Köln – Das schlechteste an der Kälte ist ihr Ruf, sagt Susanne Reuter, während sie sich am Ufer des Fühlinger Sees aus Jacke, Hose und Pulli schält. Dort, wo sich in normalen Sommern Wassersportler und Badegäste knubbeln, ist an diesem Nachmittag außer einigen Spaziergängern mit Hunden niemand auf den Beinen. „Acht oder neun Grad“, schätzt die Kölnerin nach einer Wasserberührung mit der Hand.
Dann streift sie sich Schwimmhandschuhe über und läuft immer weiter vor, bis von ihrem Bikini nichts mehr zu sehen ist und nur noch der Kopf mit der kuscheligen Polarkappe aus den Fluten ragt. Kein Quieken, kein Japsen, keine Schnappatmung. Einen Moment lang durchbricht die Sonne die Wolkendecke und taucht das Gesicht der Schwimmerin in ein goldenes Licht. Die 50-Jährige strahlt. „Es ist wundervoll“, ruft sie zum Ufer.
Bis vor zwei Jahren hatte die freiberufliche Sprecherin im Winter das, was viele Frauen kennen: „Immer kalte Hände, immer kalte Füße.“ Dann machte sie mit ihrer Kanugruppe einen Ausflug in die Südheide und landete dort in der Örtze, „einem Flüsschen, das nie wärmer als 14 Grad“ wird. „Boah, hat mich das lebendig gemacht!“, stelle sie anschließend fest. Inzwischen ist Reuter als Wildschwimmerin bekannt.
Sie steigt bei sechs Grad in die Agger, bei vier Grad in die Weser, und sie weiß genau, wo der Rhein ungefährlich ist. „Es ist jedes Mal eine Überwindung reinzugehen“, gibt sie zu. „Aber es kurbelt die innere Heizung an und hebt die Stimmung. Reuters Bikini ist oft noch ein wenig klamm vom Vortag, weil er täglich für ein paar Minuten zum Einsatz kommt. „Man kommt raus aus diesem Gedankenkarussell“, sagt die 50-Jährige, die inzwischen auch fest davon überzeugt ist, dass sich Wechseljahrbeschwerden wie Hitzewallungen auf diese Weise lindern oder beheben lassen.
„Meine Intention war eine große Portion Lust, mich selber zu spüren“, erklärt Jörg Schirner, nachdem er gerade von seiner inzwischen zur Routine gewordenen Mittagspause zurückgekehrt ist: Einmal in den Höhenfelder See und wieder zurück. Er habe das Schwimmen schon immer geliebt, erzählt der Optiker aus Dellbrück. Im Herbst tauchte dann regelmäßig die Frage auf: „Ab wann geht man nicht mehr?“ Diese Erwägung ist seit drei Jahren passé.
Bei Dunkelheit mit Stirnlampe
„Wir haben uns darauf geeinigt, wir ziehen das durch. Auch bei Regen. Und im Dunkeln mit Stirnlampe“, fügt der 53-Jährige lachend hinzu. „Wenn man aus dem Wasser rauskommt, hat man eine innere Hitze in Gang gesetzt. Ganz anders als beim heißen Duschen. „Da kommt die Wärme von außen.“
Zu der Gruppe von Kölnerinnen und Kölnern, die regelmäßig im Höhenfelder See abtauchen, gehört auch der Dellbrücker Weinhändler Karl Moog. Der 66-Jährige war allerdings „schon immer das Gegenteil eines Warmduschers“. Aufgewachsen in einem Winzerhaushalt an der Mosel und als Junge dauernd an der frischen Luft, denkt er mit Freude an Abenteuer zurück, die einem Normalsterblichen Frösteln lassen: Als 17- oder 18-Jähriger sei er mit gleichaltrigen Jugendlichen aus Schweden und Finnland in der Neujahrsnacht am Bottnischen Meerbusen aufs Eis gezogen.
Man hatte Zelte dabei, Sägen und Strickleitern, um bequem ins Wasser zu gelangen. Nach dem Eisbad gab es Würstchen vom Grill. Moog hat noch nie in seinem Leben Neopren getragen, geht heute aber „immer mit mehreren ins Wasser, damit es nicht gefährlich ist“. Er fühle sich durch das Winterschwimmen wohler in seiner Haut. „Das kommt meinem Biosystem entgegen.“
Suizidversuch mit Tabletten
Jeden Tag noch einen Tick perfekter zu werden, das war die Maxime von Maarten Hemmen von Kind an. Anfangs als Leistungssportler, später als Absolvent des Konservatoriums in Rotterdam. „Ich habe mich nur dadurch definiert, immer der Beste zu sein“, sagt der Niederländer über sein früheres Leben als Musiker und Kampfsportler. Irgendwann konnte er den Druck nicht mehr aushalten und verabreichte sich mit 25 Jahren einen Tablettencocktail, um sein Leben zu beenden.
Kaum hatte er alles geschluckt, wurde ihm klar: „Das kann es doch noch nicht gewesen sein!“ Also robbte er über den Küchenboden, griff zum Salz, nahm würgend ein paar Löffel, erbrach, landete in der Notaufnahme und verbrachte im Anschluss an seine Krankenhauszeit viel Zeit in psychotherapeutischen Sitzungen.
Aus fettleibigem Musiker wird Kälte-Instructor in Topform
Der Zufall wollte es, dass ihm in dieser Zeit ein alter Freund wieder begegnete, der ihn einlud: „Kommt mit nach Polen!“ Hemmen stellte fest, aus dem früher etwas fettleibigen Musiker war inzwischen ein Kälte-Instructor in körperlicher Topform geworden; jemand, der ähnlich wie der niederländische Extremsportler Wim Hof von der positiven Wirkung von eiskaltem Wasser auf Körper und Psyche überzeugt ist und seitdem versucht, anderen Menschen die Angst vor Kälte zu nehmen und sie sich zunutze zu machen. „Als ich zum ersten Mal im Eiswasser lag“, habe er unglaublich viel verstanden, sagt der 34-Jährige. „Nämlich, dass das einzige, was wir in unserem Leben haben, unser Geist und unser Körper ist“.
Hemmen lebt seit neun Jahren in Köln ist Vater einer kleinen Tochter und arbeitet unter anderem als Atem-Coach mit einer sehr unterschiedlichen Kundenklientel: „Vom olympischen Sprintern bis hin zu Menschen, die tief in der Depression stecken.“
Wenn man den Coach fragt, was genau er tut, antwortet er: „Ich helfe den Menschen, sich wieder zu spüren anhand von Bewegung, Atmung und Kälte. Das Eintauchen in eiskaltes Wasser bedeute eine enorme Stressreaktion. Wenn man sich im Wasser mit aller Kraft zwinge, ruhig ein- und auszuatmen, komme man in eine wunderbare Entspannung. Ursprünglich sei der Mensch genau auf dieses Wechselspiel von Stress und Entspannung ausgelegt. „Unser Problem ist, wir erleben weder das eine, noch das andere richtig. Wir hängen immer mittendrin.“
Eine Art von Meditation, in die man geht
Hemmen steigt selber täglich ins Wasser, „das ist fast zu einem Muss geworden". Die Kölnerin Halima Elkasmi empfindet es als „eine Art von Meditation, in die man geht" und schwärmt von den Vorzügen des Trainings: Sie sei seitdem „keine Frostbeule mehr“ und habe noch nie so gut geschlafen.
Die 35-Jährige erinnert sich sehr gut an ihr erstes Mal vor etwa zwei Monaten, einem nasskalten Morgen am Fühlinger See. Sie habe kurz geschrien, dann die schmerzenden Waden gespürt, als Folge davon, dass sich die Gefäße zusammenziehen und das ganze Blut in die Körpermitte fließt. Trotzdem habe sie etwa zehn Sekunden ausgehalten. Eine Überwindung sei es auch heute noch, sagt die Fitness- und Yogalehrerin. „Aber danach kommt es mir so vor, als ob ich einen Akku im Körper trage, der total voll ist.“