„Ich sehe eine zunehmende Verwahrlosung der Stadt.“ Stimmt das wirklich? Nach einem Gang durch die Kölner Innenstadt kann man OB Reker nur zustimmen.
Verwahrloste MillionenstadtBettler, Junkies, Drogen und Exkremente – das ganze Elend von Köln
Den beißenden Urin-Gestank, der jedem Pendler in die Nase steigt, wenn er von der U-Bahnebene der Haltestelle Dom/Hauptbahnhof zur Rolltreppe geht, um von dort in die Bahnhofshalle zu gelangen, hatte ich fast verdrängt. Normalerweise fahre ich mit dem Rad zum Bahnhof oder steige, wenn es doch die KVB sein muss, am Breslauer Platz aus. Auch wenn der Weg zu den Bahnsteigen über den Hinterhof des Hauptbahnhofs weiter und auch nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig ist.
Kurz vor der Rolltreppe, rechter Hand geht’s zum Aufzug, schiebt ein Mitarbeiter des Reinigungsdienstes Opti, die im Auftrag der KVB für Sauberkeit sorgen soll, seinen Putzwagen zu den gläsernen Fahrstuhltüren, klaubt ein paar Lumpen auf, die vom Nachtlager eines Obdachlosen stammen, und wirft sie auf den Kot, den dieser hinterlassen haben muss. Anschließend befördert er das Paket angewidert in den Müllsack. Dann begibt er sich daran, die Urinlache zu beseitigen.
Organisierte Bettlerinnen in der Kölner Innenstadt
Jeden Tag gehe das so, sagt er kopfschüttelnd, und es werde immer schlimmer. „Ich weiß auch nicht, warum. Aber hier leben immer mehr Menschen auf der Straße.“ Zwei Frauen mit Kinderwagen, die auf den Aufzug angewiesen sind, beschleunigen ihre Schritte. Ihr Kommentar, als sie den Fahrstuhl gleich neben der Parfümerie verlassen: „Wir haben es überlebt.“
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Wie würde der Opti-Mitarbeiter auf die Aussage von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker reagieren, die unserer Zeitung mit Blick auf die zunehmende Verwahrlosung zur Antwort gab: „Mir fehlt die Ordnung, aber ich bin keine Fürstin, die per Dekret verordnet.“ Und wo fängt im öffentlichen Raum die Verwahrlosung an?
Die Frage beantwortet sich auf dem Weg, der mich aus dem Hauptbahnhof über die Domtreppe, den Roncalliplatz, die Hohe Straße und die Schildergasse bis zum Neumarkt führen wird, von selbst.
Auch auf die Gefahr hin, als spießig zu gelten, weil das kölsche Lebensgefühl ohne ein paar Dreckecken offenbar nicht aufkommen kann, verlasse ich den Hauptbahnhof, die Eisenbahn-Kathedrale des Westens. Durch eine Tür, die mit einem zerfetzten Müllsack zwischen Türstopper und Klinke fest verknotet ist, damit sie nicht mehr zufallen kann und auf der „Welcome! Bienvenue!“ geschrieben steht.
Fast hätte ich es vergessen: Die DHL-Packstation gleich neben dem KVB-Servicecenter auf der U-Bahnebene ist auch völlig verdreckt und mit Tags beschmiert. Bis Rosenmontag sind es zwar noch gut vier Wochen. Die riesigen Leuchtfiguren am Zugweg mit ihren hässlichen Betonsockeln an den U-Bahneingängen vor Kölns erstem Haus am Platz, dem Hotel Excelsior Ernst, stehen schon. Ein angekettetes Fahrrad, das dem Frohsinn offenbar im Wege war, hat man kurzerhand über Geländer gedreht und hängt kopfüber im Treppenabgang.
Um es vorwegzunehmen: Auf den nächsten 400 Metern bis zur Hohe Straße werden mich vier bettelnde Frauen mit nahezu identischen Pappen um „Geld für Essen. Danke!“ bitten. Die Bettlerinnen Nummer fünf und sechs warten auf der Hohe Straße und der Schildergasse. Ob das Ordnungsamt schon einmal geprüft hat, dass es sich bei dieser Form des Bettelns um organisierte Kriminalität handeln könnte?
Umgekippte E-Roller vor Fahrstuhl an der Domtreppe
Aus dem Aufzug, der den Bahnhofsvorplatz mit der Domplatte verbindet, schiebt sich eine Rollstuhlfahrerin und landet nach der Fahrt mit diesem ebenfalls nach Exkrementen stinkenden Fahrstuhl vor einer Ladung zum Teil umgekippter E-Roller. Wann endlich kriegt die Stadt es in den Griff und richtet klar definierte Abstellmöglichkeiten ein?
Auf der Domplatte kommt mir ein alter Bekannter entgegen. Es ist die Micky Mouse, die für jedes Foto mit Touristen und deren Kindern abkassiert, und dabei – sagen wir es vorsichtig - nicht gerade zurückhaltend vorgeht. Immerhin: Die Flaggenmaler halten sich an die neue Schutzzone und haben sich auf den Roncalliplatz verzogen. Warum es nicht gelingen will, das gesamte Domumfeld zur Schutzzone zu erklären? Die Oberbürgermeisterin würde jetzt wieder mit den Schultern zucken: „Dafür gibt es in Köln keine Mehrheit.“
Und müssen diese unvermeidlichen Bauzäune, die direkt am Weltkulturerbe Dom stehen, unbedingt aus Plastik in rot-weißen Signalfarben sein? Den Weg über die Hohe Straße und die Schildergasse können wir kurz abhaken. „Geld für Essen. Danke!“ wechselt mit anderen Formen der Bettelei, so dass ich am Neumarkt bei ungefähr 15 Euro angekommen wäre, wenn ich jedem Ansinnen mit einem Euro nachgegeben hätte.
Das Elend Kölns zeigt sich besonders am Neumarkt mit seiner Drogenszene
Den Neumarkt muss man, wenn er nicht gerade vom Weihnachtsmarkt oder Roncalli-Zirkus belegt wird, als einen aufgegebenen Platz bezeichnen. Eine offenbar schwer abhängige junge Frau irrlichtert über die Platzfläche, zieht die immer gleichen Kreise. Eine Stunde später werde ich Augenzeuge, wie sie sich auf dem Drehstuhl des Fotoautomaten in der U-Bahnebene die nächste Drogenladung verabreicht. Völlig abwesend. Sie macht sich nicht einmal die Mühe, den grauen Vorhang zuzuziehen.
In den Wartehäuschen direkt am Bahnsteig wickeln Dealer und Junkies ungehindert und für jeden offensichtlich ihre Drogengeschäfte ab. Die Stimmung schwankt zwischen völliger Apathie und Aggression und jeder Pendler, der hier umsteigen muss, sieht zu, dass er sich möglichst fernhält.
„Hier hängen mindestens 150 Drogenabhängige rum, von denen 100 Hardcore sind“, sagt Paulo Santo (56). Seit mehr als 20 Jahren betreibt er den Kiosk auf dem Platz am Abgang zur U-Bahn. „Die Stadt eröffnet hier einen Drogenkonsumraum, kümmert sich aber anschließend um gar nichts“, sagt er. Natürlich sei eine solche Einrichtung wichtig, „aber die zieht doch noch mehr Kundschaft an.“ Es finde auch seine Unterstützung, dass die Obdachlosen abends von freiwilligen Helfern mit Essen versorgt werden.
„Da sind welche drunter, die verlassen den Neumarkt gar nicht mehr. Die leben hier.“ Den gesamten Dreck rund um seinen Kiosk, die Mischung aus Essensresten und Drogenmüll, müsse er jeden Morgen wegmachen. „Mein Umsatz ist in der letzten Zeit deutlich zurückgegangen“, sagt Santo. „Mich lassen sie in Ruhe, aber je nach Zustand werden die Passanten zum Teil auch sehr aggressiv angebettelt.“
Mit noch mehr Elend wird jeder Bahnfahrer konfrontiert, der die U-Bahn in Richtung Haubrich-Hof verlassen muss. Seit die Zentralbibliothek wegen der Großsanierung geschlossen ist, versucht das nahezu jeder zu vermeiden, wenn das nur irgend möglich ist. „Gehen Sie da bloß nicht entlang“, rät mir eine Mitfahrerin, als ich mich beim Aussteigen aus der Linie 16 nach links wende. Auf dem Treppenabsatz kniet ein Mann, der bei dem Versuch, sich den nächsten Schuss zu setzen, am ganzen Körper zittert. Zwei Meter weiter uriniert ein Mann an die Wand.
„Drogenkonsumräume können das Problem nur abschwächen, nicht lösen“, sagte Reker. „Die Entwicklung in Köln ist das Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die massiv voranschreitet.“