Der Kölner Intensivmediziner Christian Karagiannidis spricht im großen Interview darüber, welche Probleme in den Klinken ihn derzeit am meisten beschäftigen, wie sich die Grippe-Welle auswirkt und warum Silvester die Situation noch verschärft.
Kölner Intensivmediziner über Klinik-Notlage„Silvester spitzt sich die Situation zu“
Herr Karagiannidis, Corona, Grippe, RS-Virus - was bereitet Ihnen derzeit am meisten Sorgen?
Am meisten macht uns im Klinikalltag die Grippewelle zu schaffen. Wir sehen zum Glück nicht so viele Fälle des Influenza-Typs H1N1, der für schwere Erkrankungen und übervolle Intensivstationen sorgt. Es gibt vor allem den Virustyp H3, dessen Verlauf etwas milder ist. Das bedeutet aber keine Entwarnung. Gerade chronisch lungenkranke Patientinnen und Patienten trifft eine Influenzainfektion schwer. Im Gegensatz zu anderen Jahren gibt es jetzt auch insgesamt erheblich früher mehr Influenzafälle und dies sorgt für eine zusätzliche Belastung. Dazu kommen die vielen verschiedenen Viruserkrankungen zur gleichen Zeit und die vielen Notfälle, die wir in den Kliniken haben.
Warum ist auch in den Notaufnahmen die Belastung so hoch?
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Diese Überlastung der Notaufnahmen ist ein Problem, das sich über viele Jahre hinweg aufgestaut hat. Wir haben immer weniger Betten auf den Normal- und Intensivstationen. Es ist längst keine Seltenheit mehr, dass ein Drittel der Klinikbetten nicht mehr betrieben werden können, weil das Personal fehlt. Wenn die Patienten in der Notaufnahme ankommen, fehlen die Kapazitäten, um sie auf die Station zu verlegen. Außerdem kommen immer mehr Patientinnen und Patienten in die Notaufnahme, die vor zehn Jahren noch vom Hausarzt behandelt worden wären.
Weil die Menschen auch wegen Kleinigkeiten in die Notaufnahme kommen?
Ja, aber das ist nur ein Teil des Problems. Es gibt viele Fälle, in denen kein akuter Notfall vorliegt und die Patientinnen und Patienten auch am nächsten Tag ihren Hausarzt aufsuchen könnten. Früher haben sich die Familien, die Alten- und Pflegeheime und natürlich die niedergelassenen Ärzte um solche Fälle gekümmert. Wir haben aber an vielen Stellen im Gesundheitswesen so große strukturelle Probleme, dass Patientinnen und Patienten immer mehr direkt ins Krankenhaus gehen. Das macht uns unheimlich zu schaffen.
Wie angespannt ist derzeit die Situation in den Kliniken?
Durch die vielen Erkrankungen in der Bevölkerung, auch bei den Pflegekräften und Ärzten, und dem anhaltenden Personalmangel haben wir kaum noch freie Intensivbetten. Schon seit mehr als eine Woche ist die Zahl der freien Betten so gering, wie wir sie noch nie registriert haben. Wir hatten selbst zu Hochzeiten der Corona-Pandemie mehr freie Intensivbetten, weil unseren damaligen Maßnahmen gut gegriffen haben. Immer wieder stoßen Krankenhäuser deshalb gerade jetzt ohne Maßnahmen an ihre Grenzen.
Das lässt sich nicht allein durch Influenza, RS-Viren und Covid-19 erklären.
Nein, wir haben in den letzten zwei Jahren noch einmal 25 Prozent der High-Care-Intensivbetten verloren, weil wir einfach kein Personal haben. Die Betten stehen leer in den Räumen, aber es fehlen die Pflegekräfte und regional auch Ärzte. Es ist eine Illusion zu glauben, dass diese Betten jemals wieder eingesetzt werden. Wir haben diese Kapazitäten für immer verloren. Das ist die neue Realität, für die wir eine Lösung finden müssen.
Erste Krankenhäuser fürchten eine Zuspitzung der Lage über die Weihnachtsfeiertage, Silvester und Neujahr wegen fehlendem Personal, hohem Krankenstand und vielen Patienten. Halten Sie das für berechtigt?
Wir werden regional mit Sicherheit Engpässe haben, aber eher nicht flächendeckend. Denn über die Feiertage reduzieren Krankenhäuser ohnehin die Anzahl an Operationen stark und konzentrieren sich auf die Notfälle. Planbare Operationen finden nur selten statt. Im Schnitt behandeln wir 20 Prozent weniger Patientinnen und Patienten über die Weihnachtstage und den Jahreswechsel. Natürlich ist auch das Personal an diesen Tagen ausgedünnt. Ich glaube aber, dass die meisten Kliniken in diesem Jahr mit der Situation an den Feiertagen einigermaßen zurechtkommen. Mehr Sorgen bereitet mir der Januar und die Stimmung, die gerade mitschwingt.
Inwiefern?
Im Januar werden die Krankenhäuser unter Volllast fahren und die Mitarbeiter beginnen langsam zu resignieren unter der Dauerlast. Tiefgreifende Reformen im Gesundheitswesen brauchen Zeit und je mehr Mitarbeiter wir auf dem Weg bis dahin verlieren, desto tiefgreifender werden die Einschnitte. Um es nochmal klar zu sagen: Mehr Mitarbeiter in der direkten Krankenversorgung am Bett wird es gerade in der Pflege nicht mehr geben. Das bedingt die Demografie der kommenden zehn Jahre.
Viele Kliniken haben zuletzt planbare Eingriffe abgesagt.
Da werden Erinnerungen an die Corona-Pandemie wach. Wir sehen seit einigen Tagen immer häufiger, dass Kliniken planbare Operationen im größeren Stil verschieben müssen. Das ist für alle tragisch, aber der einzige Ausweg, damit das Gesundheitssystem Notfälle adäquat versorgen kann. Es ist aber eine ganz andere Situation als während der Corona-Pandemie. Damals haben wir über Wochen die Behandlungen massiv heruntergefahren. Aktuell wissen wir, dass die sehr starke Infektionswelle gerade ihre Spitze erreicht hat und die Zahl der Infektionen in den kommenden Tagen hoffentlich sinkt. Ein leichter Rückgang zeichnet sich sowohl bei der RSV-Welle als auch bei den anderen Infektionserkrankungen ab. In wenigen Wochen können wir dann die Operationen nachholen.
Eine andere Lösung, als Operationen zu verschieben, gibt es nicht?
Die einzige kurzfristige Lösung ist wirklich, planbare Eingriffe zu verschieben und so für Notfallpatienten Kapazitäten zu schaffen. Andere Lösungen gibt es nicht, denn der Arbeitsmarkt mit Pflegekräften ist völlig leergefegt und die Kolleginnen und Kollegen springen schon ein, wo es nur geht.
Wird die Situation nächstes Jahr besser?
Nächstes Jahr wird sicherlich nicht alles besser, aber es gibt einige Stellschrauben. Wenn sich mehr Menschen gegen Influenza impfen lassen, besonders Personen mit chronischen Erkrankungen und über 60-Jährige, sinkt die Belastung in den Kliniken in den Wintermonaten spürbar. Zudem müssen wir ehrlich darüber reden, ob Kliniken zukünftig in einem Sommer- und Wintermodus arbeiten müssen. Es wird nicht immer alles an jedem Tag des Jahres gehen wie bisher.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sprach zuletzt von „Panikmache“ der Kliniken beim Krankenstand.
Nein, das ist keine Panikmache. Das Gesundheitssystem steht unter extremem Stress. Das erleben wir in den Kinderkliniken besonders ausgeprägt. Die Kliniken sind am Limit. Die Rufe aus den Krankenhäusern sind auch ein Hilferuf der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass es so einfach nicht mehr weitergehen kann. Das darf man nicht kleinreden.
Macht sich bemerkbar, dass viele Pflegekräfte und Ärzte wegen der hohen Arbeitsbelastung in der Pandemie gekündigt haben?
Es gab eine ganze Reihe von Kündigungen, aber noch deutlich mehr Kolleginnen und Kollegen haben ihre Arbeitszeit reduziert. Wenn man eine 100-Prozent-Stelle auf 80 Prozent reduziert, bedeutet das im Schichtsystem, dass es ab sofort 20 Prozent weniger Kapazitäten gibt. Das macht uns im Moment sehr zu schaffen. Für die Nachbesetzung vieler Stellen gibt es außerdem einfach keine neuen Kräfte auf dem Arbeitsmarkt. Aber ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Ärzte und Pflegekräfte mit einer Arbeitszeitreduktion auf die enorme Last reagieren.
Glauben Sie, die lassen sich wieder zurückholen?
Wenn es grundlegende Änderungen in den Kliniken geben und die Arbeitsbedingungen verbessert würden, dann würden einige sicherlich wieder ihre Arbeitszeit aufstocken. Bei Pflegekräften und Ärzten, die gekündigt haben, wird aber realistisch wohl kaum jemand zurückkommen.
Blicken wir nach vorne: Ist die Corona-Pandemie nach diesem Winter vorbei?
Ja, ich rechne fest damit, dass die Pandemie jetzt zunehmend ausläuft. Das ist wie ein Stein, den man ins Wasser wirft und der am Anfang eine sehr hohe Welle erzeugt, die dann immer kleiner wird. So ähnlich ist es im Moment auch mit der Pandemie. Sicherlich werden wir noch die eine oder andere kleine Welle erleben. Aber wir merken, dass die Immunitätslage der Bevölkerung solide ist und wir auf den Intensivstationen deutlich weniger Covid-Patienten haben. Da ist die Influenza jetzt das größere Problem.
Rechnen Sie damit, dass uns noch einmal eine neue Corona-Variante gefährlich wird?
Wir befinden uns gerade in einem sehr günstigen Szenario und ich glaube nicht, dass wir noch einmal eine wirklich gefährliche Variante bekommen. Die Immunität der Bevölkerung gründet sich nicht nur auf die Antikörper, sondern auch auf die T-Zellen. Die Abwehr von Coronaviren funktioniert offenbar sehr gut. Wir sehen, dass die Zahl der schweren Erkrankungen immer mehr abnimmt. Ich glaube nicht, dass wir noch einmal einen Rückschlag erleben.
Hat Deutschland aus der Corona-Pandemie gelernt?
Im Gesundheitswesen haben wir einige wirklich gute Dinge gelernt und zum Beispiel ein Kapazitätsmonitoring eingeführt. Krankenhäuser haben gelernt zusammenzuarbeiten, das war vorher selten der Fall. Wir haben gute regionale Netzwerke in der Medizin geschaffen und gesehen, dass wir im Abwasser Viren aufspüren können. Das sollten wir jetzt für Influenza und RSV ausbauen.
Das klingt sehr positiv.
Ja, aber gleichzeitig stört mich die viele Kritik an einzelnen Maßnahmen, die jetzt im Nachhinein geäußert wird. Viele reden die Maßnahmen schlecht, ohne sich in die Situation von damals hineinzuversetzen. Wir hatten noch keine Erfahrungen und waren auf eine weltweite Pandemie nicht vorbereitet. Natürlich hätte manches im Nachhinein anders entschieden werden können und sollen. Aber mit Blick auf die Sterblichkeit einer immer älteren Bevölkerung sind wir im internationalen Vergleich gut durch die Pandemie gekommen.
Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie gut ist Deutschland für die nächste Pandemie gewappnet?
Ich sehe uns bei einer sieben und wir sollten jetzt überlegen, was wir aus der Pandemie mitnehmen und wie wir uns besser auf neue Krisensituationen vorbereiten. Das muss keine Pandemie sein, sondern kann zum Beispiel auch eine andere Herausforderung im Gesundheitswesen sein. Ich sehe das als gemeinsame Aufgabe für viele Einrichtungen an, vom RKI über mehrere Bundesministerien bis hin zum Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung.
Jetzt steht Silvester bevor, worauf stellen Sie sich in den Kliniken ein?
Wir haben schon jetzt eine extrem starke Belastung der Notaufnahmen und an Silvester spitzt sich die Situation traditionell zu. Wir haben häufig Verletzungen verschiedenster Organe, z.B. in den Augen und an den Händen. Gerade vor dem Hintergrund der Lage in den Krankenhäusern sind wir auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen, sich sehr besonnen zu verhalten. Ich appelliere eindringlich an die Menschen, die Kliniken zu entlasten und auf das Böllern zu verzichten oder zumindest auf ein Minimum zu reduzieren. Ein Verbot halte ich nicht für notwendig, sondern hoffe auf den gesunden Menschenverstand. Auch angesichts des Krieges in der Ukraine halte ich es für mehr als fraglich, dass man überhaupt Raketen verschießen oder böllern muss.
In unserem Interview im Februar haben Sie gefordert, Kliniken zu fusionieren, um die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte zu reduzieren. Im Abschlussbericht der Krankenhausreform, die Sie mitgestaltet haben, ist davon jetzt keine Rede. Warum nicht?
Das stimmt, aber die Fusion von Kliniken ist trotzdem Bestandteil des Konzepts. Im Fokus steht aber, dass wir das Vergütungssystem der Krankenhäuser reformieren. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass sich Kliniken zusammentun, sich die Arbeit durch das Zusammenlegen von Standorten besser aufteilen können und letztlich effizienter sind.
Die Kliniken sollen also nicht zur Fusion gezwungen werden, sondern selbstständig ihre Häuser zusammenzulegen?
Am Ende sind es die Krankenhausträger und hier vor allem Länder und Kommunen, die über Fusionen entscheiden müssen. Wir regen aber sehr dazu an, den von uns vorgeschlagenen Weg für effizientere Strukturen einzuschlagen. Einige Krankenhäuser, könnten in ambulant-stationäre Zentren mit Akutpflegebetten umgewandelt werden.
Viele Menschen wollen aber eine wohnortnahe medizinische Versorgung. Wie wollen Sie das sicherstellen?
Wir wollen regional die Grundversorgung auch in Zukunft sicherstellen. Aber für 80 Prozent der Erkrankungen brauchen wir keine riesige Diagnostik und Therapie sage ich als Internist. Das geht also auch im kleinen Rahmen vor Ort, ohne ein Vollprogramm vorhalten zu müssen. Wenn wir über wirklich große Eingriffe sprechen, wie eine Krebsbehandlung, dann sind größeren Kliniken gefragt. Diese sogenannten Level zwei und Level drei Kliniken sollten so gut verteilt sein, dass die meisten Menschen sie innerhalb von 30 bis maximal 45 Minuten erreichen können. Diese Kombination aus der Grundversorgung vor Ort und der spezialisierten und qualitativ deutlich besser ausgestatteten Versorgung etwas weiter entfernt, ist in meinen Augen ein sehr zukunftsträchtiges Konzept.
Ziel der Reform ist, mit genauso viel Geld eine höhere Qualität der Krankenhäuser zu erreichen. Wie steht es denn um die Qualität derzeit?
Im internationalen Vergleich haben wir grundsätzlich eine sehr hohe Qualität in der medizinischen Versorgung. Aber bei ganz vielen Eingriffen und Erkrankungen liegen wir nur im europäischen Mittelfeld. Denn wir haben sehr viele Krankenhäuser, die alle erdenklichen Leistungen anbieten, aber zum Teil kaum Erfahrungen haben, und schon gar nicht 24/7. Es gibt vielerorts zu wenig Routine, um insbesondere auch die Komplikationen jederzeit zu behandeln. 24/7 ist eine riesige Herausforderung für eine qualitativ gleichmäßige Versorgung. Das ist zum Beispiel bei Krebserkrankungen sehr gut erforscht: Behandelt ein Krankenhaus sehr viele Patienten mit Lungenkrebs, sind die Überlebenschancen deutlich besser als in Kliniken mit sehr wenigen Krebsbehandlungen.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat bereits kritisiert, dass die Kliniken nicht mit mehr Geld ausgestattet werden.
Mehr Geld führt nicht per se zu mehr Qualität. Wir stecken schon jetzt 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts in das Gesundheitswesen und 3,4 Prozent in die Krankenhäuser – und es wird immer mehr. Beides ist im internationalen Vergleich sehr viel. Wir haben außerdem keine Möglichkeit, mehr Personal in den Kliniken einzustellen, weil es auf dem Arbeitsmarkt einfach niemanden mehr gibt. Wir müssen der Realität ins Auge schauen und nicht so tun als wenn dies mit Geld lösbar wäre. Deshalb müssen wir die vielen Standorte so umstrukturieren, dass der Personalschlüssel besser wird. Fallpauschalen soll es aber weiterhin geben, obwohl dieses System Kliniken dazu animiert hat, möglichst viele teure und oft auch nicht notwendige Operationen vorzunehmen. Bisher sind 100 Prozent der Vergütung an die Fallpauschalen gekoppelt und wir wollen diesen Satz auf etwa 60% reduzieren. Krankenhäuser erhalten sogar pauschal 60 Prozent für die Notfallmedizin und dort nur noch 40 Prozent über Fallpauschalen ausgezahlt. Wenn eine Klinik als Beispiel viele Herzklappen eingesetzt und 40 Prozent ihres Budgets bereits erhalten hat, bekommt sie für jede weitere Herzklappe über das Vorhaltebudget hinaus nur noch 60 Prozent. Als Klinik überlegt man sich dann ganz genau, ob das wirklich notwendig ist. Ich halte das für den goldenen Mittelweg. Extreme Mengenausweitungen wie bisher werden unattraktiv.
Mehr Operationen bringen aber weiterhin mehr Einnahmen – wenn auch nur 60 Prozent mehr.
Das stimmt und das halte ich auch für vertretbar, denn sonst würde sich der Eingriff überhaupt nicht lohnen. Aber das wirtschaftliche Interesse ist nicht mehr so hoch, möglichst viele teure Operationen vorzunehmen. Deswegen bin ich optimistisch, dass unser Vorschlag den ökonomischen Überdruck im Krankenhaussystem herausnehmen kann. Aber Ökonomie ist grundsätzlich sehr sinnvoll, sonst sind die Sozialversicherungen irgendwann für Normalverdiener nicht mehr bezahlbar.