Jahrelange Verdächtigungen nach dem NSU-Anschlag haben bei den Anwohnern Wunden hinterlassen. Wie damit weiterleben? Darüber gibt es unterschiedliche Ansichten.
20 Jahre Nagelbombenanschlag in KölnWie das Attentat die Keupstraße noch immer beschäftigt
Wenn am Sonntag in Köln-Mülheim das Birlikte-Fest beginnt, feiert der 53-jährige Mohammet Ayazgün seinen eigentlichen, seinen zwanzigsten Geburtstag. „Es ist ein Wunder, dass ich noch hier bin, es ist, als hätte ich ein zweites Leben geschenkt bekommen“, sagt Ayazgün. Als die vom NSU platzierte Bombe am 9. Juni 2004 explodierte, stand Ayazgün, der damals wie heute das „Cafe Paradies“ auf der Straße betreibt, wenige Meter vom Tatort entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Bei dem Anschlag wurden 22 Menschen verletzt, 800 Zimmermannsnägel schossen durch die Luft. Drei davon schlugen wenige Zentimeter über dem Kopf von Ayazgün ein. „Aber so schlimm der Anschlag auch war, das Traumatische war das, was danach passierte“, sagt Ayazgün, als er 20 Jahre später wieder vor dem Tatort steht und die Ereignisse von damals rekapituliert.
Keupstraße: Gegenseitige Verdächtigungen zwischen Anwohnern hinterlassen Wunden
Erst, als der NSU sich 2011 in einem Bekennervideo selbst enttarnte, wurde der rassistisch motivierte Hintergrund der Tat klar. Ayazgün ist dankbar dafür, überhaupt noch am Leben zu sein. Gleichzeitig quält ihn wie so viele Betroffene die Frage, warum die Behörden jahrelang kein rassistisches Tatmotiv sehen wollten, warum sie sich so früh auf die Theorie festgelegt haben, dass der Täter aus dem Umfeld der Keupstraße kommt.
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„Ich war am Tatort, als es passierte. Aber die Polizei wollte meine Aussage nicht aufnehmen. Warum nicht?“ Der Schock über die schreckliche Tat wich schnell der Angst, selbst ins Fadenkreuz der Ermittler zu geraten. „Wir dachten jahrelang, dass einer unserer Nachbarn hinter dem Anschlag stecken könnte. Ich habe mich damals kaum auf die Straße getraut, weil ich dachte: Irgendwann nehmen die mich fest.“
Keupstraßen-Anwohner hadern mit dem Erinnern an den Nagelbombenanschlag
Auch Meral Sahin, Vorsitzende der IG Keupstraße, sagt in der aktuellen Folge des Podcast „True Crime Köln“ des „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Die ersten Nachrichten, denen zufolge der Täter aus der Keupstraße kommt, waren ein Schlag ins Gesicht für jeden Anwohner. Plötzlich steht man unter Generalverdacht.“ Freundschaften seien unter den gegenseitigen Verdächtigungen zerbrochen, die Stigmatisierung und das Trauma bewegten viele Anwohner dazu, umzuziehen, so Sahin.
Als 2011 klar war, dass der NSU hinter der Tat steckt, war das zunächst eine Erleichterung. Doch der Hoffnung auf lückenlose Aufklärung folgte schnell die Enttäuschung. Vor allem die Frustration über die mangelnde Aufarbeitung der fehlgeleiteten Ermittlungen ist den Anwohnern der Keupstraße bis heute spürbar anzumerken.
Doch wie mit den noch offenen Wunden umgehen? Für Sahin steht fest, dass Erinnerung der Schlüssel ist: „Jeder in dieser Stadt sollte sich von dem, was damals passiert ist, betroffen fühlen. Es geht um Fehler in unserem Rechtssystem, das sollte jeden erschüttern. Wir müssen uns daran erinnern, damit so etwas nie wieder passiert“. Deshalb brauche es auch Gedenkfeiern wie Birlikte und das Mahnmal auf der Keupstraße, damit auch kommende Generationen über den Anschlag aufgeklärt werden.
Es gibt aber auch Anwohner, die sich mit dem Erinnern schwer tun. Der Händler eines Plattenladens auf der Keupstraße winkt ab, als man ihn nach dem Nagelbombenanschlag fragt. „Ich will von der Bombe nichts mehr hören“, sagt der Mann, der seinen Namen nennen möchte. „Ich sehne mich nach Normalität. Meine Kinder gehen hier zur Schule und sollen in Frieden aufwachsen. Was bringt es, sie mit den Geschichten von früher zu verängstigen?“
Auch Ayazgün hadert damit, wie an die schrecklichen Ereignisse von vor 20 Jahren erinnert werden soll. „Das Mahnmal wäre ein Zeichen der Versöhnung für uns und eine Genugtuung.“ Auch Feste wie Birlikte würden ihn und die anderen Betroffenen bestärken „und zeigen, dass wir nicht allein sind und als Gesellschaft gegen Rassismus zusammenstehen“.
Doch auch er tut sich damit schwer, mit seinen zwei Kindern über die Ereignisse zu reden. „Mein älterer Sohn studiert an der Uni in Düsseldorf, der ist alt genug, um über alles Bescheid zu wissen. Aber mein jüngster geht noch zur Schule. Ich will ihn nicht mit diesem Trauma belasten.“
Melisa Taşdemir ist ein Jahr nach dem Anschlag geboren, der Vater der 19-Jährigen arbeitet bei einem Juwelier in der Keupstraße, ab und zu hilft sie im Laden aus. Vor ein paar Tagen hat sie ihr Abitur am Genoveva-Gymnasium bestanden, gleich um die Ecke von der Keupstraße. Sie ist stolz darauf, dass sie bald die Erste in ihrer Familie sein wird, die studieren wird – natürlich in Köln. „Ich kann mir nicht vorstellen, hier wegzuziehen. Diese familiäre Atmosphäre in der Keupstraße ist etwas Besonderes.“
Der Nagelbombenanschlag werde auch in ihrer Generation diskutiert. „Meine Freundinnen geben regelmäßig Führungen über die Straße und klären über die Geschehnisse auf. Ich finde es wichtig, auch heute noch daran zu erinnern.“ Doch nicht nur deswegen wird auch sie am Sonntag zum Birlikte-Gedenktag kommen, für sie geht es auch um etwas anderes: „Wenn ich das Video aus Sylt sehe oder den Erfolg der AfD, frage ich mich: Gehören wir immer noch nicht dazu?“