Ehrenfeld – Manchmal verbinden sich gestern und morgen ganz absichtslos: Oben in dem Korb eines Kranwagens stehen zwei Männer, die lange schwarzweiße Fotobahnen kleben. Unten schiebt eine junge Mutter ihren Kinderwagen an dem Bunker k101 an der Ehrenfelder Körnerstraße vorbei, ein Kleinkind an der Hand. „Interessantes Foto, das ihr da klebt“, ruft sie rauf in luftige Höhe, „was ist denn das für ein Retro-Teil?“
Unten steht Ausstellungsmacher Markus Schaden und grinst zufrieden: Treffer! Dass seine Idee aufgeht, das spürt man schon, bevor die Vernissage überhaupt los geht. In der Körnerstraße trifft urbane Zukunft auf urbane Nostalgie und wird zum Stadtprojekt: Das überdimensionale Schwarz-weiß-Foto ist Teil einer Ausstellung im Innern des Bunkers über eine kölsche Legende, quasi über den Inbegriff der kölschen Straße.
Gleichzeitig ist es Teil eines Zukunftslabors, das herauskristallisieren soll, was eine lebendige urbane Straße heute sein soll: Das überdimensionale Motiv ist Teil des legendären Fotobuchs „Unter Krahnenbäumen“, das der Kölner Fotograf Chargesheimer genau vor 60 Jahren im September 1958 publizierte, versehen mit dem Nachwort „Straßen wie diese“ von Heinrich Böll, später besungen von Wolfgang Niedecken.
Es zeigt die Straße am Eigelstein, die nur „UKB“ genannt wurde. Ein Jahr lang hatte der Fotograf damals die Menschen der Straße begleitet, lebte mit und unter ihnen. Schön war UKB nicht: rissige Fassaden, graue Häuser – aber hier spielte sich das Leben ab. Die Straße war Wohnzimmer und Tanzparkett. Chargesheimer fotografierte Kinder beim Straßenspiel, Heranwachsende beim Tanz, Verliebte und einsame Alte, Fronleichnamsprozession und Kirmes. Ein Kaleidoskop wie ein sehnsuchtsvoller Abgesang auf eine im Vergehen begriffene städtische Lebenswelt. Fortschritt und Kapitalismus machten UKB nur wenige Jahre nach den Aufnahmen den Garaus: Der Bau der sechsspurigen Nord-Süd-Fahrt zerriss „Unter Krahnenbäumen“ in zwei Teile und nahm der Straße ihre Seele.
Dass der Ehrenfelder Fotobuchkünstler Schaden die Chargesheimer-Bilder in der Ausstellung „Ein Buch über eine Straße – eine Straße über ein Buch“ im Bunker k101 in der Körnerstraße präsentiert, ist mehr als eine Jubiläums-Hommage. Er will mit einem auf mehrere Jahre angelegten Projekt in der Körnerstraße eruieren, was eine lebendige, urbane Straße heute sein kann. „Danach suchen doch alle. Und darum zieht es doch so viele wieder in die Stadt.“
„Unter Krahnenbäumen“ wird zum Modell
Dabei dient UKB, dieser „Archetyp einer Straße“ als optische und inhaltliche Folie: Im Laufe der kommenden Wochen sollen noch andere Fassaden der Straße Bilder von Chargesheimer tragen und so Vergangenheit und Zukunft verweben. Dies ist der optische Rahmen für die Suche, die in Gesprächsrunden und Stadtteiltreffs, in Hinterhöfen, Ateliers und Wohnhäusern fortgesetzt wird. „Wir suchen die verlorene Utopie. Wir wollen nach vorne blicken durch die Fotos von früher.“ Die Körnerstraße quasi als Modelllabor, weil sie so etwas wie UKB von heute ist: In der Ehrenfelder Straße leben alteingesessene Senioren, Künstler, Familien, Kreative, Migranten und die Hipster, die den lebendigen Charme der Straße entdeckt haben. Jeder kennt jeden. Man lebt das Draußensein ohne Konventionen, trifft sich in Hinterhöfen, gründet Initiativen, feiert das inzwischen stadtweit bekannte Körnerstraßenfest.
Dabei hat das nichts von konstanter Idylle: „Fiesta, Tanz auf der Straße und alte Leute, das geht nur mit ganz viel miteinander Reden und mit Respekt vor der Lebensart der jeweils anderen“, konstatiert Schaden. Dass die Lebenswelten und Milieus hier verschieden sind, wird sofort deutlich: Die Traditionsgaststätte „Em Höttche“, davor das Allerweltshaus, in dem für Geflüchtete Sprachkurse und gemeinsame Kochevents angeboten werden. In der Nachbarschaft die stylische Kaffeerösterei Van Dyck oder der Industriekultur-Shop „Utensil“. „Die einen wollen den Begegnungsraum Straße genießen, die anderen wollen berechtigterweise ihre Ruhe. Da suchen wir immer wieder neu nach der Balance.“ Natürlich knallt das auch mal. Viel Dialog ist für Schaden der Schlüssel zu zukunftsfähiger Urbanität: „Die Leute wollen nichts aufoktroyiert bekommen, die wollen mitreden und gestalten.“
Aus dem Begegnungsraum Straße entsteht viel gesellschaftliches Engagement. Etwa wenn es um das große Thema Wohnen und Gentrifizierung geht. Das Hipster-Attribut hat auch in der Körnerstraße die Immobilienpreise in schwindelnde Höhen steigen lassen. „Aber wir lassen uns unsere Straße nicht abkaufen.“ Als vor kurzem ein Haus für eine irre Summe an einen Investor verkauft werden sollte, der hier teure Eigentum-Apartments installieren wollte, machte die Nachbarschaft geschlossen so lange mobil, bis der Investor einen Rückzug machte.
Funktionierende Nachbarschaft als Waffe gegen Gentrifizierung – auch das soll im Modelllabor Körnerstraße gelernt werden. Wenn am Ende eine neue Legende stehen würde, hätte Schaden nichts dagegen. Im Rahmen des Projekts werden auch Bilder der Körnerstraße von früher gesucht und solche von heute gemacht. Für ein neues Fotobuch.