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Kölner MissbrauchsprozessKirchenrichter weist im Fall Ue. Mitverantwortung von sich

Lesezeit 8 Minuten
Priester Ue. FRANK

Priester Hans Ue. (Mitte) im Gespräch mit seinen Anwälten 

Köln – Als 2010 das Ausmaß des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche und seiner Vertuschung offenbar wurde, prägte der Jesuit Klaus Mertes, Protagonist einer konsequenten Aufklärung, den Begriff des Systemversagens. Was Richter Christoph Kaufmann im Missbrauchsprozess gegen den ehemaligen Pfarrer Hans Ue. vor dem Kölner Landgericht durch seine beharrlichen Befragungen von Opfern, Angehörigen, Menschen aus Ue.s Umfeld und Kirchenvertretern seziert, ist noch etwas anderes: ein System des Versagens.

Auf einer Spur körperlicher und seelischer Verwüstung stellte sich dem heute 70-Jährigen über fast vier Jahrzehnte hinweg niemand konsequent in den Weg: kein Bischof, kein Personalchef, die Familie ebenso wenig wie Gemeindemitglieder, aber auch nicht die Justiz.

Pfarrer Ue.:„Reihenweise“ Mädchen nachts im Pfarrhaus

Dabei hätte man, so Kaufmann in einer Art Zwischenbilanz des bisherigen Prozessverlaufs, nur einmal nachfragen müssen, um beispielsweise zu erfahren, dass Ue. in den 1990er Jahren als Seelsorger in Gummersbach, wo er über Jahre hinweg drei seiner Nichten schwer sexuell missbraucht haben soll, „reihenweise“ auch andere Mädchen bei sich schlafen ließ – im Pfarrhaus wohlgemerkt.

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„Es hat jeder gewusst“, so der Richter. „Man hätte mit sehr wenig Engagement sehr viel in Erfahrung bringen können, was den Beleg für eine erhebliche Gefährlichkeit ergeben hätte.“

Weitere Opfer von Pfarrer Ue. haben sich gemeldet

Im laufenden Verfahren, in dem Ue. auch wegen eines weiteren mutmaßlichen Missbrauchs im Jahr 2011 unter Anklage steht, hat sich inzwischen eine ganze Reihe weiterer Opfer als Zeuginnen gemeldet.

Assenmacher 130122 dpa

Günter Assenmacher im Landgericht Köln 

Kaufmann hielt das dem früheren Offizial (Leiter des Kirchengerichts) des Erzbistums Köln, Prälat Günter Assenmacher, entgegen. Der 69-Jährige sollte insbesondere über das Agieren der Bistumsleitung Auskunft geben, als diese im Jahr 2010 durch einen anonymen Hinweis von der Anzeige der Nichten gegen ihren Onkel und ein staatliches Ermittlungsverfahren erfuhr.

Assenmacher leitete kein kirchliches Verfahren ein

Zwar sprach der frühere Kardinal Joachim Meisner (1933 bis 2017) zeitweilig eine Beurlaubung des damaligen Wuppertaler Krankenhausseelsorgers aus. Als sich die Nichten jedoch – offenbar auf Druck der Familie – auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht beriefen, hielt Assenmacher ein eigenes kirchliches Verfahren für unmöglich und eine Meldung des Falles nach Rom nicht für geboten.

Darüber kam es 2011, wie auch der frühere Interventionsbeauftragte Oliver Vogt als Zeuge darlegte, zu einem Konflikt zwischen der ehemaligen Bistumsjustitiarin, die den Fall Ue. gern verfolgt gesehen hätte, und Assenmacher.

„Eine gewisse Ausweglosigkeit“

Dieser sprach vor Gericht mehrfach von einer „Aporie“, ja einer „gewissen Ausweglosigkeit“: Ohne die Aussagen der Nichten habe man ja nichts in der Hand gehabt. Es habe daher auch keinen Grund für weitere Sanktionen gegen Ue. oder eine Meldung nach Rom gegeben.

Dass diese Rechtsauffassung inzwischen durch mehrere Gutachten als falsch erwiesen ist, räumte Assenmacher zwar ein. Er berief sich aber auf einen Dschungel ständig neuer Vorschriften, den zu durchforsten selbst Rom „20 Jahre gebraucht“ habe. Er habe den Fall keineswegs leichtfertig beiseite geschoben, sondern sich „schon den Kopf zerbrochen“.

Ue. stellt sich als Opfer einer Intrige dar

Zudem habe Ue. die Vorwürfe entschieden bestritten und die Glaubwürdigkeit der Nichte in Zweifel gezogen, die als erste Anzeige erstattet hatte: „Das kommt davon, wenn man es mit einer kranken Person zu tun hat.“ An diesen Satz Ue.s, der sich auch in späteren kirchlichen Befragungen als Opfer einer familiären Intrige darstellte, wusste Assenmacher sich „mit Sicherheit zu erinnern“.

Angesichts eines komplexen „Geflechts familiärer Rücksichten und Einflussnahmen“ sei es für ihn jedenfalls eine berechtigte Frage, „inwieweit ich die Autonomie einer Familie respektiere, dass man Dinge untereinander regelt“.

Missbrauchstatort Gummersbach

Wenn „vermittelt worden wäre“, dass von Ue. „eine Gefahr ausgeht“, dann freilich hätte man ganz anders vorgehen müssen.

Sich nach möglichen Gefahren zu erkundigen, sei nicht seine Aufgabe gewesen, führte Assenmacher auf die Frage des Richters aus. Ihm sei nicht bekannt, dass der „Tatort“ Gummersbach (Kaufmann) kirchlicherseits jemals in den Blick genommen worden wäre. „Uns auch nicht“, gab der Richter zurück.

Aus Vogts Befragung wurde zudem deutlich, dass es im Erzbistum bis in die jüngste Vergangenheit keine feste Vorkehrungen gab, Geistliche unter Missbrauchsverdacht zu kontrollieren oder die Beachtung von Verboten und Auflagen bei nachzuhalten. „Wir haben Missbrauchstäter im Erzbistum Köln, die nicht kontrolliert werden“, sagte Vogt. Zumindest gelte das für die Zeit, die er als Leiter der 2015 von Kardinal Rainer Woelki neu gegründeten Interventionsstelle überschauen könne. Inzwischen ist der 52-Jährige als Dezernent in der Stadtverwaltung Solingen tätig.

Assenmacher spielt eigene Rolle herunter

Während Vogt Assenmacher als die entscheidende Instanz des Erzbistums in allen kirchenrechtlichen Angelegenheiten des Erzbistums schilderte, spielte dieser die eigene Rolle herunter. Er habe bei allem, was mit Missbrauch zu tun hatte, „lediglich beratende Funktion“ gehabt, betonte er wiederholt. „Meine Rolle war keine tragende.“ Nun werde er dafür „bestraft“, dass er hilfsbereit gewesen und zum Vorgehen im Fall Ue. seine Meinung gesagt habe

Über seinen Bescheid zum Verzicht auf ein kirchliches Verfahren hätten „die Oberen“ – konkret: Kardinal Meisner und sein Generalvikar, der heutige Weihbischof Dominikus Schwaderlapp - sich ja auch hinwegsetzen können, bemerkte Assenmacher lapidar. Oder, andere Option, die mit dem Fall befasste Justitiarin hätte aus moralischen Erwägungen eigenständig Meldung nach Rom machen können.

Richter rügt „läppsche Bemerkung“

Ob sie das denn gedurft hätte, wollte Kaufmann wissen. Assenmacher: „Die war so bange nicht.“ Auf eine scharfe Erwiderung des Richters auf diese „fast läppsche“ Bemerkung räumte Assenmacher ein, dass ein eigenmächtiges Vorgehen eine klare Kompetenzüberschreitung gewesen wäre.

Vom Fall Ue. habe er eher beiläufig erfahren, dessen Personalakte habe er nie gesehen und daher vieles über den Mitbruder, den er aus gemeinsamen Studientagen kannte, nicht gewusst – unter anderem die Tatsache, dass der Angeklagte bereits Ende der 1970er Jahre vor seiner Priesterweihe die Vormundschaft für zwei Pflegekinder übernahm. Die Pflegetochter hat inzwischen als Zeugin jahrelangen schwersten Missbrauch durch ihren Pflegevater offenbart.

Rütteln am Erklärungsgebäude

Vehement rüttelte der Richter an Assenmachers Erklärungsgebäude, es hätten sich für die kirchlichen Verantwortlichen 2010/2011 aus den Akten keinerlei Hinweise auf mögliche Vergehen Ue.s ergeben. Auf Assenmachers rhetorische Frage, wie man denn sonst etwas hätte etwas finden sollen, brach es förmlich aus Kaufmann heraus: „Ha! Wie kann man einen Missbrauchsfall überprüfen – im richtigen Leben, nicht auf Papier?“ Es genüge eben nicht, „bloß in der Personalakte rumzublättern“, wo im Übrigen, wie Kaufmann hinzufügte, „sogar was gestanden hätte“.

Vorbehalte ließ Kaufmann auch gegenüber der Staatsanwaltschaft erkennen. So zeigte er sich verwundert, dass sie dem Erzbistum 2010 ohne Weiteres Einsicht in die Ermittlungsakten zum Fall Ue. gewährte. Ob auch die Staatsanwaltschaft nach der Berufung der Nichten auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht noch weitere Nachforschungen hätten anstellen können, blieb offen.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Klar war hingegen, dass keiner der näher mit dem Fall Befassten die Stichhaltigkeit der Aussagen zu den Missbrauchsvergehen bezweifelt oder gar bestritten hätte. Bis auf einen: Assenmacher. Der schrieb im Mai 2011 auf eine Nachfrage der Justitiarin zum Fall Ue. zunächst, er habe die Unterlagen „in den Giftschrank hier eingeschlossen und ganz aus dem Blick verloren“ gehabt, um dann hinzuzufügen: „In jedem Fall hängt sehr viel an der Glaubwürdigkeitsfrage.“

Die Fallhöhe des kirchlichen Agierens wurde wie unter einem grellen Lichtkegel mitten ins Dunkel deutlich, als Kaufmann aus einer Mail von Vogt vom 9. April 2019 zitierte. Darin informierte der damalige Interventionsbeauftragte die Bistumsleitung, dass sein monatelanges Bemühen um eine Wiederaufnahme des Falls Ue. erfolgreich war: Alle drei Nichten hatten sich telefonisch gemeldet und die Bereitschaft bekundet, nunmehr gegen ihren Onkel auszusagen. Die Staatsanwaltschaft entschied, den Fall neu aufzurollen. „Wir können nur hoffen, dass sich zwischen 2010 und 2019 keine weiteren Fälle ereignet haben.“

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Eine Hoffnung, die sich offenbar nicht erfüllen sollte – und zwar nicht nur mit Blick auf diese zehn Jahre. „Die ‚gute, alte Zeit‘“, so Richter Kaufmann, „erscheint nach dem, was in der Hauptverhandlung zutage gekommen ist, in einem ganz anderen Licht. Das lässt es einem eiskalt den Buckel runterlaufen.“

Aus der Kirche ausgetreten

Vogt sagte am Ende seiner Befragung, er sei nicht nur aus dem Dienst des Bistums ausgeschieden, sondern im vorigen Jahr auch aus der Kirche ausgetreten. „Ich komme einfach nicht damit klar, dass niemand persönliche Verantwortung übernommen hat.“ Bis zum heutigen Tag gebe es in der Kirche keine Verantwortungsübernahme für „Tausendundeins ungeklärte Situationen“. Ihm sei bewusst geworden: „Ich muss aus diesem Bereich raus.“

Assenmachers Befragung, die am Donnerstagvormittag nicht beendet werden konnte, wird zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt. Zunächst wollte das Gericht in nicht-öffentlicher Sitzung eine weitere Opferzeugin anhören.

Hamburger Erzbischof als Zeuge geladen

Am kommenden Dienstag, dem 18. Januar, ist die mit Spannung erwartete Aussage des heutigen Hamburger Erzbischofs Stefan Heße geplant, der als Personalchef 2010/2011 mit dem Fall Ue. betraut war. Es dürfte in der Befragung unter anderem um eine Aktennotiz über ein Gespräch mit Ue. gehen, in dem dieser „alles erzählt“ haben soll. Über den Inhalt sollte laut des Vermerks mit Heßes Einverständnis kein Protokoll angefertigt werden, weil dieses beschlagnahmefähig wäre. Heße hat mehrfach eine Vertuschungsabsicht bestritten. Die Aktennotiz sei ihm ein Rätsel, und er könne auch ein darin angedeutetes Geständnis Ue.s nicht bestätigen.

Im Gutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke zum Umgang der Bistumsleitung mit Fällen sexuellen Missbrauchs werden sowohl ihm als auch Assenmacher im Fall Pflichtverletzungen vorgehalten. Dies führte bei Heße zu einem – vom Papst abgelehnten – Rücktrittsangebot. Assenmacher wurde im März 2021 von Kardinal Rainer Woelki zunächst beurlaubt. Später wurde er als Offizial entpflichtet. Seinen Sitz im Kölner Domkapitel hat er nach wie vor inne.