Roswita Waechter war ein Mensch mit tiefen Widersprüchen. Und eine 100-prozentige Künstlerin, die Angst vor Kritik hatte. Ein Nachruf.
Nachruf auf Kölner KünstlerinWie die Kritik des berühmten Bruders Roswita Waechters Malerei beeinflusste
Im Dachgeschoss der alten Sürther Grundschule, wo Roswita Waechter mit ihrem Mann Michael Mohr tagein, tagaus malte, lagern Hunderte Selbstporträts. Weit mehr als tausend Eigenansichten hat sie hier in 40 Jahren auf Leinwand und Papier gebannt. Auf keinem der Bilder lächelt sie. Meist schaut sie ernst. Manchmal steht sie kerzengerade, oft gebeugt, mit scheuem, zweifelndem Blick, die Augen verschattet, das Gesicht blass bis grau. Eine Frau, die ein solitäres Leben führt und kein unbeschwertes. Die im Malen bei sich ist, aber nicht das, was da draußen als glücklich gilt. So sah sie sich selbst.
Warum malte sich diese hochbegabte Künstlerin immerzu selbst?
Wer Roswita Waechter kennenlernte, erlebte eine andere: Zurückhaltend, ja, still und eher schüchtern, aber nicht schwer, eher verträumt, manchmal witzig, mitunter kokett, öfter lächelnd, abgründig, weit heller als auf ihren Bildern.
Warum malte sich diese hochbegabte, in sich gekehrte Künstlerin immerzu selbst? Und verringerte so stetig die Wahrscheinlichkeit, stärker wahrgenommen zu werden und Erfolg zu haben? Obwohl es ihr und ihrem Mann früh auch darum ging, ein Archiv für ihren Nachlass zu finden? Warum porträtierte sie nicht öfter andere und verdiente Geld damit, sondern lebte mit ihrem Mann in einer beengten Ein-Zimmer-Wohnung, um nebenher das Atelier in der alten Schule bezahlen und dort Tag für Tag ihren Schreibroutinen nachgehen zu können?
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„Roswita hatte große Angst vor dem Urteil anderer“, sagt Michael Mohr. „Mit Kritik konnte sie nicht umgehen. Sie hätte es nie machen können wie eine Bekannte von uns, die sich von den Menschen, die sie porträtierte, schriftlich zusichern ließ, dass die Bilder im Nachhinein bleiben, wie sie sind.“ Jede kleine Kritik habe seine Frau veranlasst, an sich zu zweifeln.
Gewiss, sagt Mohr, seien die Selbstporträts auch Ausdruck einer sprichwörtlichen Selbstsuche gewesen. „Sich suchen – selbst sein“, nannte sie eine Ausstellung.
Wenn man nach Gründen für ihr brüchiges Selbst- und Weltvertrauen sucht, wird man in ihrer Familie fündig. Die Waechters waren im Zweiten Weltkrieg aus Danzig geflohen, sie standen auf der Passagierliste der Wilhelm Gustloff, die am 30. Januar 1945 von einem russischen U-Boot torpediert und versenkt wurde. Roswita, ihre Brüder, ihre Mutter und drei Tanten standen auf der Liste der nicht Geretteten, für Wochen galten sie als tot. Durch einen Zufall waren sie jedoch nicht an Bord der Gustloff, sondern auf einem anderen Schiff, das in Norddeutschland ankam.
Prägende Kritik vom großen Bruder K.F. Waechter
Nicht Roswita, die außergewöhnlich zeichnen konnte, sondern ihr zwei Jahre älterer Bruder Karl Friedrich galt früh als kreatives Talent der Familie. Die Ränkespiele mit dem Bruder bekamen der Jüngeren nicht. „Immerzu kritisierte F.K. sie, hielt sie klein“, sagt Michael Mohr. Das habe nicht aufgehört, als Karl Friedrich unter dem Namen F.K. Waechter durch Karikaturen, Cartoons und Kinderbücher längst berühmt geworden war. „Als Roswita ein autobiografisches Buch schrieb und mit Zeichnungen versah, kritisierte F.K. die Zeichnungen so scharf und spöttisch, dass Roswita am Boden zerstört war“, erinnert sich Mohr.
Nach der Mittelschule brach sie eine Lehre zur Handweberin ab, auch bei der folgenden Ausbildung zur Krankenschwester ging sie stiften. Für zwei Semester versuchte sie es auf einer Kunstgewerbeschule, kam dort aber nicht in den freien Zweig, sondern zu den „Angewandten“, wo sie millimetergenaue Schriften und Buchstaben entwerfen musste, um später als Werbegrafikerin reüssieren zu können.
Sie hielt es nicht aus und und haute wieder ab. Landete auf einer Fähre nach Schweden und fuhr so lange hin und her, bis sie als verwirrte Passagierin entdeckt wurde. „Roswita hätte auf eine ordentliche Kunsthochschule gehört, sie hatte enormes Talent, das schon die Lehrer in der Schule gesehen hatten“, sagt Michael Mohr. „Dass das später lange niemand gefördert und gesehen hat, hat sie traumatisiert.“
Eben volljährig, sah sie keinen Ausweg mehr. Sie nahm Gift, wurde mit Schaum vor dem Mund und röchelnd gefunden – und im Spital in letzter Minute gerettet. Den Suizid-Versuch hatte sie davon abhängig gemacht, ob der Sperrmüll die Kunst-Mappe mit ihren besten Zeichnungen mitnehmen würde oder nicht. Als sie an die Straße kam und die Mappe nicht mehr da war, Schritt sie zur Tat.
Freie Liebe und ekstatische Monate auf Sizilien
Sechs Monate verbrachte sie in einer Psychiatrie, bekam Elektroschocks und Insulinkuren. Mit 18 machte sie eine Ausbildung zur Arzthelferin – die einzige Lehre, die sie abschloss. Ihr Glück fand sie bei der Arbeit nicht, arrangierte sich aber irgendwie.
1963 fuhr sie allein nach Sizilien. Es muss eine flirrende, ekstatische Zeit gewesen sein. Sie verlängerte ihren Urlaub und kündigte ihren Job. Sie hatte Männer kennengelernt, traf manchmal wöchentlich neue, schrieb ihrer Mutter Postkarten, auf denen sie leichthin über zahllose Bekannt- und Liebschaften informierte. („Ich bin nicht mehr mit Giovanni zusammen, dafür mit Gianluca und Francesco, Deine Rosi“)
Bis 1967 verbrachte sie jedes Jahr mehrere Monate auf Sizilien. Erst wenn das Geld ausging, fuhr sie zurück nach Deutschland und nahm einen neuen Job an. „Es war in ihrer Erinnerung eine leichte, unbeschwerte Zeit, eine der schönsten ihres Lebens“, sagt Michael Mohr. Ihr Dolce Vita in Süditalien, mit dem sie die revolutionäre Lebensweise der 68er vorwegnahm, habe mit der Erfahrung zu tun gehabt, dass ihr Leben beinahe beendet gewesen wäre, sagt Mohr.
Episoden wie die Zeit auf Sizilien oder die Schifffahrt ins Nirgendwo, ihre Arbeit als Arzthelferin oder der Glaube an höhere Mächte zeigen die Widersprüchlichkeit dieses Menschen: autonom und unsicher, scheu und lebenshungrig, schnell verliebt, schnell auf der Flucht. Rational und abergläubisch, nach Anerkennung ringend und in sich selbst versackend, mit den Jahren mehr und mehr anerkennend, dass es nicht nur schwer ist, den Stein immer wieder den Berg hochzurollen, sondern notwendig, um sich in der Welt zu erfahren.
18 Jahre nach ihren Suizid-Versuchen begann Roswita Waechter wieder zu malen. Sie besuchte als Gasthörerin die Kölner Fachhochschule für Kunst und beeindruckte Studenten wie Lehrende mit ihren Zeichnungen. Mit einer Sonderprüfung für Begabte ohne Abitur wurde die 35-Jährige aufgenommen. Auf der Hochschule lernte sie den 13 Jahre jüngeren Michael Mohr kennen. Zunächst malten sie vor allem zusammen, bezogen ein Atelier ohne Heizung in Kalk. Als die Stadt Köln Kunsträume förderte, zogen sie um nach Sürth. Nach zwei Jahren wurden sie ein Paar.
„Ihre Introvertiertheit und Tiefe haben mich angezogen“, sagt Michael Mohr, während er durchs Atelier wandert und immer neue Bilder seiner Frau zeigt. 45 Jahre haben sie symbiotisch zusammengelebt: lange arbeitete sie als Schreibkraft und er im Büro einer Bundesbehörde, um sich nachmittags im Atelier zu treffen und zu malen. Oft haben sie Porträts voneinander angefertigt. Spezialisiert hat er sich auf Stillleben: Postwaagen, Schreibmaschinen, Taschenrechner oder Miniatureisenbahnen. Sie bevorzugte Menschenporträts, zeichnete und malte ihn und sich selbst, aber auch andere, zuletzt Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts.
Immer malten Mohr und Waechter nur das, was sie sahen. Die gegenständliche Malerei ist längst aus der Mode gekommen, sich nach der Mode zu richten für Erfolg wäre für Waechter und Mohr nie infrage gekommen.
Hie und da wurde ihre Kunst gesehen und gelobt: Sie stellten im Haus der Kunst in München und im Martin-Gropius-Bau in Berlin aus, Waechters Bilder waren im Düsseldorfer Landtag und beim Landschaftsverband Rheinland zu sehen. Sie erhielten einen Förderpreis bei der Kunstmeile Köln-Kalk, für eine Zeit malte Waechter Porträts für 230 Euro das Stück, aber das sei ihr schnell zu anstrengend geworden, sagt Mohr.
Er holt ein Großformat mit dem Namen „Mein Malplatz“ von ihr hervor, ein filigran gearbeitetes Stillleben, das 1978 in einer Düsseldorfer Ausstellung gezeigt worden war und schon vor der Eröffnung verkauft. Der Landschaftsverband Rheinland hatte es einer Reha-Klinik überlassen, dort sei es in einem Kellerraum verstaubt. Als Roswita Waechter viele Jahre später danach fragte, hätten auf der Rückseite des Bildes Kaugummis geklebt. Sie nahm das Werk zurück.
Ihre letzten Porträts – jene der Komponisten – hat Roswita Waechter vor eineinhalb Jahren gemalt. Im September 2022 infizierte sie sich mit dem Corona-Virus und erkrankte so schwer, dass sie beatmet werden musste. Die Ärzte bereiteten Mohr darauf vor, dass sie sich nicht wieder erholen könnte, lagen aber falsch.
Wenige Monate später stürzte sie schwer und brach sich zwei Wirbel, erzählte aber solange nichts davon, bis sie „vor Schmerzen nicht mehr weiter wusste“, wie sich Michael Mohr erinnert. In den letzten Monaten lebte Roswita Waechter in einem Pflegeheim. Ihr Mann kam vormittags und half ihr beim Mittagessen, bevor er ins Atelier fuhr. Er malt jetzt alleine weiter, umgeben von ihren Porträts.