Köln – Mit Lügen kennt Hans Ue. sich aus. Mit seinen eigenen, mit denen der katholische Priester eine fast 40-jährige Karriere als Seriensexualstraftäter zu verbergen wusste. Aber auch mit den Lügen anderer: Als eines der inzwischen bekannten 15 Opfer, ein etwa zehn Jahre altes Mädchen, auf einer Autofahrt mit Ue. zum eigenen Schutz behauptete, es habe seiner Mutter von Ue.s Übergriffen erzählt, da durchschaute der die Notlüge sofort und ließ das Mädchen unmittelbar nach der Ankunft beichten.
Zum Abschluss des Strafprozesses gegen Ue. vor dem Kölner Landgericht schildert der Vorsitzende Richter der 2. großen Strafkammer, Christoph Kaufmann, diese „aufschlussreiche Episode“ in seiner Urteilsbegründung mit besonderer Empörung. „Sie sind nicht einmal davor zurückgeschreckt, das heilige Sakrament der Beichte zu instrumentalisieren und das Kind in die Kirche zu schleppen“ – mit möglicher anschließender „Wiedergutmachung“ nach Ue.s Gefallen. Unfassbar nennt Kaufmann das.
Täter mit krankhaft pädophiler Veranlagung
Dieses Wort fällt in seiner annähernd dreistündigen Urteilsbegründung sehr häufig, zusammen mit „furchtbar“, „ekelhaft“ oder „perfide“. Der Richter zeichnet das Bild eines Täters mit krankhaft pädophiler Veranlagung, der stets genau wusste, was er tat, planvoll vorging und der eine Begabung zum Aufbau von Vertrauen gezielt ausnutzte. Kaufmann nennt Ue. einen „Meister der Manipulation“ und einen Narzissten mit übersteigertem Selbstbild. Auch aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens im Prozess bescheinigt Kaufmann Ue. indes volle Schuldfähigkeit.
Die Kammer befand ihn in 110 Fällen für schuldig, begangen an neun minderjährigen Opfern zwischen 1993 und 2018, und verurteilte Ue. zu einer Gesamtstrafe von 12 Jahren, ein Jahr weniger, als vom Staatsanwalt gefordert. Darüber hinaus sprach das Gericht drei Opfern ein Schmerzensgeld von 5000, 10.000 bzw. 35.000 Euro zu. Weitere Vergehen an sechs Mädchen konnten aufgrund der Verjährung vom Gericht nicht geahndet werden. Die Verteidigung stellte Revision in Aussicht mit dem Ziel, das Strafmaß zu senken.
Dass ihm als Priester ein besonderer Vertrauensvorschuss gewährt wurde, kam Ue. bei allen seinen Taten entgegen. Kaufmann spricht von der Fassade des Seelsorgers und einem systematisch aufgebauten Doppelleben des Täters. Die Gemeinden hätten ihm vertraut, die Eltern ebenso. Für seine Opfer sei er aus deren kindlicher Perspektive ein „Repräsentant Gottes auf Erden“ gewesen, dem die Kinder ihr Herz geöffnet hätten. Der Missbrauch habe hier mitten in den Kern von Beziehungen getroffen und die Opfer auch deshalb für ihr weiteres Leben so schwer traumatisiert.
Trotz Suspendierungen setzt Ue seine Verbrechen ungehindert fort
Die Spur körperlicher und seelischer Verwüstungen zieht sich durch sämtliche Einsatzorte Ue.s von seiner ersten Kaplansstelle in Alfter bis zu seinem Ruhesitz in einem Ortsteil von Zülpich. Trotz staatlicher Ermittlung im Jahr 2010/11 und erneut 2018 und zweier kirchlicher Suspendierungen setzte Ue. seine Verbrechen unbeeindruckt, aber auch ungehindert fort.
In der Urteilsbegründung lässt Kaufmann erkennen, dass der Anklage-Zeitraum zwar Anfang 2018 endete, der Missbrauch aber weiterging. Verdachtsmomente reichen bis ins Jahr 2019.
Kirche habe auch ignorant und leichtgläubig reagiert
Für die Kirche findet Kaufmann Worte des Lobs und des Tadels. Ohne die 2015 gegründete Interventionsstelle des Erzbistums mit deren ehemaligem Leiter Oliver Vogt, der 2018 den sieben Jahre zuvor zu den Akten gelegten Fall dreier Nichten von Ue. wieder in Gang setzte, „würden Sie heute noch Ihre fürchterliche Tatenserie fortsetzen“, sagt Kaufmann zu Ue.
Andererseits hätten Kirchenvertreter ignorant, vorschnell leichtgläubig, ohne Problembewusstsein und Aufklärungsinteresse, aber dafür mit großer Sorge um das Ansehen der Kirche agiert. Insbesondere der frühere Offizial (Leiter des Kirchengerichts), Günter Assenmacher, habe lieber „abstrusen Verschwörungstheorien“ Ue.s Glauben geschenkt als den Schilderungen der Opfer. Kaufmann moniert, dass Ue. nie mit einem Kontaktverbot zu Kindern und Jugendlichen belegt wurde, Auflagen nie geprüft und eklatante Verstöße bis in die jüngste Zeit nicht sanktioniert wurden.
Richter würdigt Opfer als Heldinnen
Eine von Ue.s Nichten zeigt sich in einem kurzen Statement dankbar, dass eine „Aktennummer“ im Missbrauchsgutachten des Erzbistums nun Gesicht bekommen habe. Vor Gericht seien sie und die anderen Opfer „gehört und wahrgenommen“ worden. Ihre Schwester und ein weiteres Opfer ermutigte andere Betroffene zur Anzeige. Reden helfe – und nehme den Tätern ihre Macht.
Im Gerichtssaal würdigt Kaufmann den Mut der Opfer. „Sie sind die Heldinnen dieses Verfahrens“. Ihr Wille zur Wahrhaftigkeit, aber auch ihre Empathie – sogar für ihren Peiniger – stünden in krassem Gegensatz zum Verhalten Ue.s, der lange Zeit dreist gelogen und das Gericht irregeführt habe. „Phasenweise war es so, als würden wir Blinde Kuh oder Topfschlagen spielen“, sagt der Richter erzürnt.
Am Ende habe Ue. „in mageren Teilgeständnissen“ nur das zugegeben, was unbestreitbar war. Dass er dem Gericht zuletzt über seinen Verteidiger Respekt dafür bekunden ließ, jeden Stein in seinem Leben umgedreht zu haben, das – so Kaufmann – mute im Licht des Prozesses an wie ein „zynischer Witz“.
Das Erzbistum Köln begrüßte das Urteil und kündigte einen zügigen Abschluss des laufenden kirchenrechtlichen Verfahrens gegen Ue. sowie eine verschärfte Kontrolle von Tätern an. „Unsere Aufarbeitung geht unbeirrt und konsequent weiter.“ Die Kölner Staatsanwaltschaft teilte auf Anfrage mit, sie prüfe weitere Verdachtsfälle gegen Ue.