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Missbrauchsprozess„Wut, Ekel, Abscheu und Entsetzen“ über Priester Ue.

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Der Angeklagte im Gerichtssaal

  1. Der Priester und mutmaßliche Serientäter Ue. soll sich in 118 Einzelfällen sexuell an Kindern vergangen haben.
  2. Im Verfahren bleibt stets auch die Frage nach dem Versagen des Systems Kirche beim Opferschutz präsent. Das Urteil soll in der kommenden Woche fallen.
  3. Dieser Text enthält Darstellungen und Beschreibungen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen

Köln – „Fünfundachtzig selbstständige Handlungen“. So nüchtern liest sich das im Juristendeutsch. Hinter der Zahl 85 und den „Handlungen“ verbergen sich teils schwerste sexuelle Vergehen an fünf Mädchen, die der Priester und mutmaßliche Serientäter Hans Ue. zwischen September 2002 und Januar 2018 begangen haben soll.

Bei 70 der Taten, die die Staatsanwaltschaft Köln Ue. in einer Erweiterung ihrer Anklage zur Last legt, sollen die Opfer jünger als 14 gewesen sein. Das jüngste der Mädchen war neun Jahre alt, als sich Ue. das erste Mal an ihm verging. Die Übergriffe erstreckten sich über fast sieben Jahre, so dass das Mädchen bei 15 Fällen schon im Jugendlichenalter war.

Zusammen mit den schon zuvor bekannten Missbrauchstaten, die Ue. zwischen 2003 und 2009 an drei Nichten in Gummersbach und 2011 an einer damals Elfjährigen in Wuppertal begangen haben soll, summieren sich die einzelnen Vorwürfe auf 118.

Vor lauter Zahlen, Daten, Orten und Namen droht man als Zuhörer im Kölner Landgericht da schon mal den Überblick zu verlieren, zumal Staatsanwalt Maurice Niehoff die sogenannte Nachtragsanklage eilig, ohne Betonungen, wie geschäftsmäßig verliest – als ob das dem Ganzen die Monstrosität der Geschehnisse nehmen könnte.

Planvolles Vorgehen

Aber dennoch bekommt man eine Ahnung davon, wie planvoll Ue. über Jahrzehnte hinweg auf der Suche nach seinen Opfern und bei deren Auswahl vorgegangen sein soll.

Mal waren es Mädchen aus Familien in schwierigen Situationen – der Vater weg, die Mutter Alkoholikerin. Ue. lernte sie unter anderem 2009 in einem „Haus der Offenen Tür“ (HoT) kennen, einer kirchlichen Betreuungseinrichtung. Das Gebäude liegt die passenderweise direkt neben dem Pfarrhaus, das Ue. 2009 in Wuppertal-Varresbeck bezog, praktisch auf ein und demselben Grundstück. Ue. bot sich der HoT-Leiterin neben seiner eigentlichen Tätigkeit in der Krankenhausseelsorge als ehrenamtlicher Betreuer, Freund und Helfer an.

Ue. gerierte sich als eine Art Patenonkel

Oder die Opfer stammen aus Familien, zu denen Ue. als Seelsorger Kontakt aufgenommen und dann ein enges freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte. Für eines der Mädchen aus diesen Familien war er der „Nennonkel“, bei zwei anderen, einem Schwesternpaar, gerierte er sich als eine Art Patenonkel.

Das Vertrauen der Eltern muss grenzenlos, ja fast blind gewesen sein. Als 2010 erstmals Missbrauchsvorwürfe laut wurden, die drei Nichten des Geistlichen gegen ihren Onkel erhoben hatten, kümmerte sich eine befreundete Familie in ganz besonderer Weise um ihn. Das hinderte Ue. nicht, ihre zwei Töchter – das erwähnte Schwesternpaar – sowie die Freundin der älteren zu missbrauchen.

Alle drei, inzwischen Anfang 20, treten heute als Nebenklägerinnen im Prozess auf. 60 der 85 Anklagepunkte beziehen sich allein auf die jüngere der beiden Schwestern. Was Niehoff hierzu in den Akten hat, lässt sich schon beim bloßen Hören schwer ertragen und nur mit der gebotenen Zurückhaltung wiedergeben.

Achtung! Der Inhalt der folgenden Absätze kann verstörend und traumatisierend wirken.

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Ab 2011 nahm er laut Anklage stets in sexueller Absicht verschiedenste Berührungen im Intimbereich vor, teils während das Kind schlief und sich beim plötzlichen Erwachen wunderte, was gerade geschah. Er „wusch“ und manipulierte die Genitalien des Kindes, duschte und badete nackt mit ihm, hantierte mit einem goldenen Vibrator. Noch vor dem 14. Geburtstag kam es zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr. „Auf den Bauch kommen“, so beschrieb Ue. eine dabei geübte Praxis. Während der Periode des Mädchens ließ Ue. sich überdies oral befriedigen.

Die meisten dieser Verbrechen fanden bei Ue. zuhause statt. Es kam aber auch häufig zu schwersten Missbrauchstaten im Elternhaus des Mädchens. 2015 schlossen die Eltern eine Art Therapievereinbarung mit Ue. mit dem Ziel, dass er als Freund und Vertrauter der Familie „an der Jähzornigkeit“ des pubertierenden Teenagers arbeiten sollte. Dazu sollte sie ihn regelmäßig an seinem neuen Wohnort in einem Ortsteil von Zülpich besuchen und dort übernachten. Auch hier verging sich Ue. aufs Schwerste an ihr.

Andere Opfer ließ Ue. am Computer Reiterspiele spielen, setzte die Kinder auf seinen nackten Schoß und rieb im Takt an ihren Genitalien. Oder er machte sie glauben, er wolle ihnen die weibliche Anatomie erklären – und auch die männliche, wofür dann sein eigener nackter Körper ein probates Demonstrationsobjekt war.

Die Rechtsanwältin eines Opfers berichtet ergänzend auch von Nacktbildern der Kinder, die Ue. beim Spielen mit Rasierschaum geschossen habe, und vom Vorführen pornografischer Bilder am Computer.

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Staatsanwalt Maurice Niehoff

Im Resümee der Anklage spricht der Staatsanwalt von einem „äußerst manipulativen Verhalten“ des Angeklagten, der im genauen Wissen um das Alter seiner Opfer deren Arglosigkeit ausgenutzt, ihren Willen „vollständig ignoriert“ oder ihre Unfreiheit in Abhängigkeitsverhältnissen – wie der „Therapie“-Situation – ausgenutzt habe.

Nebenklägerin spricht von „gezielter Gehirnwäsche“

Was dies jenseits von Paragrafen für die Opfer bedeutet, bringt eine der Nebenklägerinnen, die ältere der beiden Schwestern, über eine Erklärung ihrer Anwältin ins Wort: Ue.s zur Schau getragene Fürsorge, sein Kümmern um die Kinder, die tollen Freizeitaktivitäten mit Ausflügen etwa ins „Sea Life“, der verbilligte Laptop, das iPhone – alles Täterstrategie, alles eine „gezielte Gehirnwäsche“, um sich die Kinder gefügig zu machen. Sie empfinde „Wut, Ekel, Abscheu“ und „Entsetzen über einen solchen Vertrauensmissbrauch“.

Dass der Anklagezeitraum so abrupt wie präzise mit dem 24. Januar 2018 endet, könnte damit zusammenhängen, dass das jüngste Opfer am folgenden Tag 16 Jahre alt wurde. Im Prozessverlauf hatte der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann gleichwohl von Hinweisen auf Vergehen gesprochen, die bis ins Jahr 2019 reichen.

Auch nach den Ermittlungen arbeitete Ue. als Krankenhausseelsorger

Zu dieser Zeit liefen bereits staatliche und kirchliche Ermittlungen gegen Ue. wegen der Missbrauchsvorwürfe seiner drei Nichten, die diese zuerst 2010 erhoben, sich dann aber – offenbar auf Druck der Familie – auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen hatten. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Das Erzbistum Köln hob eine zeitweilige Suspendierung auf. Kardinal Joachim Meisner setzte Ue. wieder auf seiner Stelle als Krankenhausseelsorger ein, ernannte ihn drei Jahre später sogar zum stellvertretenden Wuppertaler Stadtdechanten. Eine Meldung des Verdachtsfalls nach Rom unterblieb 2010 ebenso wie Nachforschungen in Ue.s Umfeld zu etwaigen weiteren Vorkommnissen. Auch wurden Ue. entgegen den bischöflichen Leitlinien keinerlei Auflagen gemacht, wie etwa eine psychiatrische Begutachtung.

2018 kam das Verfahren erneut in Gang, als der damalige Interventionsbeauftragte des Erzbistums, Oliver Vogt, auf den Fall Ue. stieß und sich mit den Nichten in Verbindung setzte. Diese erneuerten daraufhin ihre Vorwürfe, auch gegenüber der Staatsanwaltschaft. Ein vom Erzbistum in Auftrag gegebenes Sondergutachten der Münchner Rechtsanwaltskanzlei WSW vom März 2019 ergab, dass die Bistumsleitung den Fall 2010 pflichtwidrig gehandhabt hatte.

Experte glaubt, Woelki habe sich selbst strafbar gemacht

Anfang April 2019 wurde Ue. von Kardinal Rainer Woelki erneut beurlaubt. Aber auch hier kam es weder im Vorfeld noch danach zu weitergehenden Maßnahmen wie einem ausdrücklichen Kontaktverbot zu Kindern und Jugendlichen. Nach Ansicht des Mainzer Strafrechtsprofessors Jörg Scheinfeld haben Woelki und sein Generalvikar Markus Hofmann sich damit selbst strafbar gemacht.

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In jedem Fall lenken der Prozessverlauf und insbesondere die jetzt erhobene Nachtragsanklage den Blick auf die Mitverantwortung der Bistumsleitung. Die Frage der Mitschuld ist sozusagen die zweite Ebene dieses Verfahrens, auch wenn führende Kirchenmänner wie der frühere Kölner Personalchef Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg) und der ehemalige Offizial (oberster Kirchenrichter) Günter Assenmacher vor Gericht nur als Zeugen aussagen mussten. Aber Richter Christoph Kaufmann versteht es, die zweite Dimension stets präsent zu halten und damit die Frage nach dem Versagen des Systems Kirche beim Opferschutz.

„Mehr als je zuvor bin ich davon überzeugt, dass Verantwortliche weitere Taten spätestens nach 2010 und im Licht von 2009 hätten verhindern können.“ Dieser Satz aus einem Schreiben des früheren Wuppertaler Pfarrers Torsten Kürbig (heute Bad Honnef) an Staatsanwalt Niehoff vom 6. Februar bringt es auf den Punkt. Kaufmann verliest den fünfseitigen Brief am Mittwoch zu Beginn der Verhandlung von der ersten bis zur letzten Zeile.

Sprengel als Musterpfarrei angepriesen

Kürbig, früher auch stellvertretender Leiter des Kölner Priesterseminars und ab 2012 als Leitender Pfarrer Ue.s Vorgesetzter, schildert darin, dass die Bistumsleitung ihn vor der Übernahme dieses neuen Jobs komplett im Unklaren über Ue.s Vorgeschichte ließ. Heße und andere Personalverantwortliche hätten ihm den neuen Sprengel sogar als eine „bestens bestellte Musterpfarrei ohne schwarze Flecken“ angepriesen.

Auch Kürbigs Vorgänger Christoph Bersch habe keine einzige Silbe zu verlauten lassen, obwohl dieser nicht nur über Ue.s Suspendierung 2010/2011 im Bilde gewesen sein musste, sondern insbesondere auch über ein grenzverletzendes Verhalten von Ue. 2009 in der Wuppertaler Kindereinrichtung „HoT“. Die Leiterin hatte sich darüber nämlich offiziell beim Kirchenvorstand beschwert. Ue. kam einem Hausverbot zuvor, indem er von sich aus die Kontakte reduzierte. Dass mindestens ein Kind aus seiner Zeit in der „HoT“ zu den Opfern zählt, ergab sich erst im Prozess.

Zu den Vorfällen schwieg man sich aus

Von dem Vorfall in der „HoT“ erfuhr Kürbig 2012 jedenfalls nach eigenen Worten nichts. Auch im „Übergabespräch“ mit Bersch 2012 habe er den Eindruck gewinnen müssen, dass im Wuppertaler Westen „alles in bester Ordnung“ sei. Seinen Mitbruder Ue. eingeschlossen, der sich auch Kürbig alsbald für seelsorgliche Dienste anbot. Es sei schön, wieder etwas mehr helfen zu können. Das sei zuvor nicht so gewesen, habe Ue. ihm gesagt.

Ohne das Wissen um die Vorfälle in der „HoT“ machte Kürbig sich auf diese Bemerkung zwar einen Reim, aber einen falschen: Priester kämen gelegentlich nur eingeschränkt zum Einsatz, weil sie „nicht gebraucht“ würden, „kirchenpolitisch inkompatibel oder eine unvorteilhafte Konkurrenz für den Leitenden Pfarrer“ seien oder werden könnten.

Folglich hatte Kürbig, wie er schreibt, weder Anlass noch Kenntnisse, aufgrund derer er Ue.s Einsatz „als schwierig oder riskant hätte bewerten müssen“. Ohne jede Scheu entsprach der Pfarrer Ue. Bitte, der „sehr gerne die Kinder- und Familiengottesdienste im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung übernehmen“ wollte.

Ue. hatte regelmäßig Kontakt zu Kommunionkindern

Regelmäßig habe Ue. dann auch mit Messdienerinnen und Kommunionkindern bei Gottesdiensten und auch bei der Erstbeichte zu tun gehabt. Für Kürbig damals alles kein Problem – heute nach eigener Aussage eine seelische Last. „Jedes Mal, wenn in der jüngsten Vergangenheit von weiteren Opfern berichtet wurde, musste ich zusammenzucken“, schreibt Kürbig , „wegen der Schwere der Schuld, wegen des Leids der Opfer, wegen der Möglichkeit, dass es sich um Opfer handelte, die mir auch bekannt sein könnten, für die ich Verantwortung hätte übernehmen sollen, was ich aber mangels Kenntnis nicht getan habe.“

Und das Erzbistum? Als Kürbig sich nach Presseberichten über den Fall Ue. im Herbst 2020 an die Interventionsbeauftragte Malwine Marzotko wandte und nach Details zum Fall Ue. und den Geschehnissen in Wuppertal 2010/11 fragte, hätten Marzotko und der frühere Personalchef Ansgar Puff (heute Weihbischof) ihm in einer Videokonferenz im Februar 2021 vermittelt, dass es „keine Möglichkeit gegeben habe, die Dinge zu beeinflussen“. Puff, ab 2012 Heßes Nachfolger als Personalchef, machte laut Kürbigs Schreiben geltend, auch er habe nicht Einsicht in alle Akten erhalten und sei von seinem Vorgänger „auch nicht über besondere Fälle unterrichtet worden, die der besonderen Aufmerksamkeit bedürfen“.

Dass es solcher Aufmerksamkeit mehr als bedurft hätte – am Ende dieses Prozesstages ist das offenkundiger denn je. Voraussichtlich in der nächsten Woche will Richter Christoph Kaufmann das Urteil verkünden.