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„Wir waren Hitler verfallen“Vier Kölner Kriegskinder erinnern sich an dunkle Zeiten

Lesezeit 17 Minuten
Kriegskinder

Nur noch wenige Menschen in Deutschland können den Beginn des Zweiten Weltkriegs bezeugen. Sie waren damals Kinder. „Kriegskinder“, die oft bis ins hohe Alter von den Irrwegen und Schreckensbilder ihrer ersten Lebensjahre verfolgt werden.

  1. Nur noch wenige Menschen in Deutschland können sich an die dunklen Zeiten des Zweiten Weltkriegs erinnern, der vor 80 Jahren am 1. September ausbrach.
  2. Köln versank am Ende des Kriegs in Schutt und Asche. Wir haben vier Kölnerinnen und Kölner getroffen, die erzählen, wie sie die Kriegszeit als Kinder erlebt haben.
  3. „Wir waren die verratene Jugend”, sagen sie.

Köln – Ruth Zündorf kann sich noch gut an jenen 1. September 1939 erinnern, als die Welt ein zweites Mal innerhalb weniger Jahrzehnte in den Abgrund stürzte. „Wir haben morgens den Volksempfänger angeschaltet. Das war so ein kleiner schwarzer Kasten. Da hörte man schon die Marschmusik. Dann sagte der Führer, dass seit 5.45 Uhr zurückgeschossen wird und unsere siegreichen Soldaten nach Polen einmarschiert sind.“

Wenige Stunden zuvor hatte das Linienschiff „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf polnische Befestigungen auf der Westerplatte vor Danzig eröffnet. Zeitgleich hatten Kampfbomber der Deutschen Luftwaffe die polnische Kleinstadt Wielun angeflogen. Mehr als 1200 Menschen waren bei dem Bombenangriff zu Tode gekommen. Sie waren die ersten Opfer eines verheerenden Krieges, der in den folgenden sechs Jahren mehr als 60 Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Rund sechs Millionen Juden wurden in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet. Städte wie Köln, Dresden und Hamburg versanken unter dem Bombenhagel der Alliierten in Schutt und Asche.

„Kriegskinder“ bis ins hohe Alter von Schreckensbildern verfolgt

Adolf Hitler deklarierte den Überraschungsangriff auf den Nachbarstaat als Verteidigungsaktion. Von der deutschen Propaganda wurde die kriegerische Attacke mit einem angeblichen Überfall der Polen auf den grenznahen Sender Gleiwitz begründet, den in Wahrheit Mitglieder der SS inszeniert hatten. „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten“, polterte Hitler in seiner Rede vor dem Deutschen Reichstag am Morgen des 1. September. Und kündigte an: „Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.“

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80 Jahre später können nur noch wenige Menschen in Deutschland den Beginn des Zweiten Weltkriegs bezeugen. Sie waren damals Kinder. „Kriegskinder“, die oft bis ins hohe Alter von den Irrwegen und Schreckensbilder ihrer ersten Lebensjahre verfolgt werden.

Ruth Zündorf glaubte an den „Endsieg“ als schon alles verloren war

Ruth Zündorf, 1926 geboren, glaubte selbst dann noch an den „Endsieg“, als längst alles verloren war. „Ich hatte Hitler Treue bis in den Tod gelobt und habe geweint, als die Amerikaner kamen.“ Erst Jahre später begriff sie, dass sie wie so viele in Deutschland das Opfer eines Menschenfängers geworden war. Heute fragt sich die 93-Jährige, wie ein Gott die Ermordung von Millionen Juden zulassen konnte: „Früher war ich evangelisch. Heute glaube an gar nichts mehr, schon gar nicht an diesen ohnmächtigen Allmächtigen.“

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Bruno Melchert war sechs Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Nach Kriegsende ging er hamstern, statt die Schule zu besuchen, und klaute nachts Kartoffeln und Kohlen, damit die Familie über die Runden kam. „Wir waren die verratene Jugend“, sagt er heute. „Wir waren diejenigen, die die ganze Sache ausbaden und dieses Land mühsam in Knochenarbeit wieder aufbauen mussten.“ Seit Jahren beschäftigt er sich mit den Gräueltaten der Nazis. „Ich wollte wissen, was damals passiert ist.“

Zeitzeugen befürchten, dass sich Unkenntnis über Nazi-Regime rächen könnte

Klaus Puller, Jahrgang 1929, half nach den Bombenangriffen auf Essen, die Toten aus den Trümmern zu bergen. Da war er 13 Jahre und überzeugter Hitlerjunge. „Wenn Sie so jung sind, kriegen Sie das alles gar nicht richtig mit und denken auch nicht groß darüber nach.“ Das ist inzwischen anders. Bis heute verfolge ihn, was er als Kind erlebt habe, sagt der 90-Jährige. „Ich habe 37 Fotobände. Wenn ich darin blättere, fällt mir alles wieder ein.“ Und noch immer träume er von einem Film über ein KZ, den er vor bald 50 Jahren das erste Mal gesehen habe.

Irene Seiwert (92) verlor zwei Brüder im Krieg. Eine Schulfreundin starb durch eine Luftmine, wenige Tage, bevor sie an einer Kinderlandverschickung teilnehmen sollte. Sie hat die Freundin ebenso wenig vergessen wie die Nächte im Keller, wenn die Royal Air Force ihre Bomben über Köln ablud.

Erinnerungen wie diese müsse man weitergeben, darin waren sich die vier „Kriegskinder“ einig. „Weil die jungen Leute kaum noch etwas von früher wissen.“ Und weil die Gefahr groß sei, dass sich diese Unkenntnis rächen könnte.

Bruno Melchert: „Fast jede Nacht gab es Fliegeralarm“

Kriegskinder Bruno Melchert

Bruno Melchert wurde 1933 in Köln geboren. Er machte nach dem Krieg eine Ausbildung zum Stuckateur, heiratete mit 20 Jahren und hat fünf Kinder, 15 Enkel und 18 Urenkel. Er ist seit 2009 Witwer und lebt in Köln.

Ich bin in Köln-Nippes aufgewachsen, in der Sechzigstraße in der Nähe des Reichsbahnausbesserungswerks. Bei Kriegsbeginn war ich sechs Jahre alt. Jeden Samstag heulte bei uns an der Ecke der Sechzig der Probealarm. Ich konnte das Geräusch nicht ausstehen. Sobald ich auch nur den Anlauf hörte, rannte ich raus und prügelte mit einem Stock auf diese Ecke ein. Später, als es mit den Luftangriffen losging, war ich der erste im Keller, weil ich die Sirene schon hörte, bevor sie richtig losging.

Später sind wir weggezogen in die Neusser Straße, weil es in der Sechzig wegen der vielen Angriffe auf das Ausbesserungswerk allmählich ungemütlich wurde. Mein Vater war bis 1942 bei der SS. Dann ist er da raus. Ich vermute, weil er mitbekommen hat, was mit den Juden passierte. Nach dem Krieg galt er als Mitläufer und war eine Weile in einem Lager in Recklinghausen interniert. Mein Onkel war ebenfalls Mitglied der SS. Der war einer von den ganz Scharfen und ist vermutlich irgendwo im Osten gefallen. Jedenfalls haben wir nach dem Krieg nie wieder etwas von ihm gehört.

Großmutter blieb bis zum Tod überzeugte Nationalsozialistin

Beide waren infiltriert von meiner Großmutter, die bis zu ihrem Tod mit 86 Jahren eine überzeugte Nationalsozialistin und fromme Christin war. Keine Ahnung, wie das zusammengeht. Ich habe als Erwachsener oft stundenlang mit ihr diskutiert, aber sie war unbelehrbar. Ich wollte schon kurz nach dem Krieg wissen, was damals passiert ist, und später, als ich beruflich nicht mehr so eingespannt war, habe ich mich richtig in die NS-Geschichte reingekniet. Schließlich waren wir diejenigen, die die ganze Sache ausbaden und dieses Land mühsam in Knochenarbeit wieder aufbauen mussten. Wir waren die verratene Jugend.

1942 kam ich für sechs Monate zu einer Bauernfamilie nach Mittelfranken. Ich war inzwischen neun Jahre alt. Die Luftangriffe auf Köln hatten zugenommen. Fast jede Nacht gab es Fliegeralarm. Also beschlossen meine Eltern, uns Kinder in Sicherheit zu bringen. Nur die Jüngste blieb zu Hause.

Bruno Melchert Kind

Bruno Melchert als Kind

Meine ältere Schwester lebte schon seit dem Frühjahr 1942 auf einem Bauernhof in Klotken in Westpreußen. Im Sommer 1943 wurden mein jüngerer Bruder und ich hinterhergeschickt. Dort war alles sehr einfach. Es gab ein Plumpsklo draußen auf dem Hof. Im Schlafzimmer stand eine alte Milchkanne, die als Nachttopf diente und nur einmal in der Woche geleert wurde. Am Samstag wurde gebadet. Erst die Bäuerin, dann der Bauer, dann meine Schwester. Anschließend kamen wir Jungs an die Reihe und zum Schluss die Mägde. Alles im selben Badewasser. Die Schule war sechs Kilometer entfernt, und sobald wir ankamen, mussten wir die Schuhe ausziehen und barfuß herumlaufen. Als meine Mutter uns nach ein paar Wochen in Klotken besuchte, liefen wir ihr völlig verdreckt entgegen. Es gab einen Riesenkrach. Sie packte uns ein und verfrachtete uns sofort zurück nach Köln.

Zwei Wochen mit Handkarren unterwegs

Einen Monat später war ich schon wieder unterwegs Richtung Osten. Diesmal kam ich in ein Kinderlandverschickungslager in den Glatzer Schneebergen, anschließend nach Bielwiese in Niederschlesien, wo ich die Prüfung für die Haupt- und Oberschulreife ablegte. Das Kriegsende erlebte ich in Thüringen. Meine Mutter war mit den zwei Jüngsten nach Herges-Hallenberg bei Schmalkalden evakuiert worden, wir anderen trudelten nach und nach ebenfalls dort ein.

Meine ältere Schwester kam aus Westpreußen, wo sie in einer Pflegefamilie untergebracht gewesen war. Meinen jüngeren Bruder stöberte unser Vater in Altmittweida in Sachsen auf. Er war mit einem Flüchtlingstreck unterwegs gewesen. Und mich holte er in Werdau in Sachsen ab, wohin unser Lehrer mit uns geflohen war, als in Schlesien die Front näher rückte.

Unsere Mutter hatte ein paar Monate vorher noch ein Kind bekommen, aber der Kleine starb am 23. April 1945, nur wenige Tage nach der Befreiung durch die Amerikaner. Mein Vater hatte inzwischen erfahren, dass die Russen das Gebiet übernehmen würden und drängte zum Aufbruch. Am 6. Mai zogen wir los Richtung Westen. Mit zwei Handwagen und einer Straßenkarte, die uns zurückführen sollte nach Köln. Zwei Wochen später war ich endlich wieder zu Hause.

Klaus Puller: „Ich habe Tote aus den Trümmern getragen“

Kriegskinder Klaus Puller

Klaus Puller, Jahrgang 1929, stammt aus Essen. Nach dem Krieg machte er eine Banklehre und studierte in Köln Betriebswirtschaft. Anschließend arbeitete er unter anderem für die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Handwerkskammer Düsseldorf und war Leiter der Baugewerbe-Innung Düsseldorf. Klaus Puller ist verwitwet und hat zwei Kinder. Er lebt in Köln.

Ich wurde 1929 in Essen geboren. Vier Jahre später kamen die Nazis an die Macht. Mit acht Jahren wurde ich Pimpf (Anm.d. Red.: Während der NS-Zeit diente der Begriff nicht nur der Bezeichnung eines kleinen Jungen, sondern auch als Dienstgrad für 10- bis 14-jährige Mitglieder des Deutschen Jungvolks) wie alle anderen auch. Wir bekamen eine Uniform und mussten dreimal in der Woche antreten.

Damals hatte ich einen ein Jahr älteren Freund. Er hieß Rolf, seine Mutter war Jüdin und stammte aus Riga in Lettland. Als ich ihm stolz mitteilte, dass ich von jetzt an beim Jungvolk sei, sagte er, ich sei doch katholisch und müsse wissen, dass Jesus Jude gewesen war. Ich solle ihm mal erklären, warum die Juden verfolgt würden. Nach dem Krieg wurde er Redakteur beim „Spiegel“. Ich habe versucht, ihn zu kontaktieren, aber er wollte nicht mit mir reden, was ich verstehen kann.

Vater im Gefängnis, weil er sich abschätzig über Nazis äußerte

Auch Zuhause war es etwas schwierig für mich, weil mein Vater aus religiösen Gründen gegen die Nazis war. Er hatte vier Semester Theologie studiert, als er zum Ersten Weltkrieg eingezogen wurde, aber anschließend nicht weiterstudiert. Einmal war er sogar zwei Monate im Gefängnis, weil er sich abfällig über die Nazis geäußert hatte. Ich kannte zum Glück den Bannführer und dessen Ortsgruppenleiter gut und konnte ihn schnell wieder rauspauken.

Bei uns zu Hause wurde weder über die Nationalsozialisten noch über den Krieg gesprochen, was ich vor allem meiner Mutter zu verdanken habe. Sie hat immer versucht auszugleichen. Aber ich hatte einen Onkel bei der SA, der seine Söhne und mich regelmäßig zu militärischen Übungen antreten ließ. Ich war bis zum Schluss davon überzeugt, dass wir den Krieg gewinnen würden. Die Informationen, die wir bekamen, waren ja alle gleich: „Wir kriegen das schon hin.“

KLaus Puller junger Mann

Klaus Puller als junger mann (links)

Nach jedem Bombenangriff mussten wir Hitlerjungen raus in die betroffenen Gebiete und die Toten bergen. Als im März 1943 der bislang schwerste Luftangriff auf Essen erfolgte, war ich 14 Jahre alt. Ich habe Hunderte von Tote aus den Trümmern gezogen und in die nächste Kirche gebracht. Die meisten waren nur noch kleine Häufchen. Aber wenn Sie so jung sind, kriegen Sie das alles gar nicht richtig mit. Denn das machen alle, da wird nicht groß drüber reflektiert.

Deutschlands Kapitulation war ein Schock

Nachts schossen wir auf die Besatzer Ich habe immer nur von heute bis zum nächsten Tag gedacht, denn nichts in meinem Leben war normal. Ich hatte keine normales Zuhause, keine normale Schule, alles war ein einziges Durcheinander.

Ende 1944 kam ich in ein Wehrertüchtigungslager im Bregenzer Waldtal. Ich war inzwischen Lagermannschaftsführer und ständig unterwegs. Wir wurden an Waffen, insbesondere an Panzerfäusten, ausgebildet, und nachts schossen wir von den Hängen auf die vorbeifahrenden Militäreinheiten der französischen Besatzer. Das Kriegsende erlebte ich in Kitzbühel, wo ich gemeinsam mit anderen Lagerführern untergekommen war. Inzwischen war ich 16 Jahre, und die Nachricht von Deutschlands Kapitulation war ein Schock für uns.

Wie konnte so Schreckliches passieren?

Eines Morgens kam eine Abordnung von Kitzbüheler Bürgern mit Maschinenpistolen unter dem Arm zu uns ins Haus. Sie ließen uns antreten und teilten uns mit, wer nicht innerhalb von fünf Minuten das Haus verlassen habe, der werde erschossen. Da standen wir in unseren Klamotten auf der Straße. Ein paar von uns, auch ich, sind losgetrampt und haben uns bis Frankfurt durchgeschlagen. Dort lebte ein Bruder meines Vaters. Er hat dafür gesorgt, dass ich zurück nach Essen kam.

Bis heute verfolgt mich, was ich als Kind und Jugendlicher erlebt habe. Vieles konnte ich erst viel später einordnen. Als ich mit Anfang 40 zum ersten Mal einen Film über ein KZ sah, habe ich geweint, und manchmal träume ich noch heute davon. Der Film zeigte ein paar Dutzend nackte Frauen auf dem Weg in die Gaskammer. Die meisten trugen ein Kind auf dem Arm oder auf den Schultern. Danach habe ich alles gelesen, was es an Literatur über den Holocaust gibt. Es ist für mich unvorstellbar, dass wir Deutschen sechs Millionen Menschen vergast haben. Wie konnte so Schreckliches passieren? Und wie kann es sein, dass es noch heute Menschen gibt, die schlecht über die Juden reden, ohne Konsequenz?

Ruth Zündorf: „Ich glaube an gar nichts mehr“

Kriegskinder Ruth Zündorf

Ruth Zündorf wurde 1926 in Berlin geboren und wuchs in Köln auf. Sie machte eine Ausbildung als Kinderpflegerin. Nach dem Krieg heiratete sie und bekam vier Kinder. Ruth Zündorf ist verwitwet und lebt in Köln.

Als der Krieg begann, wohnten meine Eltern und ich in Köln-Wahn. Ich weiß noch, dass wir morgens den Volksempfänger anschalteten und Marschmusik gespielt wurde. So richtig schmissig. Später sagte Hitler, dass seit 5.45 Uhr zurückgeschossen würde. Ich war damals 13 Jahre alt und begeistertes „Jungmädel“. Ein Jahr später kam ich zum „Bund Deutscher Mädel“. Es gab eine Feierstunde in Köln-Deutz. Dort haben wir „unserem geliebten Führer“ mit erhobenem Arm die Treue geschworen bis zum Tod.

Und daran habe ich mich gehalten. Wenn wir nachts im Keller saßen, während die Bomben auf Köln fielen und die ersten anfingen zu beten, bin ich aufgestanden und habe gesagt: „Hört auf. Das ist Quatsch. Wir werden siegen.“ Da war ich 15.

In der Kirche für Adolf Hitler gebetet

Manchmal gab es vier, fünf Mal in der Nacht Fliegeralarm. Rein in den Keller, raus aus dem Keller. Trotzdem glaubte ich Hitler, wenn der sagte, dass wir Deutschland schöner denn je wieder aufbauen werden. Ich war nicht die einzige, die so dachte. Ich weiß noch, dass in der Kirche für den Führer gebetet wurde. Was für ein Wahnsinn, denke ich heute. Aber wir alle waren damals fest davon überzeugt, dass der Mann recht hat.

Als er 1933 an die Macht kam, gab es in Deutschland mehr als sechs Millionen Arbeitslose. Auch mein Vater war arbeitslos, das Geld war knapp, wir hatten oft nichts zu essen. Dann hat meine Mutter Öl auf einen Teller geschüttet und ein bisschen Salz darüber gestreut. Ich bekam ein trockenes Stück Brot und habe das eingetunkt. Als Hitler sagte, ich gebe euch Arbeit, Brot und Freiheit, sind ihm alle hinterhergerannt. Wir waren dem Mann regelrecht verfallen.

Ruth Zündorf 1943

Ruth Zündorf 1943

Ich war ihm bis zum Schluss treu. Als es am 30. April 1945 im Radio hieß, unser Führer sei an vorderster Front in Berlin gefallen, habe ich mit erhobenem Arm stramm gestanden und ihn ein letztes Mal gegrüßt. Heute weiß ich, dass das nicht stimmte. Ich habe sogar noch eine Weile meine Kletterweste mit der aufgenähten HJ-Raute getragen. Als mein Onkel mit einer Schere ankam und sagte: „Schneid das um Himmelswillen ab, die Amis sind da“, habe ich ihn nur angeschrien: „Geh weg, Du Vaterlandsverräter.“ Anfangs war ich so verzweifelt, dass ich mich umbringen wollte. Ich schrieb einen Brief, in dem stand, dass ich nach meinem Tod in die Hakenkreuzfahne eingewickelt und in die Erde gelegt werden möchte.

Holocaust für Lüge gehalten

Ich wohnte am Kriegsende bei meiner Tante in Rotenburg an der Fulda. Die Amerikaner hatten am Rathaus ein großes Plakat aufgehängt, das Leichenberge aus einem KZ zeigte. Die Leichen waren so abgemagert, dass sie kaum noch als Menschen zu erkennen waren. Alle Einwohner von Rotenburg mussten sich das Plakat auf Befehl der Amis ansehen.Also bin ich hingegangen, habe einen Blick darauf geworfen und gesagt: „Was für eine Lügerei.“ Für mich sahen die Knochen dieser armen Menschen wie Brennholz aus. Ich wollte es einfach nicht glauben. Selbst dann nicht, als meine erste große Liebe mir erzählte, er selber habe als SS-Mann in einem KZ Gefangene erschießen müssen. Ich dachte, er lügt mich an wie alle anderen.

Inzwischen habe ich viele Bücher über das Dritte Reich und die Judenverfolgung gelesen. Ich war auch im Kölner EL-DE-Haus und habe mir die Zellen im Keller angesehen. Damals habe ich nichts davon gewusst. Ich kann mich lediglich daran erinnern, dass ich mit meiner Mutter nach der „Reichskristallnacht“ durch die Hohe Straße ging. Überall lagen Scherben. Vor den jüdischen Geschäften standen SA-Männer, und man hörte Sprüche wie „Kauft nicht bei Juden. Die Juden sind euer Untergang“. Ich war zwölf und schon bei den Jungmädeln. Trotzdem habe ich nicht begriffen, was los war. Als ich meine Mutter fragte, sagte die bloß: „Kind, das kann ich dir nicht sagen.“

Wenn ich heute nachts wach liege, denke ich oft: Die armen jüdischen Kinder, die von ihren Mütter weggerissen wurden. Die Säuglinge. Und alle in die Gaskammern rein. Ist das nicht furchtbar? Als ich vor einigen Jahren einen Film über ein KZ sah, dachte ich nur: „Und Du, Gott, Herrscher über Leben und Tod, hast Dir das angesehen? Das hast Du erlaubt?“ Da bin ich Atheistin geworden. Ich glaube an gar nichts mehr.

Irene Seiwert: „Nachts schauten wir in die Sterne“

Kriegskinder Irene Seiwert

Irene Seiwert wurde 1927 in Prüm geboren und wuchs in Köln auf. Nach dem Krieg wurde sie Diplom-Ingenieurin und begann, die Welt zu bereisen. Sie lebt in Köln.

Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich in Prüm in der Eifel. Ich hatte drei ältere Geschwister. Unser Vater war Lehrer am örtlichen Gymnasium, und wir wohnten in einem schönen Haus am Waldrand. Meine Eltern hatten einen großen Freundeskreis. Meine beiden älteren Brüder waren in der Jugendbewegung Neudeutschland aktiv, und so lebten wir alle sehr zufrieden. Doch nach 1933 veränderte sich unsere Stadt. Es war, als würde in einem Fass voller Dreck herumgerührt. Jetzt kam der Dreck nach oben, und das machte uns zu schaffen.

Männer, die vorher nichts zu sagen gehabt hatten, waren plötzlich wer. Unser früherer Zahnarzt wurde Kreisleiter und lief nur noch in SA-Uniform durch die Stadt. Der Pastor kam ins KZ, und dort blieb er auch. Nachts wurde unser Haus mit Nazi-Parolen beschmiert, weil meine Mutter in jüdischen Geschäften eingekauft hatte, und meine Brüder bekamen Ärger in der Schule.

Ältester Bruder musste an die Ostfront

Bald war klar, dass wir nicht bleiben konnten, und 1935 stellte mein Vater einen Versetzungsantrag nach Köln, dem auch stattgegeben wurde. Köln war der Himmel. Endlich ließ man uns in Ruhe. Meine ältere Schwester und ich mussten nicht einmal zu den „Jungmädeln“ beziehungsweise zum „Bund Deutscher Mädel“. Wir waren zwar mal zu einem der Treffen gegangen, aber es hatte uns dort nicht gefallen. Also blieben wir das nächste Mal zu Hause.

Ich ging inzwischen auf die Ursulinenschule in der Machabäerstraße. Meine Brüder wurden zum Arbeitsdienst eingezogen und wollten anschließend studieren. Doch dazu kam es nicht mehr. 1939 brach der Krieg aus, und bald wurde unsere Familie auseinandergerissen. Mein ältester Bruder Ludwig wurde zur berittenen Artillerie eingezogen und später an die Ostfront abkommandiert. Rolf war in Belgien stationiert. Meine Schwester Annemarie wurde nach dem Abitur dienstverpflichtet und musste in Stuttgart auf dem Scheckamt arbeiten.

Schule nach Usedom evakuiert

Jetzt war nur noch ich zu Hause. Doch am 1. Juli 1944 musste auch ich gehen: Die Ursulinenschule wurde mit dem gesamten Kollegium nach Bansin auf Usedom evakuiert. Das Schulgebäude war bereits bei dem großen Peter-und-Paul-Angriff am 29. Juni 1943 komplett zerstört worden, und wir waren erst in die Kaiserin-Augusta-Schule und später in die ehemalige jüdische Schule in der St.-Apern-Straße umgezogen. Im Juni 1944 wurde auch dieses Gebäude zerstört, und der Schulbetrieb musste eingestellt werden. Vor unserer Abreise haben wir noch meine Schulfreundin Margot beerdigt. Sie war mit ihrer ganzen Familie durch eine Luftmine zu Tode gekommen. Alle saßen wie lebendig im Keller, aber sie waren tot.

In Bansin war es wunderschön. Ich weiß noch, dass meine Freundinnen und ich uns eines Nachts auf die Seebrücke legten und gemeinsam in den Himmel schauten, während eine Lehrerin uns die Sternzeichen erklärte. Doch allmählich begannen auch hier die Luftangriffe – Peenemünde mit seiner V1- und V2-Raketenversuchsstation war nicht weit. Die Front rückte näher, und man hörte Tag und Nacht das Geböller.

Brüder überlebten den Krieg nicht

Anfang Januar 1945 traf ich meinen Bruder Rolf ein letztes Mal. Er war bei der Ardennenoffensive verletzt worden und lag im Lazarett in Stralsund, etwa 100 Kilometer von Bansin entfernt. Uns blieben nur drei Stunden Zeit miteinander. Dann musste ich zurück. Drei Monate später verließ meine Schule Bansin – kurz bevor die Engländer das benachbarte Swinemünde dem Erdboden gleichmachten.

Wir wurden in einen Eisenbahnwaggon gepfercht und waren drei Tage und drei Nächte unterwegs, bis wir schließlich Kellenhusen in Schleswig-Holstein erreichten. Dort erlebte ich das Kriegsende, ehe mich im Juli 1945 der Vater einer Schulkameradin mitnahm nach Köln. Damals fing für uns die Hungerzeit an. Nach der Schule fuhr ich oft mit der Bahn ins Vorgebirge und sammelte auf den Feldern auf, was zu sammeln war.

Meine Brüder haben den Krieg nicht überlebt. Ludwig fiel im April 1945 in der Schlacht um Königsberg. Rolf verhungerte im Januar 1946 nach seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft in einem Lazarett in Frankfurt an der Oder.