Linda Rennings wuchs bei ihrer Großmutter auf. Als die Oma starb, fiel sie in ein tiefes Loch. Heute ist sie alternative Kölner Ehrenbürgerin.
Der MomentWie die kölsche Linda nach dem Tod ihrer Oma abstürzte – und wieder aufstand
In der Wohnung von Linda Rennings steht ein kleiner Schrein mit einer Madonna. Kerzen umrahmen ein Bild, auf dem ihre Großmutter Lina zu sehen ist. Jeden Tag schaut Rennings, in Köln bekannt als „kölsche Linda“, Streetworkerin und alternative Ehrenbürgerin, auf das Bild. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke.“ Oft zündet sie eine Kerze an und spricht mit ihr. Sagt Danke, dass sie da war. Und sie selbst noch da ist. Auch wegen ihr.
Linda Rennings (60) ist bei ihrer Großmutter aufgewachsen, ihre Mutter konnte sich nicht um sie kümmern. Sie kippt das rechte Handgelenk und überstreckt den Kopf. „Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, wahrscheinlich ist das gut so.“ Sie sei „ein Wanderpokal gewesen“, sagt sie. Das Bild verwendet Linda Rennings an diesem Sommernachmittag im Biergarten auf dem Wiener Platz mehr als einmal. Der Pokal sei meistens im Besitz der Oma gewesen, „manchmal kam ich auch zur Tante und immer mal wieder zu meiner Mutter, die leider das Sorgerecht behalten hat, obwohl sie Alkoholikerin war und unberechenbar“.
Sie bestellt noch einen Kaffee, zündet sich noch eine Zigarette an. Ein Nachmittag reicht längst nicht, um ihren atemberaubenden Lebenslauf zu erzählen. Dafür hat Linda Rennings sich monatelang mit dem Kölner Journalisten Albrecht Kieser getroffen – herausgekommen ist die Biografie „Rebellin der Straße: Weiblich und wohnungslos“, die am 15. Oktober bei Rowohlt erscheint und schon bestellbar ist.
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Ihre Oma war über 60, als Linda als Säugling zu ihr kam. Sie hatte zwei Weltkriege erlebt, ihr Mann war nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft krank und früh gestorben, sie selbst: fleißig, diszipliniert, hart im Nehmen. „Sie hat nie geklebt“, sagt Linda Rennings, heißt: Sie hatte nie einen sozialversicherungspflichtigen Job. Kaum Rente. „Aber sie hat frühmorgens Büros geputzt und für die Leute im Veedel genäht: Hosen, Hemden, Anzüge, für einen Heiermann, so hat es gereicht, um die Miete zu zahlen und meistens genug zu essen zu haben.“
Weil die Großmutter sich durchschlagen musste, wuchs die Enkelin auf der Straße auf. Sie streifte durch Mülheim, „im Sommer haben wir uns von den Obstbäumen in den Gärten bedient, es war schön, aber wir haben auch die Armut und das Elend gesehen“. Alkoholiker, Prostituierte, Gelegenheitsdiebe. Leute, die sich irgendwie durchschlugen, aber den Überblick über ihr Leben verloren hatten.
Ihre Kindheit verbindet Linda Rennings trotzdem mit Schönheit und Fülle. „Ich erinnere mich an den Geruch von Melissengeist, den Oma, die natürlich nie zum Arzt ging, gegen jede Krankheit nahm, und von 4711, ihr zweites Allheilmittel.“ Sie erinnert sich an Sonntagsschokolade und gute Butter, Kirschen, Äpfel, Pflaumen, selbst gemachten Kuchen. Den Wildpark. Ein Kuscheltier aus dem Kaufhaus. Kleine Weihnachtsgeschenke, meist Klamotten, die die Welt waren.
Eine Lederhose, weil sie wild wie ein Junge war und die Hosen ständig Löcher hatten. „Oma war bettelarm und hat mich behandelt wie eine Prinzessin“, sagt sie. Obwohl sie früh auf sich gestellt war, schloss Linda Rennings die zehnte Klasse ab und lernte Fleischereifachverkäuferin. Mit der Ausbildung zog sie in ein eigenes Appartement, direkt neben der Großmutter.
Erst bei der Beerdigung verstand sie: „Die kommt nicht wieder. Oma ist tot.“
Sieben Tage vor ihrem 18. Geburtstag wollte sie Oma Lina wie immer in der Mittagspause besuchen. Und fand sie leblos in ihrer Wohnung. Sie war krank gewesen, schon lange, hatte aber nie ein Wort darüber verloren. 24 Stunden hielt sie Totenwache. Was danach geschah, erinnert sie nicht mehr genau. Erst bei der Beerdigung am Dünnwalder Friedhof habe sie verstanden: „Die kommt nicht wieder. Oma ist tot.“ Nach der Beerdigung saß Linda Rennings stundenlang vor dem Grab. Jeden Tag besuchte sie jetzt den Friedhof. „Oma war doch der einzige Mensch, den ich hatte. Ansonsten war ich ja als Kind schon obdachlos.“
Außer ihrer Großmutter waren da nur noch die Hunde als treue Begleiter. Clayd, eine Mischung aus Collie, Husky und Schäferhund, ist seit 13 Jahren an ihrer Seite. Clayd ist chronisch krank, Linda Rennings pflegt ihn wie ein Kind. Clayd hat sogar eine eigene Facebook-Seite. Eine Pfote und sein Name sind auf ihrem Unterarm tätowiert. „Für Menschen, die niemanden haben, sind Hunde überlebenswichtig, gerade für Frauen“, sagt sie. „Auf der Straße schützen Hunde vor Räubern und vor sexuellen Übergriffen.“ Deswegen kämpfe sie seit Jahren für eine Wohnungslosenunterkunft, in der auch Haustiere zugelassen sind.
Als ihre Oma gestorben war, durfte Linda Rennings deren Wohnung übernehmen. Die Welt brach eine Woche vor ihrem 18. Geburtstag trotzdem zusammen – weil niemand ihre Oma ersetzte. Im Gegenteil: Sie lernte einen Mann kennen, gründete eine Familie – und erlebte Gewalt in der Ehe. Sie zog in ein Frauenhaus, zog wieder aus, lernte wieder einen Mann kennen, erlebte wieder Gewalt. „Nach sieben Jahren psychischem Dauerstress habe ich eine Psychose bekommen, dazu eine schwere Lungenentzündung. Ich habe meinen Job als Reinigungskraft und die Kontrolle über mein Leben verloren und bin auf der Straße gelandet.“
Eineinhalb Jahre schlief Linda auf dem Dünnwalder Friedhof, in der Nähe des Grabs ihrer Großmutter
Als sie ihre kleine Wohnung in einem Kölner Vorort verlassen musste, fuhr Linda Rennings zum Dünnwalder Friedhof. Für rund eineinhalb Jahre schlief sie auf dem Friedhof, ganz in der Nähe des Grabs ihrer Oma. „Da, und nur da“, sagt sie, „habe ich mich sicher gefühlt.“ Sie habe nicht gebettelt und sei immer mehr ins innere Exil verschwunden. Stark abgemagert. Bis sie in eine Klinik kam. Es folgten sieben Jahre Therapie. Wieder Frauenhaus. Wieder Ohnmacht. Wieder aufstehen.
Vor zehn Jahren hat Linda Rennings den Verein „Heimatlos in Köln“ gegründet. Damit unterstützt sie Frauen, die auf der Straße leben – und die von der Gesellschaft ihrer Meinung nach noch viel stärker übersehen werden als obdachlose Männer. Sie hat eine einjährige Ausbildung zur Genesungsbegleiterin gemacht und eine Selbsthilfegruppe gegründet. Sie fordert mehr Streetworker und einen mobilen psychiatrischen Dienst auf der Straße, „weil es immer mehr psychisch auffällige Menschen auf der Straße gibt, die dringend Hilfe brauchen“.
Sie wünscht sich eine Wärmestube, ein mobiles Beratungsangebot und ein Nähcafé für obdachlose Frauen. Sie spricht mit Journalisten. Gibt Essen aus. Begleitet Menschen auch bei Behördengängen. Ist mit ihrer Jacke, auf der fett „Streetworker“ steht, Ansprechpartnerin für die Wohnungslosen am Wiener Platz.
Zwischenzeitlich ist sie selbst zusammengebrochen: Linda Rennings hat die Lungenkrankheit COPD, dazu Arthrose, kaputte Knie, chronische Rückenschmerzen. Im Januar 2024 war sie auf der Intensivstation. „Ich dachte, ich komme nicht mehr hoch, aber ich will den Verein nicht aufgeben, das ist mein Lebenswerk – der Gedanke hat mich doch wieder hochgebracht. Man muss immer wieder aufstehen.“ Jetzt macht sie täglich Krafttraining, geht am Rollator, fährt mit dem E-Mobil zu den Obdachlosen.
Dass es nicht genug Schlafplätze für obdachlose Frauen gebe in Köln, „ist ein riesengroßer Skandal“, sagt sie. Als sie für ein Porträtfoto auf dem Wiener Platz steht, kommt eine Frau auf sie zu, umarmt sie und sagt: „Schreiben Sie, dass ich ohne Linda wahrscheinlich nicht mehr da wäre.“ Sie umarmt Linda und gibt ihr einen Kuss auf den Hals. „Für diese Geschichten mache ich das“, sagt Linda Rennings.
Für ihr Engagement hat sie im vergangenen Jahr die Alternative Ehrenbürgerschaft erhalten – zusammen mit dem früheren Innenminister Gerhart Baum. „Das war nett“, sagt sie. „Besser wäre es allerdings, wenn jemand wie ich mal die normale Ehrenbürgerschaft bekommen würde. Oder nicht?“