Täglich sterben in Köln im Schnitt drei Menschen einsam in ihren Wohnungen – zuständig ist dann die Stadt. Unterwegs mit Ermittlern des Ordnungsamtes.
Kölns einsame Tote„Der Boden war voller Fliegen, man ging wie auf Popcorn“
Das ganze Wochenende schon hat er sich nicht auf der Straße blicken lassen. Auch am Montag und Dienstag ist in der verkehrsberuhigten Reihenhaussiedlung im Kölner Westen nichts zu sehen von Michael Brehm (Name geändert). Auf Klingeln und Klopfen reagiert der Rentner nicht. Sein Nachbar macht sich Sorgen, der 82-jährige Brehm lebt alleine in seinem dreigeschossigen Sechziger-Jahre-Haus nebenan. Am Mittwoch weiß der Nachbar sich nicht mehr anders zu helfen und wählt den Notruf.
Polizei und Rettungsdienst kommen schnell. Feuerwehrleute stemmen die Terrassentür auf. Sie finden Michael Brehm leblos im Wohnzimmer, seine Leiche liegt auf dem Boden. Im Totenschein kreuzt der Notarzt „Todesursache unklar“ an. Die Polizei ermittelt, findet aber keine Hinweise auf einen Einbruch und am Körper des Rentners keine Spuren von Gewalt. Brehm, so stellt die Kripo bald fest, ist eines natürlichen Todes gestorben. Die Ermittlungen werden eingestellt, die Leiche eingeäschert, aber noch nicht bestattet.
Stadt Köln muss einsam Verstorbene bestatten lassen
Weil der Rentner offensichtlich keine Angehörigen hat, die sich um die Beisetzung kümmern könnten, informiert die Polizei die Stadt Köln. Zuständig für solche Fälle ist das Ordnungsamt.
Alles zum Thema Ordnungsamt Köln
- Alkoholverkauf Jugendliche Testkäufer decken vor Sessionsstart 39 Verstöße in 50 Kölner Kiosken auf
- Bombensprengung in Köln-Merheim Patienten in Kliniken zurückgekehrt – Halteverbote nicht mehr gültig
- Bombenfund in Köln-Merheim Aufwendigste Evakuierung seit Kriegsende – Hinter den Kulissen eines Ausnahme-Einsatzes
- Leserbriefe zum Straßenmusiker-Casting „Regelung längst überfällig“
- „Verweigerung ist unverständlich“ Stammgäste starten Petition für Kaffeemobil in Lindenthal
- Geräte neu im Einsatz Bodycam half Kölner Ordnungsamt an Karneval bei Einsatz gegen Schläger
- Pilotprojekt gestartet Kölner Ordnungsamt ist jetzt mit Bodycams unterwegs
An einem Vormittag Ende Mai stehen Corina Schneider und Sebastian Baals vor dem Haus von Michael Brehm. Den Türschlüssel haben sie von der Polizei. Die beiden Außendienstkräfte des Ordnungsdienstes streifen sich weiße Einmal-Overalls über. Sie steigen in Schuhüberzieher, ziehen OP-Masken und Plastikhandschuhe an. „Ich betrete immer noch jede Wohnung mit Herzklopfen“, sagt Schneider. „Man weiß nie, was uns hinter der Tür erwartet.“
Der 39-Jährige erzählt von einem Fall, bei dem eine Person mehrere Wochen tot in der Badewanne lag. „Als wir hinzukamen, war die Leiche schon weggebracht“, sagt Baals. „Aber die Umrisse des Körpers waren noch erkennbar. Der Boden war voller Fliegen, man ging wie auf Popcorn, dazu der Geruch – so etwas lässt mich nicht kalt.“ Im Haus von Michael Brehm sind solche Zustände nicht zu erwarten, das immerhin wissen Baals und Schneider aus der dürren Erst-Information der Polizei.
Köln: Anonymität in der Großstadt nimmt zu
10.500 Menschen sind voriges Jahr in Köln gestorben, davon 1073 einsam, also ohne auf den ersten Blick Angehörige oder enge Vertraute zu hinterlassen. Die Zahlen steigen seit Jahren: 1002 Fälle waren es noch 2022, 907 im Jahr 2020. „Das Leben in der Stadt ist sehr anonym geworden“, sagt Sebastian Baals, sogar in kleineren Mehrfamilienhäusern. „Die älteren Bewohner kennen sich da untereinander noch eher.“
Im Zweifel muss das Ordnungsamt herausfinden, ob noch Angehörige oder Erben existieren, die informiert werden müssen – auch, damit sie sich um die Beisetzung kümmern. Gesetzlich zur Bestattung verpflichtet sind nicht etwa grundsätzlich die Erben. Sondern Ehegatten, Lebenspartner, volljährige Kinder, Eltern, volljährige Geschwister, Großeltern und volljährige Enkelkinder – in genau dieser Reihenfolge.
Kommen die städtischen Ermittler in Datenbanken oder im Einwohnermeldeamt allein nicht weiter, geht es nur mit detektivischer Kleinarbeit. Dann müssen Mitarbeiter rausfahren und die Wohnungen und Häuser der Verstorbenen nach Hinweisen auf Verwandte durchsuchen. Außerdem Wertgegenstände und Vermögen der Toten sichern – zum einen, damit nichts abhanden kommt, zum anderen, um im Zweifel die Bestattungskosten decken zu können. „Nachlasssicherung“ nennt sich das im Behördendeutsch. Denn finden sich keine Hinterbliebenen, muss die Stadt die Beisetzung und die Kosten von ungefähr 2500 Euro selbst übernehmen.
2022 war das in Köln 553-Mal der Fall, mehr als hundert Mal öfter als noch 2020. Diese sogenannten ordnungsbehördlichen Bestattungen finden auf dem Friedhof Deutz und auf dem Südfriedhof statt, auf speziellen Gräberfeldern. Jeder Tote erhält eine Stele mit Namensschild.
Sehr oft haben es die Ermittler mit vermüllten Wohnungen zu tun, mit Fliegen und Maden und Fäulnisgeruch. Sebastian Baals sagt, er komme damit ganz gut klar. Aber auch er hat schlechte Tage. „Wenn es mal gar nicht geht“, sagt Baals, „dann brechen wir ab, das hat immer auch mit der eigenen Tagesform zu tun, dann kommt ein anderes Team, dem das an diesem Tag vielleicht weniger ausmacht.“
Baals schließt die Haustür auf. Ein muffiger Geruch schlägt dem Ordnungsteam entgegen. Wie in einer möblierten Ferienwohnung, die nur alle paar Monate gelüftet wird. „Es riecht okay“, findet Baals. „Es ist sauber und der Boden ist begehbar – das hat man eher selten.“
Im Wohnzimmer blättert die Tapete von der Wand. In der Mitte steht ein Tisch mit vier Stühlen, an der Wand lehnen Besen, in einer Ecke liegt ein alter Staubsauger. Ansonsten ist das Zimmer leer, genau wie der Kühlschrank in der Küche.
Köln: Ermittler suchen nach Testament, Telefonbüchern und Wertsachen
Irgendwann in den 70er Jahren scheint die Zeit im Haus stehen geblieben zu sein. Roter Teppichboden liegt auf den hölzernen Treppenstufen. Im Schlafzimmer eine rosagemusterte Stofftapete, an der Wand hängt ein Gesteck aus Kunstblumen. In der Mitte ein Bett mit Matratze, das offenbar lange nicht mehr benutzt wurde. Staub hat sich überall niedergelegt. Die beiden Nachttische und der massive Kleiderschrank aus dunklem Holz – Jahrzehnte alt.
Seine letzten Jahre hat Michael Brehm offenbar hauptsächlich im Dachgeschoss zugebracht. Zwei kleine Zimmer, ein abgewetzter Ledersessel, ein alter Holztisch, mehrere Fernseher und Videorekorder, hüfthohe Regale mit Büchern und Stadtplänen und in der Ecke ein Bett. Das Kopfkissen fleckig.
Auf dem Tisch herrscht eine fast absurde Ordnung: 20 Euromünzen liegen akkurat nebeneinander, nach Wert sortiert. Vier gefaltete Stofftaschentücher zur rechten, vier Kugelschreiber zur linken. Mehrere Lesebrillen griffbereit und sieben funktionstüchtige Funkuhren in Sichtweite, exakt im selben Abstand zueinander aufgereiht. An der Wand hängen Fleischerhaken mit aufgerollten Elektrokabeln, Werkzeug und ein Pizzaschneider.
Baals und Schneider schauen in die Regale, finden Infomaterial über die Anlage von Wertdepots, ein Telefonbuch mit Nummern und Namen, eine Einladung zu einer Hochzeit. Sie versuche zwar grundsätzlich, sich auf den Job zu konzentrieren, auf die Durchsuchung, sagt Corina Schneider.
Trotzdem bekommen die Toten für sie mit jedem Dokument, das sie findet, mit jedem Familienfoto an der Wand ein schärferes Gesicht, eine Geschichte. „Man sieht ein halb fertig geschmiertes Brot auf dem Tisch und weiß: Hier hat bis vor kurzem jemand gelebt. Der Tod kann von jetzt auf gleich eintreten.“ Mit ihren Gedanken bleibt Schneider nicht allein. Im Team werde viel gesprochen, sagt sie, man tausche sich aus unter den Kollegen. Das sei auch wichtig bei der Verarbeitung.
Baals hebt die Schreibtischunterlage an, tastet die Unterseiten eines Stuhls ab, wuchtet mit Schneider die Matratze aus dem Bett. Die 44-Jährige blättert Bücher durch, auf der Suche nach Dokumenten und Banknoten. Viele Menschen haben Geldscheine und Wertsachen versteckt. Die Suche sei ihm durchaus „ein bisschen unangenehm“, räumt Baals ein. „Es sind ja nicht unsere Schränke, ich dringe tief in die Privatsphäre eines Menschen ein.“ Schneider betont: „Ich gehe da mit sehr viel Respekt dran.“ Aber letztlich, sagt Baals, wolle er dafür sorgen, „dass die Angehörigen informiert werden, dass sie sich verabschieden und trauern können.“
In einem Eierkarton neben dem Bett entdeckt der 39-Jährige einen geladenen Gasrevolver und einen Schlagstock. „Vielleicht hatte er Angst, überfallen zu werden.“ Im Nebenzimmer finden die Ordnungsdienstler zwei weitere Pistolen und drei Jagdmesser. Schneider informiert die Polizei, eine Streife wird die Waffen gleich abholen.
Nach knapp drei Stunden finden die Ermittler, wonach sie gesucht haben: Hinter einer verschlossenen Klappe in einem Sekretär liegt eine Uhrensammlung, eine Goldmünze, Kontoauszüge und Bankdepots mit Summen im sechsstelligen Bereich. Und: ein handgeschriebenes Testament, ausgestellt an drei Personen. Die Kollegen der Sachbearbeitung werden nun versuchen, die Erben ausfindig zu machen.
Bevor Baals und Schneider das Haus verlassen, fotografieren sie alle Räume so, wie sie sie hinterlassen haben und nehmen die Wertsachen mit. Im Flur hebt Baals einen Brief auf, den jemand unter der Haustür hindurch geschoben hat. „An die Angehörigen“ steht auf dem Umschlag. Baals überfliegt den Text: Ein Nachbar kondoliert. Und schreibt, er würde gerne das Haus kaufen.