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Interview

Navid Kermani
„Diese Lieblosigkeit kenne ich nur von Köln“

Lesezeit 22 Minuten
Der Schriftsteller Navid Kermani am Ebertplatz in Köln

Der Schriftsteller Navid Kermani am Ebertplatz in Köln 

Der Schriftsteller Navid Kermani ist bekennender Kölner. Er spricht aber auch über unhaltbare Zustände in seinem Veedel rund um den Ebertplatz.

Herr Kermani, bereits vor der aktuellen Debatte über den Zustand Kölns haben Sie über die „Verwahrlosung in vielen deutschen Innenstädten“ geschrieben. Damit meinten Sie doch bestimmt auch Köln, oder?

Ja, schon. Ich lebe ja mittendrin, am Eigelstein, ganz nah am Ebertplatz, da erlebe ich das hautnah mit.

Die Weltordnung gerät aus den Fugen – und wir reden über das Straßenbild in Köln. Ist das angemessen?

Alles zum Thema Polizei Köln

Ich sehe keinen Widerspruch darin, auf das eigene unmittelbare Umfeld zu blicken und zugleich auf die Welt. Vielleicht gibt es sogar einen Zusammenhang zwischen dem Kleinen und dem Großen.

Nämlich?

Erst einmal: Die Probleme im öffentlichen Raum sind nicht auf Köln beschränkt. Die Probleme in den Innenstädten sind überall in Deutschland ähnlich: Drogenhandel, Obdachlosigkeit, Kriminalität, Vermüllung, Leerstand, Elendsprostitution und so weiter. In Köln ist das allenfalls noch etwas offenkundiger als anderswo. Aber auch in anderen Innenstädten kann der Staat wesentlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen: Ordnung im öffentlichen Raum, eine funktionierende Infrastruktur, gut ausgestattete Schulen, Sicherheit, Sauberkeit, eine breite Kulturförderung. Da muss man sich fragen: Warum ist das so? Ist es die finanzielle Ausstattung der Kommunen? Der mangelnde Gemeinsinn? Das Elend der Welt, das bei uns einzieht?

Die Probleme im öffentlichen Raum sind nicht auf Köln beschränkt.
Navid Kermani

Was denken Sie?

Ich weiß es nicht. Ich weise nur darauf hin, dass es eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist, und vielleicht würde es schon helfen, sich anzuschauen, wie andere große Kommunen damit umgehen und was die politischen Ursachen sind. Denn abgesehen von den Unannehmlichkeiten für die Anwohner selbst bieten diese Brennpunkte genau die Bilder und erzeugen genau die Ängste, die sich Rechtsextremisten und Demokratiefeinde zunutze machen: „Schaut euch doch an, wie es bei uns aussieht!“

Das ist auch das das, was in den russischen Medien rauf und runter erzählt wird oder seit neuestem eben von Elon Musk oder J. D. Vance: der Verfall Deutschlands, der Verfall Europas. Bestimmte Problemviertel – die es gibt – werden zum Ausweis eines allgemeinen Niedergangs genommen. Dass es in den allermeisten Gegenden weiterhin sehr kommod zugeht und manche andere Viertel sogar prosperieren, wird in dieser Propaganda natürlich ausgeblendet.

Kermani: Auch in Deutschland immer mehr Milliardäre

Stimmungsmache mit einem sachlichen Kern?

Die einen warnen vor Überfremdung, das ist nicht neu. Was relativ neu ist: Der Ruf aus Amerika, in den ja sogar die bürgerliche FDP einstimmt, nach Disruption, nach Abbau des Staates. Dabei ist es zumindest auf kommunaler Ebene offensichtlich, dass der Staat nicht zu stark, sondern im Gegenteil inzwischen viel zu schwach ausgestattet ist, um den Problemen zu begegnen. Und wenn Sie die Infrastruktur nehmen, Bahnschienen, Brücken, das Bildungssystem und so weiter, dann wirkt der Staat auch auf den höheren Ebenen oft nicht mehr ausreichend handlungsfähig.

Gleichzeitig werden aber einzelne globale Unternehmen immer mächtiger, gibt es auch in Deutschland immer mehr Milliardäre, geht die Schere von arm und reich überall auf der Welt weiter auseinander, und der reichste Mann von allen, der allein so viel Vermögen besitzt so groß wie der gesamte deutsche Haushalt, führt einen Kampf, um überall öffentliche Verwaltungen zu zerschlagen und Regulierungen abzubauen – letztlich um das freiwerdende Geschäft zu übernehmen. Und Musk bedient dabei bewusst nicht nur die Narrative von Rechtsextremisten, sondern befördert diese durch Gelder, Falschinformationen, Informationssteuerung in den sozialen Netzwerken.

Ich sehe gerade auch keine Alternative, als Geld in die Hand zu nehmen.
Navid Kermani

Und wenn Sie das auf Köln herunterbrechen?

Dann sind da ältere Menschen wie meine Mutter, die, wenn sie U-Bahn fahren, mit ihrem Rollator in Köln jeden Tag vor einer defekten Rolltreppe, einem defekten Aufzug stehen, während gleichzeitig allein im Jahr 2024 der Dax um 15 Prozent geklettert ist. Das passt einfach nicht zusammen, damit sollte man sich nicht abfinden.

Die künftigen Koalitionspartner CDU/CSU und SPD wollen jetzt sehr, sehr viel Geld in die Hand nehmen, um Problemen abzuhelfen, wie Sie sie eben beschrieben haben.

Und häufen gigantische Schulden an, mit denen die nachfolgenden Generationen klarkommen müssen. Aber ich sehe gerade auch keine Alternative, als Geld in die Hand zu nehmen, um den Staat in den Stand zu setzen, dass er seinen wesentlichen Aufgaben nachkommen kann. Allerdings sehe ich nicht, dass die künftigen Koalitionäre wirklich die Finanzausstattung der Kommunen angehen, die aus dem Lot geraten ist, besonders in Westdeutschland. In Ostdeutschland wurde nach der Einheit viel investiert, das zeigt sich heute im Stadtbild, wenn man durch Städte wie Schwerin, Dresden oder auch viele kleine Städte wie Meiningen, Görlitz oder Weimar geht, wo ich zuletzt war. Im Vergleich wirken Kommunen wie Gelsenkirchen, Duisburg, aber auch eine Millionenstadt wie Köln geradezu abgehängt.

„Trump ist ein Narzisst durch und durch“

Geht es denn nur um Geld?

Womöglich hat sich auch etwas im Verhältnis von individueller Freiheit und Gemeinsinn verschoben. Der Mensch ist ja beides, Individuum und Gemeinschaftswesen, und das sollte einigermaßen im Ausgleich sein. Im 20. Jahrhundert haben wir gerade in Deutschland auf fürchterliche Weise erlebt, was passiert, wenn kollektive Werte überbetont werden. Im Islamismus oder anderen Ideologen geschieht es ebenfalls. Zuletzt ist im kapitalistischen System des Westens vielleicht etwas in die andere Richtung ins Ungleichgewicht geraten, zugunsten eines überbetonten Individualismus.

Die dauernde Selbstbespiegelung im Identitätsdiskurs – wie geht es mir, was tut mir gut, welche genaue Benennung der ethnischen, religiösen oder sexuellen Identität ist die richtige? – ist die Kehrseite davon. Einerseits sehen wir, dass man sich viel schneller von anderen verletzt fühlt und daher ständig achtgeben soll. Darin steckt durchaus auch ein Narzissmus. Andererseits erleben jetzt auf der Weltbühne Anführer, denen offenkundig alles egal ist, was nicht zu ihrem eigenen Vorteil ist. In beiden Fällen, nur sozusagen spiegelverkehrt, sehe ich eine Übermäßigkeit des eigenen Ichs. Ein Mann wie Donald Trump ist einerseits Rollenmodell, andererseits aber auch Verkörperung von Verhaltensweisen und Antrieben, die sich in der Gesellschaft insgesamt ausbreiten.

Der Trump in uns allen?

Trump ist – das wird man sagen können – ein Narzisst durch und durch.

Navid Kermani am Ebertplatz

Navid Kermani am Ebertplatz

So, und wenn Sie jetzt mal den Eigelstein heranzoomen…

… dann beobachte ich auch da Männer, die einfach irgendwo hinpinkeln, egal ob da Kinder sind, Frauen, Passanten. Es ist ihnen – Verzeihung! - scheißegal. Und wenn man sie darauf hinweist, dass das widerlich ist, wird man auch noch beschimpft. Ich denke dann jedes Mal: Noch so ein Mini-Trump! Ich verstehe nicht, warum man diese Wildpinkler nicht konsequent sanktioniert, die zu einer Plage geworden sind, oft ganz normale Männer im Geschäftsanzug. Verwahrlosung ist offenkundig kein exklusives Problem der sogenannten Unterschicht oder einer fremden Kultur. Oder die E-Roller, die quer auf dem schmalen Bürgersteig abgestellt sind, jeder kennt das, jeder ärgert sich – wieso macht man so etwas? Ich verstehe diese Rücksichtslosigkeit nicht. Aber ich verstehe auch die Stadt Köln nicht, dass sie die E-Roller nicht wie andere Städte verbietet oder zumindest reguliert, also ihnen Abstellzonen zuweist. Bei den DB-Rädern geht das doch auch. Oder dass jeder immer überall glaubt, saufen zu müssen. Und wenn er gesoffen hat, sich eben zu erbrechen, was etwa in unserem Hauseingang inzwischen nicht mehr nur im Karneval geschieht.

Sie sagen, das ist schlimmer geworden?

Es gibt Trinker, die aus Osteuropa nach Köln reisen – mit dem einzigen Ziel, sich hier gemeinschaftlich ein paar Wochen lang volllaufen zu lassen. Das kann man rund um den Bahnhof und hier am Eigelstein regelmäßig morgens und mittags besichtigen, wenn die Schulkinder vorbeigehen. Die betteln nicht einmal, die saufen nur. Warum die nicht zuhause trinken – keine Ahnung. Aber es sind jedenfalls keine Flüchtlinge. Es gibt eine aggressive Drogenszene, in der viele Händler oft selbst Junkies sind, dem Augenschein und dem Sprachduktus nach Araber und Afrikaner. Mir ist unerklärlich, warum eine Gesellschaft das klaglos hinnimmt. Mit Willkommenskultur hat Toleranz gegenüber Drogendealern jedenfalls nichts zu tun. Das ist speziell für Frauen nochmal ein größeres Problem als für Männer, wenn sie abends von der U-Bahn nach Hause gehen wollen.

„Der Kölner Eigelstein war nie ein gelecktes Viertel“

Hat sich auch da etwas verändert?

Der Eigelstein war – seit ich hier lebe – nie ein gelecktes Viertel. Im Grunde bin ich genau deshalb hierhin gezogen. Es gibt ja auch einen Gegenwert: die tollen Kneipen und Restaurants, die bis spät in die Nacht noch offen sind, eine lebendige Kulturszene, die Buntheit, die vielen Sprachen, ein erstaunlich guter Zusammenhalt, mit dem Platz vor der Torburg der schönste Platz Kölns, dazu die Nähe zum Rhein. Manchmal frage ich mich, ob ich einfach nur älter geworden bin und Dinge heute als störend empfinde, die ich früher okay fand. Aber nein, ich glaube: Wildpinkler hätte ich immer schon ekelhaft gefunden, und die Obdachlosen, die Säufer, die offenkundig drogenabhängigen jungen Frauen, die für ein paar Euro ihren Körper anbieten, so dass man nur heulen möchte – das gab es früher nicht oder jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Außerdem wurde ich auch von anderen in meinem Viertel zuletzt immer häufiger angesprochen: Du hast eine Stimme, sag doch mal was!

Und jetzt reden Sie?

Ich habe mich schon vor geraumer Zeit an die OB gewandt – in einem persönlichen Brief, weil ich in ihr nicht die Schuldige sehe. Im Gegenteil, ich weiß, dass das Problem sie ebenfalls umtreibt. Tatsächlich hat sie auch direkt reagiert, und wir haben gemeinsam überlegt. Aber ehrlich gesagt, die Lösung haben wir beide nicht. Die einfache Lösung gibt es wahrscheinlich auch nicht. Aber um zumindest einzelne Lösungen zu finden, muss man die Probleme überhaupt erst einmal benennen. Und das hat Frau Reker im „Kölner Stadt-Anzeiger“ ja auch sehr offen getan. Das fand ich gut.

Ich habe nicht den Eindruck, dass Lindenthal verwahrlost oder Junkersdorf oder Sülz.
Navid Kermani

Aber zugleich gesagt, dass sie gegen die Verwahrlosung nichts machen kann.

Ich habe sogar ein gewisses Verständnis, dass die Verantwortlichen ebenfalls ratlos sind. Schon mal besser, als irgendwelche Parolen herauszubringen wie vor der Wahl die CDU mit ihrer Forderung nach Grenzschließungen überall, die sich weder verwirklichen ließen noch real etwas ändern würden. Wie gesagt, die eine tolle Lösung fällt auch mir nicht ein, aber das ist nun auch nicht meine Kompetenz. Ich bin kein Soziologe oder Experte für soziale Brennpunkte, sondern spreche und schreibe aus der Froschperspektive eines Bewohners. Aber wo ich widerspreche: Wenn die OB sagt, „Köln verwahrlost“, dann stimmt das in dieser Verallgemeinerung natürlich nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass Lindenthal verwahrlost oder Junkersdorf oder Sülz oder nicht einmal das Agnesviertel, das unmittelbar an den Ebertplatz reicht. Es sind bestimmte Viertel, der Eigelstein, der Neumarkt, zusätzlich zu den Vierteln wie Chorweiler oder Vingst, in denen es immer schon viel Armut gab. Aber muss man die Probleme auch noch mutwillig verschärfen?

Geschieht das denn?

Viele Menschen hier im Eigelstein fragen sich: Wieso müssen in einem Umkreis weniger als einem Kilometer gleich mehrere Unterkünfte für Flüchtlinge, Heime für unbegleitete Minderjährige, Drogenanlaufstellen und Obdachloseneinrichtungen sein? Wieso verteilt man das nicht besser auf die Stadt? Und jetzt soll ein paar hundert Meter vom Ebertplatz auch noch eine Erstaufnahmeeinrichtung für 700 Flüchtlinge entstehen. „Ist das klug?“, habe ich NRW-Innenminister Herbert Reul gefragt, weil dafür das Land zuständig ist, nicht die Stadt.

Seine Antwort?

Er wusste nichts von den Plänen, als er den Ebertplatz besuchte. Der Innenminister!

Und was sagte er dann?

Das könne doch wohl nicht wahr sein, er werde sich informieren. Was man als Politiker eben so sagt.

Navid Kermani: Die Leute ziehen weg vom Eigelstein

Wenn es um Flüchtlingsheime oder ähnliche Einrichtungen geht, heißt es in den jeweiligen Quartieren gern: „Not in my backyard“ – „nicht in meiner Nachbarschaft.“ Das kennen Sie, oder?

Die Menschen hier im Viertel sind tendenziell offen, aufnahmebereit. Die Grünen sind immer noch die mit Abstand stärkste Partei. Die AfD wird nicht sonderlich stark gewählt. Aber inzwischen ziehen die Leute weg, weil es für sie speziell mit Kindern immer unangenehmer wird oder weil sie keine Lust haben, auf dem Spielplatz die Kondome zu entsorgen, die von der Nacht liegengeblieben sind. Ich finde, das müssen wir benennen. Eine offene Gesellschaft bringt auch Lasten mit sich, und die können nicht von zwei, drei Vierteln allein getragen werden. Weil sonst Unmut, Ressentiments, Ängste wachsen. Und wenn sich nichts ändert, dann kippt so ein Viertel irgendwann.

Ich und fast alle meine Nachbarn, die ich kenne – wir möchten gern hier wohnen bleiben, wir wollen gar nicht in ein „bürgerliches“ Viertel, es ist weiterhin auch sehr vieles sehr schön hier am Eigelstein. Viele Bürger sind unglaublich aktiv, sei es der Bürgerverein oder die Künstlerszene am Ebertplatz. Aber jeden Tag der Uringeruch. Mindestens einmal im Monat eine Alkoholleiche auf dem Bürgersteig vor der Haustür, so dass man den Notarzt ruft, und 100 Meter entfernt der Ebertplatz, wo die Polizei steht und keine 20 Meter daneben ungerührt der Drogendealer, der mich sogar dann anspricht, wenn ich in kurzer Hose an ihm vorbeijogge – ich weigere mich, all das als gottgegeben hinzunehmen.

Die Polizisten hier im Viertel verhalten sich auffallend korrekt.
Navid Kermani

Und auch nicht als „typisch Köln“?

Vielleicht ist die Schweiz ja schon kein Maßstab mehr für uns – aber Österreich? Das ist kein reicheres Land, es ist wahrscheinlich den gleichen äußeren Einwirkungen ausgesetzt. Aber - o Wunder! - in den Innenstädten von Wien, Linz, Salzburg sieht es anders aus, sauberer, entspannter, sicherer. Und zu allem Überfluss fahren auch noch die Bahnen pünktlich. Vielleicht sollten wir mal von unserem hohen Ross des „Made in Germany“ herunterkommen und schauen, was anderen Ländern und Städten in Europa inzwischen viel besser gelingt als uns.

Zurück zu Köln: Wie sehen Sie die Arbeit der hiesigen Polizei?

Ich nehme das natürlich nur als Passant im Vorbeigehen wahr. Aber soweit ich das sehe, verhalten sich die Polizisten hier im Viertel auffallend korrekt. Davor habe ich großen Respekt. Allein schon, dass sie immer ruhig bleiben. Das muss ja auch für die Polizisten absolut frustrierend sein, wenn sie einen Dealer festnehmen, und eine Woche später steht der wieder am selben Platz.

Aber Reden allein hilft ja nun nichts.

Es wird schon auch was getan. Die Polizei ist immerhin an bestimmten Brennpunkten sehr präsent. Wie gesagt, viele Bürgerinnen und Bürgerinnen sind aktiv und geben sich viel Mühe. Jetzt gerade war Karneval, und da war es herrlich zu sehen, wie „Humba Efau“ und der „Singende Holunder“ Konzerte auf dem Ebertplatz veranstalteten, bei denen Hunderte spontan mitsangen – alle verkleidet bis auf mich. Ähnliches habe ich diesen Karneval auch anderswo gesehen. Allerdings sagte man mir, dass die Stadt Köln jetzt auch für diese Art Breiten- und Volkskultur, wo der Karneval an seine Ursprünge zurückkehrt, die Gelder gestrichen hat. Stattdessen werden Saufghettos wie auf der Zülpicher Straße und den Uniwiesen eingerichtet, und das nennt man dann Brauchtum. Teilweise sehe ich die Behörden wirklich eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung.

Woran denken Sie noch?

Schauen Sie aus dem Fenster: Gegenüber im Hof ist ein Hotel, das zu einem Flüchtlingsheim umfunktioniert wurde. Die Anwohner und selbst der Nachbar im Obergeschoss wurde darüber nicht informiert. Es gab nicht einmal einen Aushang. Ich bin dann ins Hotel rein, und da wurde mir gesagt, dass man bewusst niemanden informiert habe, denn die Nachbarn könnten ja etwas dagegen haben. Die Dame meinte mich, der ich seit mehr als 20 Jahren über Flucht und Fluchtursachen schreibe. Wenn jemand Verständnis dafür hat, dass man Flüchtlinge aufnimmt, und sei es gegenüber im eigenen Innenhof, dann wohl ich. Aber bei der Auskunft fühlte selbst ich mich wie vor den Kopf geschlagen.

„Jetzt zeigt die Polizei oft massiv Präsenz am Ebertplatz“

Und wie ist es mit der Flüchtlingsunterkunft?

Es ist okay, wir bekommen nichts Negatives mit. Am Anfang war es auf den Balkonen nachts oft laut, da habe ich mich bei derselben Dame beschwert. Den Ärger konnte sie nachvollziehen. Inzwischen wird dort die Nachtruhe eher eingehalten als zuvor von den Hotelgästen. Störend ist eher, dass der Besitzer das Hotel seither vollkommen herunterkommen lässt.

Sie meinen, weil’s im Hof fast schon nach einer Müllhalde aussieht?

„Es sind ja nur Flüchtlinge, die haben keine Ansprüche“, das ist wahrscheinlich die Logik. Hauptsache, er bekommt für jedes Zimmer für jede Nacht, vermietet oder nicht, sein Geld von der Stadt Köln. Das muss ein Bombengeschäft sein.

Für ihn. Der Wert der anliegenden Wohnungen sinkt wahrscheinlich.

Ja, das denke ich. Besonders für den Eigentümer im selben Haus.

Irgendwas müssen Sie doch im Sinn haben, wie es besser werden könnte.

Es gibt schon Ideen, die ich selbst habe, und vor allem auch Ideen, die ich in der Nachbarschaft höre. Jeder hier macht sich ja Gedanken. Zum Beispiel würden Fußstreifen der Polizei wahrscheinlich helfen. Das war früher üblich. Jetzt zeigt die Polizei oft massiv Präsenz am Ebertplatz. Das ist gut, aber in den Nebenstraßen und auf dem Eigelstein würde es helfen, wenn öfter mal eine Streife entlangliefe, und sei es nur, dass sie freundlich grüßt. Alkoholverbote auf der Straße an bestimmten Orten oder zu bestimmten Zeiten könnten etwas verbessern, also etwa auch tagsüber. Oder dass die Kioske den Alkohol nicht so billig verkaufen dürften. Oder öffentliche Toiletten. Oder wenn die vielen Dönerbuden auf der Weidengasse eine Lösung für den Müll suchten, den ihre Kunden hinterlassen.

Das sind jetzt alles kleine Dinge, aber wichtig wäre es, überhaupt erst einmal Schubumkehr zu schaffen, damit man das Gefühl bekommt: Es lohnt sich etwas zu tun, die eigene Heimat ist es wert. Im Augenblick wird uns ja auch von der Stadt Köln vermittelt, hier sei eh Hopfen und Malz verloren, dann kann man auch noch ein paar Hotels umwidmen, Hauptsache in den „besseren“ Vierteln bleibt man unbehelligt. Man sollte vielleicht auch schauen, ob anderen Städten bessere Lösungen gelingen. Die Probleme sind ja, wie gesagt, in den letzten Jahren überall ähnlich.

Der Kulturabbau, der in Köln in den letzten Jahrzehnten betrieben wurde, ist wirklich zum Heulen.
Navid Kermani

Bleiben wir noch mal bei den Köln-spezifischen Problemen!

Es ist viel gesagt worden über die Entwicklung des Karnevals. Der Karneval war vor 30 Jahren etwas völlig anderes als heute. Er ist in Teilen zu einem Massenbesäufnis geworden. Jeder weiß das. Und wundern sollte es niemanden: Köln hat sich über Jahre als „die“ Event-Stadt präsentiert, in der man es so richtig krachen lassen kann. Was Köln in der Außenwirkung einmal war, nämlich Kulturstadt, wurde vernachlässigt. Dabei haben wir mehr fantastische Baudenkmäler als jede andere Metropole in Deutschland, wenn Sie allein den Dom und die romanischen Kirchen nehmen. Dazu die tollen Museen, die Philharmonie und so weiter. Deshalb ist der Kulturabbau, der in Köln in den letzten Jahrzehnten betrieben wurde, wirklich zum Heulen. Als ich in den 80er Jahren als Abiturient hierhin kam, wurde Köln als Musik-, Theater- oder Kunststadt in einem Atemzug mit New York oder London genannt. Das klingt heute wie ein Witz.

Sie nehmen aber doch nicht ernsthaft an, dass sich mit mehr Augenmerk auf die Kultur am Eigelstein etwas von dem ändern würde, was Sie beklagen.

Natürlich nicht unmittelbar. Aber ich glaube zum Beispiel schon, dass ein lebendiges, vielfältiges, auch hochkarätiges kulturelles Angebot die Menschen abhält, wegzugehen. Und dass es Menschen und vor allem Unternehmen anzieht, die auch finanziell einen höheren Beitrag leisten. Die Entwicklung des Carlswerks in Mülheim, wo das Schauspiel Köln mit dem „Depot“ sein Dauer-Interimsquartier hat, hat einem ganzen Viertel mit den Mitteln der Kultur enormen Auftrieb gegeben. Insofern ist es, glaube ich, auch ökonomisch verheerend, ausgerechnet das Budget der „Acht Brücken“ zu streichen. So viele überregional beachtete Kulturereignisse hat Köln doch nicht.  

Oder denken Sie an das Tanzensemble, das es jetzt doch nicht geben wird. Denken Sie an das würdelose Gezerre um die Fondation Corboud, bei der man die Stifter mit dem Bau für ihre Sammlung so lange vertröstet und geärgert hat, dass der Stadt jetzt der „Ersatzbau“ während der Renovierung des Wallraf-Richartz-Museums fehlt. Wenn so eine Abwärtsspirale in der Kultur in Gang kommt, fallen eben auch viele der Gründe weg, warum man überhaupt in Köln lebt oder sich Unternehmen hier ansiedeln. Oder man außerhalb aufmerksam auf Köln wird.

Das Köln-typische Laisser-faire zieht sich auch in Verwaltung und Behörden

Und die Renovierung der Kölner Oper kostet inzwischen deutlich mehr als der Bau der Elbphilharmonie.

Ja, die Riesenbaustellen, die nicht fertig werden… Wir haben mit der Opernrenovierung das vielleicht größte Bauversagen in der deutschen oder jedenfalls der Kölner Nachkriegsgeschichte, übertroffen nur vom Einsturz des Kölner Archivs. Und wer will Oberbürgermeister werden? Ausgerechnet der Baudezernent! Man denkt, das sei ein Witz. Bis man merkt: Nein, das ist Köln. Politische Verantwortung bedeutet hier allzu oft: Ich habe die Karre in den Dreck gefahren, jetzt bleibe ich auch am Steuer, bis sie gänzlich versinkt.

Schuldzuweisungen an die Spitzen von Politik und Verwaltung mögen ihre Berechtigung haben, sind aber auch immer etwas wohlfeil.

Die Politik ist so gut oder so schlecht wie wir selbst. Das Köln-typische Laisser-faire, das im Alltag charmant ist, zieht sich eben offenbar auch in die Verwaltung und die städtischen Behörden. Schauen Sie sich den Breslauer Platz an, wo inzwischen seit Jahrzehnten das Containerprovisorium des „Musical Dome“ steht – als Kölner Visitenkarte praktisch. Und als der Breslauer Platz selbst nach Jahren endlich fertig saniert war, da hatte man nichts Besseres zu tun, als weitere Container dort aufeinander zu türmen für die Bundespolizei.

Oder nehmen Sie die Bastei, um in meiner Nachbarschaft zu bleiben: eines der schönsten Gebäude der Stadt, das vor aller Augen zerfällt. Das mit hässlichen Gerüsten gestützt werden muss. Wo der Weg zum Rhein gesperrt und mit Moos bewachsen ist. Dann auch die Brückenunterführungen, der Müll, der über Tage liegen bleibt, die Bahnhofsumgebung - ich könnte das endlos fortsetzen. Das ist ja auch ein Vorbild, das die Stadt gibt: Uns ist es egal, wie es bei uns aussieht. In dieser Lieblosigkeit kenne ich das in Deutschland nur von der Stadt Köln. Und dann machen‘s die Kölner eben nach. Wir haben den tollsten Lokalpatriotismus überhaupt, aber wir praktizieren das Gegenteil von „Liebe deine Stadt“.

Diese Urinkreise wie am Ebertplatz kenne ich wirklich nur aus Köln.
Navid Kermani

Sie können aber auch nicht auf jeden Wildpinkler einen Mitarbeiter des Ordnungsamts ansetzen.

Nein, aber diese Urinkreise wie am Ebertplatz kenne ich wirklich nur aus Köln. Damit wird man doch zum öffentlichen Pinkeln geradezu eingeladen, auch anderswo. Und was das Ordnungsamt betrifft - damit wären wir dann wieder bei der Personal- und Finanzausstattung des Staates, in diesem Fall der Kommune.

Wenn Sie von Liebe und von Köln sprechen, kommen wir nicht vorbei an einem Verein, der Ihnen bekanntermaßen sehr am Herzen liegt: am 1. FC Köln. Es gab zuletzt viel Aufregung um eine Bild-Choreografie im Stadion mit einer Messerattacke auf die Glücksgöttin Fortuna vor dem Spiel des FC gegen Düsseldorf. Sie haben dazu bislang geschwiegen. Wer schweigt, stimmt zu?

Nein, ich schäme mich als Fan für meinen Verein. Das war ja nicht der erste Totalausfall der Südkurve, wenn ich etwa an sexistische Pöbeleien gegen Frau Reker denke. Ich habe eine Dauerkarte, sitze alle zwei Wochen im Stadion nahe an der Südkurve und finde es toll, was da für eine Stimmung ist. Einerseits.

Die umstrittene Choreo der Kölner Ultras auf der Südtribüne vor dem Spiel gegen Fortuna Düsseldorf

Die umstrittene Choreo der Kölner Ultras auf der Südtribüne vor dem Spiel gegen Fortuna Düsseldorf

Aber andererseits?

Andererseits bin ich keine 100 Meter Luftlinie von der Südkurve entfernt und denke: Das sind also diejenigen, die den Verein beherrschen.

Beherrschen?

Wir haben eine Satzung, die den Mitgliedern alle Macht gibt. Aber welchen Mitgliedern? Denjenigen, die sich organisieren, die vereint zur Mitgliederversammlung kommen. Kein anderer Fan kommt gegen die Südkurve an. Und die Verantwortlichen offenbar ebenso wenig, weil sie vom Votum der organisierten Fanszene abhängig sind. Anders kann ich mir nicht erklären, dass der Geschäftsführer so zurückhaltend ist, selbst wenn solche obszönen Choreografien gezeigt werden wie vor dem Spiel gegen Fortuna Düsseldorf. Oder wenn der FC Heimspiel für Heimspiel irre Strafen zahlen muss für die Pyrotechnik in der Südkurve.

Eine verfahrene Situation ohne Ausweg?

Ich glaube, es gäbe ein Mittel. Die derzeitige Satzung wirkt demokratisch, aber sie ist es nicht. Sie gibt den Verein in die Hände der organisierten Fans, die gesammelt zur Mitgliederversammlung kommen. Der Mitgliederrat ist zu 100 Prozent mit Vertretern besetzt, für die sich die Fanszene vorher bereits entschieden hatte. Es ist bei 140.000 Mitgliedern keine Demokratie, wenn man auf einer Versammlung abstimmt. Das würde nicht einmal in einer kleinen Gemeinde funktionieren.

Kermani: Die meisten FC-Fans finden Pyrotechnik und menschenverachtende Slogans schlimm

Wie könnte man dem begegnen?

Natürlich durch Mitgliederentscheide. Die Teams für den Vorstand und die Kandidaten für den Mitgliederrat stellen sich und ihr Programm der Öffentlichkeit vor, und dann stimmen alle Mitglieder ab – auch diejenigen in Rio oder Rom, wie es in unserer Hymne heißt.

Mitgliederentscheide so ähnlich wie bei den politischen Parteien?

Genau. So könnte sich der Verein aus der Fesselung durch die Südkurve lösen. Das Mindeste wäre, dass man online an den Mitgliederversammlungen teilnehmen kann, das ging während der Corona-Epidemie ja auch. Denn ich bin sicher: 90 Prozent der FC-Mitglieder und mehr finden es so schlimm wie ich, was teilweise im Stadion passiert: Pyrotechnik, menschenverachtende Slogans, gegen die nicht eingeschritten wird. Oder auch der aggressive Widerstand gegen Sponsoren. Ich bin selbst ein Traditionalist, wenn's um Fußball geht. Aber Fußball soll es schon sein und nicht so etwas wie unlängst gegen Ulm oder Darmstadt - und das waren unsere Siege. Niemand will, dass der FC in die Hand von Finanzhaien fällt oder ein Werksverein wird wie Leverkusen, Wolfsburg oder Leipzig. Aber es gibt doch andernorts Modelle, die das verhindern und trotzdem eine auskömmliche Finanzierung sicherstellen, in Frankfurt, Stuttgart, Mainz, Augsburg, selbst in – es fällt mir schwer, das auszusprechen – selbst in Mönchengladbach.

Sehen Sie denn einen Zusammenhang zwischen Stadtentwicklung und den Zuständen beim FC?

In der Symbolik auf jeden Fall: Wie Köln in vielerlei Hinsicht auf dem absteigenden Ast ist, ist es halt auch der Verein.

Der HSV spielt schon länger in der zweiten Liga als Köln, aber die Stadt macht nicht den Eindruck, als liefe alles aus dem Ruder.

Auch in Köln läuft nicht „alles“ aus dem Ruder. So wie die Stadt hat auch der FC enormes Potenzial. Und wie durch ein Wunder sind wir auch noch beliebt. Man mag uns irgendwie oder findet uns sympathisch. Vielleicht führt gerade das dazu, dass wir uns so leicht zufriedengeben. Wissen Sie, warum der letzte Abstieg so bitter war?

Sagen Sie‘s mir!

Weil er so normal war. Weil wir uns daran gewöhnt haben. Das Stadion ist auch jetzt voll, die halbe Stadt fiebert mit, wenn der FC spielt. Aber sie fiebert halt mit beim Spiel gegen … Elversberg.


Zur Person

Navid Kermani, geb. 1967 in Siegen, lebt seit dem Abitur in Köln. Der Schriftsteller, Reporter und habilitierte Orientalist wurde für sein literarisches und essayistisches Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2015 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels und zuletzt 2024 mit dem Thomas-Mann-Preis. Kermani ist seit seinem vierten Lebensjahr glühender Fan des 1. FC Köln. Er lebt im Eigelstein-Viertel. (jf)