Freunde, zum Beispiel aus der Türkei, fragen mich: Seid ihr überhaupt noch sicher in Deutschland? Im Ausland existiert teilweise eine noch viel verschärftere Vorstellung von einer akuten Bedrohung. Das hält potenzielle Fachkräfte sicher davon ab, in Deutschland eine Perspektive für sich zu entwickeln. Schon jetzt erleben wir, dass Fachkräfte, die herkommen, nicht lange bleiben.
Ihre Kollegin Muterem Aras, Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg, hat erzählt, ihre ersten rassistischen Erfahrungen im Landtag gemacht zu haben. Sie erhält Hassmails und Morddrohungen. Was erleben Sie?
Mich erreichen ebenfalls Hass-Mails, sogar handgeschriebene Briefe voller ungeheuerlicher Gewaltandrohungen. Ich hatte meine erste Erfahrung mit Rassismus aber nicht erst im Landtag. Alltagsrassismus erlebt man in Deutschland leider schon sehr früh und breit, wenn man eine „andere“ Hautfarbe oder einen „fremd“ klingenden Namen hat. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich mit meinen Eltern nach Köln gezogen bin und wir auf Wohnungssuche waren. Meine Mutter rief eine potenzielle Vermieterin wegen ihres Inserats an. Man sagte ihr, die Wohnung sei schon vergeben. Eine gute Familienfreundin rief mit ihrem deutschen Namen ebenfalls an und bekam sofort einen Termin. Sie hat uns dann mitgenommen. Am Ende bekamen wir die Wohnung – immerhin.
Das könnte 2024 auch so passieren.
Definitiv. Aber glücklicherweise haben wir inzwischen mit dem Antidiskriminierungsgesetz ein wirksames Instrument dagegen.
Welche Erfahrungen machen Sie als Landtagspräsidentin im positiven Sinne?
Für mich ist es ein Privileg, in diesem Hohen Haus arbeiten zu dürfen, der Herzkammer der Demokratie. Ich habe Freundinnen und Freunde, unter anderem aus der Türkei, die gewählt worden sind, aber heute im Gefängnis sitzen. Mit Blick auf die weltweiten Entwicklungen ist parlamentarische Demokratie, also dass ich mein Amt frei ausüben kann, keine Selbstverständlichkeit. Ich bin viel an Schulen unterwegs und erlebe oft, mit welch großen und stolzen Blicken schon kleine Kinder gucken können. Vor Kurzem habe ich bei einem Besuch in einer Grundschule in Wesseling davon erzählt, dass ich erst als Kind nach Deutschland gekommen bin und bei mir zuhause auch andere Sprachen gesprochen werden. Da haben ganz viele Kinder aufgezeigt oder reingerufen: Frau Aymaz, ich bin auch nicht hier geboren. Plötzlich ist diese Biografie nicht defizitär, sondern etwas Schönes. Und die Kinder erleben: man kann stolz sein, von zu Hause aus mehrere Sprachen zu sprechen. Diese stärkenden Momente finde ich jedes Mal überwältigend.
Sie sind 1972 in der Türkei geboren worden und mit sechs nach Deutschland, mit acht Jahren nach Köln gekommen. Ihr erster Eindruck von Deutschland?
Es war Winter, alles war sehr vereist. Ich habe das erste Mal in meinem Leben beleuchtete Bäume gesehen, dann die Weihnachtsmärkte, überall leuchteten die Schaufenster. Da dachte ich: Wow, das ist Deutschland. Ich musste leider feststellen, dass die Bäume und Märkte nicht immer da sind. Aber das ist eine sehr prägende und schöne Erinnerung. Bis heute muss für meine Familie ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt unbedingt sein.
Als Sie in die Schule kamen, sprachen Sie kein Wort Deutsch, konnten noch nicht einmal nach der Toilette fragen. Wie war diese erste Zeit für Sie?
Nicht leicht. Ich finde, wir sprechen auch zu wenig über die Perspektive der Kinder, die hier ankommen. Ich kam mitten im Schuljahr an. Ich kann mich noch sehr genau an Momente erinnern, wo ich einfach nur schweigend in die Augen der Mitschüler geschaut habe und versucht habe, irgendwas zu verstehen.
Was hat Ihnen geholfen?
Die Mutter einer Mitschülerin hatte mitbekommen, dass da ein Mädchen kein Deutsch spricht. Sie hat es geschafft, Kontakt zu meinen Eltern aufzunehmen und hat mich dreimal in der Woche nach der Schule mit nach Hause genommen hat. Und an den übrigen Tagen ist ihre Tochter Tanja zu mir nach Hause gekommen. Somit hatte ich sehr schnell über die Schule hinaus die Möglichkeit, in der Freizeit Deutsch zu sprechen, mit einem deutschen Kind die Zeit zu verbringen. Die Mutter hat mir auch aktiv Deutsch beigebracht. Ich kann mich noch an das Buch mit den Bildern erinnern: Apfel, Katze, Maus, Hund. So habe ich angefangen, Deutsch zu lernen und bis heute weiß ich, wie bedeutend solche Begegnungen sind.
Sie sind seit 2017 Mitglied des Landtags, seitdem ist auch die AfD im Landtag. Seitdem, so berichten viele, hat sich die Atmosphäre verändert.
Als ich in den Landtag einzog, war ich damals auch noch die ich flüchtlingspolitische Sprecherin meiner Fraktion. Eine Frau mit „fremdklingendem“ Namen und dunklen Haaren, Feministin, Menschenrechtlerin und Sprecherin für Flüchtlingspolitik der Grünen.
Das Feindbild par excellence.
Genau. In der Wahlperiode war ich sehr stark Zielscheibe der AfD-Fraktion. Es wurde unfassbar viel gepöbelt, wenn ich zum Rednerpult gegangen bin. Aber es gab auch sehr merkwürdige Begegnungen im Haus selbst, wo plötzlich ein Abgeordneter der AfD glaubte, immer wieder vor mir hin und her springen und mir den Weg versperren zu müssen. In der Wahlperiode vor dem Einzug der AfD wurden im Landtag rund 20 Rügen ausgesprochen, in der Wahlperiode ab 2017 dann 113 Ordnungsmaßnahmen, ein Großteil davon für die AfD.
Was kann zu einer Rüge führen?
Ich finde eine Streitkultur sehr wichtig. Das gehört zu unserer lebendigen Demokratie. Aber persönliche verunglimpfende Äußerungen gehen gar nicht oder sexistische Bemerkungen oder Aussagen, die die Würde des Menschen verletzen. Alle müssen uneingeschüchtert ihre Meinung sagen können. Und die Würde des Hauses darf nicht beschädigt werden.
Ihr Kollege und Landtagspräsident André Kuper sagt, dass die Rügen von der AfD wie Trophäen gesammelt worden seien. Jetzt soll einmaliges Pöbeln 1000 Euro kosten, beim zweiten Mal werden 2000 Euro fällig. Das Geld soll direkt von der Diät abgezogen werden. Wie optimistisch sind Sie, dass das Wirkung zeigt?
Tatsächlich wurden Rügen immer wieder provoziert und die AfD versucht auch sehr intensiv, diese Geschehnisse über die sozialen Netzwerke für sich zu nutzen. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit dem Ordnungsgeld jetzt ein Instrument haben, das direkt im Geldbeutel zu spüren sein wird.
Aktuell wird über ein Verbot der AfD diskutiert. Wie stehen Sie dazu?
Unsere Demokratie muss sich mit allen Mitteln gegen ihre Feinde verteidigen. Wir dürfen uns dabei nicht nur auf die Verbotsmaßnahme fokussieren, die Jahre dauern könnte – und im Fall einer Umsetzung unbedingt rechtssicher sein müsste.
Was muss nach den Demonstrationen passieren?
Das fragen sich jetzt in der Tat sehr viele Menschen. Mit den flächendeckenden Demonstrationen von hunderttausenden Menschen ist bereits ein sehr wichtiges Zeichen gesetzt worden. Die Narrative der AfD, dass sich die Mehrheit der Menschen in diesem Land nicht gehört fühlt, ist widerlegt. Die Mehrheit der Menschen in diesem Land steht für unsere demokratischen Errungenschaften und gegen die menschenverachtenden Ideologie der AfD. Ich hoffe, dass diese Demonstrationen alle ermutigt haben, wachsam zu bleiben, überall die Stimme gegen Hass und Hetze zu erheben, sich zu vernetzen, zu organisieren und unsere pluralistische Demokratie zu verteidigen und weiter zu gestalten.
Welche Verantwortung hat die Politik?
Die Politik muss sich viel tiefer auch mit den Inhalten der AfD auseinanderzusetzen, sie viel intensiver entlarven, ihre Widersprüche stärker in die Öffentlichkeit zu tragen.
Der Bundestag hat jetzt einer Reform zugestimmt, die Einbürgerungen vereinfachen und doppelte Staatsbürgerschaften ermöglichen soll. Eine gute Nachricht?
Auf jeden Fall. Ich hoffe sehr, dass Menschen jetzt mehr Interesse daran zeigen, sich einbürgern zu lassen, denn damit ist unfassbar viel verbunden. Man kann wählen gehen und gewählt werden. Die praktische Teilhabe an politischen Debatten und am Leben in wird dadurch stärker ermöglicht.
Sie mussten sich mit 27 Jahren für den deutschen und gegen den türkischen Pass entscheiden.
Diese Entscheidung fiel mir nicht so schwer. Meine Eltern haben den deutschen Pass aber noch nicht. Für sie war die Frage der Staatsangehörigkeit immer eng mit ihrer persönlichen Geschichte und kurdischen Identität verbunden. Und diese wollten sie nicht ablegen. Sie sind hochpolitische Menschen, hatten aber nie die Möglichkeit, hier wählen zu gehen. Und das, obwohl ihre eigene Tochter Politikerin ist. Für diese Generation von Menschen freue ich mich ganz besonders. Ich finde die Idee einer Mehrstaaten-Angehörigkeit sehr sympathisch. Wir leben heute in einer anderen Welt, in einer modernen Einwanderungsgesellschaft. Die Menschen haben nicht nur noch eine Identität.
Sie standen bei der Kölner Großdemo mit 70.000 Menschen, die gegen Rechtsextremismus, Hass und Hetze protestiert haben, auf der Bühne. Wie blicken Sie darauf zurück?
Es war unfassbar beeindruckend zu sehen, wie bereits Zehntausende an der Deutzer Werft standen, aber immer noch Menschen über die Brücken strömten. Eine unfassbar lebendige, starke Stimmung – das macht Mut.
Was wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?
Ich fand es stark, dass das Festkomitee Kölner Karneval einen Karnevalswagen als Kulisse gestellt hat, mit einer sehr eindeutigen Botschaft gegen Rechtsextremismus. Der Karneval erreicht die breite Gesellschaft. Dass Herr Kuckelkorn, der gerade seinen Vater verloren hat, trotzdem auf der Bühne stand und auch für seinen Vater gesprochen hat, fand ich sehr bewegend. Es sind gleich mehrere Generationen in Köln aufgestanden gegen Faschismus.
Zur Person
Berivan Aymaz, Vizepräsidentin des NRW-Landtags, ist seit 2017 für die Grünen im Landtag. Sie lebt in Brück und hat ihren Wahlkreis im rechtsrheinischen Köln. Als Sechsjährige ist sie mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland gezogen.