Einer Studie zufolge betrifft ein einziger Unfalltod im Schnitt 113 Menschen. Hier erzählen vier von ihnen, wie sie Miriam Scheidels Tod noch immer beschäftigt
Todestag von Raser-Opfer„Das Urvertrauen, dass sich Dinge zum Guten wenden, ist für uns gestorben“

Auf dem Auenweg erinnert ein weiß lackiertes Fahrrad, ein sogenanntes Geisterrad, an die vor zehn Jahren bei einem illegalen Autorennen getötete Miriam Scheidel.
Copyright: Thilo Schmülgen
Der 14. April 2015 ist ein Dienstag, ein sonniger Frühlingsmorgen. Miriam Scheidel ist in Eile. Die 19-jährige Jura-Studentin wohnt noch bei ihren Eltern. Sie duscht, frühstückt und bricht dann mit dem Fahrrad zur Uni auf. Um 15.30 Uhr schickt sie ihrer Mutter die letzte SMS. Ihr Professor, schreibt die 19-Jährige belustigt, sei immer ganz anderer Meinung als sie, das könne ja heiter werden mit der bevorstehenden Klausur.
Um 18.45 Uhr rasen die Fahrer eines dunklen BMW und eines Mercedes-Cabrio dicht hintereinander über den rechtsrheinischen Auenweg nahe der Zoobrücke. Miriam Scheidel kommt ihnen auf dem Fahrrad entgegen, sie ist auf dem Heimweg, ihre Eltern und ihr Freund warten zu Hause mit dem Abendessen.

Miriam Scheidel wurde am 14. April 2015 im Alter von 19 Jahren von einem Raser auf dem Auenweg angefahren und starb drei Tage später im Krankenhaus.
Copyright: Scheidel
In einer Linkskurve verliert der damals 22-jährige BMW-Fahrer die Kontrolle über seinen Wagen. Das Fahrzeug rutscht quer über die Fahrbahn und prallt gegen Miriams Rad. Die 19-Jährige wird ins Gebüsch geschleudert. Mit schweren Hirnverletzungen kommt sie in die Uniklinik. Drei Tage später stirbt Miriam, ohne das Bewusstsein noch einmal erlangt zu haben.
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Das Gerichtsverfahren gegen die beiden Raser zieht sich über drei Jahre und zwei Instanzen – am Ende muss einer der Angeklagten für zwei Jahre, der andere für eineinhalb Jahre ins Gefängnis. Miriams Eltern und ihr Bruder sitzen an jedem Prozesstag als Nebenkläger im Saal. Verglichen mit anderen Urteilen gegen Raser, sagt die Mutter später, seien die beiden Männer, die ihre Tochter auf dem Gewissen haben, „sehr billig davongekommen“.

Der Auenweg am 14. April 2015 kurz nach dem Raserunfall: Rechts im Gebüsch liegt Miriams Fahrrad.
Copyright: Tim Stinauer
Die juristische Aufarbeitung eines Verkehrsunfalls ist aber nur die eine Seite. Eine repräsentative Studie im Auftrag der Kampagne „Runter vom Gas“ hat vor einigen Jahren erstmals Daten zu den Auswirkungen eines tödlichen Unfalls auf das persönliche und berufliche Umfeld der Verstorbenen vorgelegt.
Das Ergebnis: Wenn ein Mensch bei einem Verkehrsunfall stirbt, sind durchschnittlich 113 Menschen nachhaltig davon betroffen – elf Familienangehörige, vier enge Freunde, 56 Freunde und Bekannte sowie 42 Einsatzkräfte wie Rettungssanitäter, Feuerwehrkräfte oder Polizisten.
Vier – die Mutter, eine Freundin, ein Polizist und die ehemalige Deutschlehrerin – berichten im „Kölner Stadt-Anzeiger“, was Miriams Unfalltod in ihnen ausgelöst hat, und wie er bis heute ihr eigenes Leben prägt.
Miriams Mutter Marita Scheidel: „Das Leben ist durch Miriams Tod extrem anstrengend geworden.“
Das Leben, das wir kannten, endete am 14. April 2015 gegen 18.45 Uhr, an einem schönen Frühlingstag, ohne jede Warnung. Schuld daran sind Raser, die sich im Kölner Auenweg ein illegales Autorennen geliefert haben, einer hat aus Angst vor dem Verfolger die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.
Dadurch ist er mit fast 100 km/h auf den Radweg geschleudert, hat unsere 19-jährige Tochter Miriam vom Rad gerissen, die auf dem Weg von der Uni zu uns nach Hause war. Sie wurde so schwer verletzt, dass sie schon am Unfallort klinisch tot war. Rettungskräfte konnten sie reanimieren, aber drei Tage später ist sie in der Uni-Klinik an ihren schwersten Hirnverletzungen gestorben.
Als ich dort absolut fassungslos an ihrem Bett gestanden habe, war mir vollkommen klar, dass unser eigenes Leben jetzt auch ein ganz anderes sein würde. Ein endloses „Nie wieder“.

Marita Scheidel ist die Mutter von Miriam, die am 14. April 2015 von einem Raser auf dem Auenweg angefahren wurde und drei Tage später starb.
Copyright: Martina Goyert
Miriam ist vor zehn Jahren getötet worden und doch fühle ich oft, als wäre es eben erst gewesen. Mein Zeitempfinden hat sich komplett verschoben, die Jahre mit Miriam laufen parallel immer mit.
Ich weiß, dass es eine lange Zeit ist, es ist viel passiert seitdem, und die Welt ist eine ganz andere. Aber es braucht nur minimale Auslöser, wie Musik, die Jahreszeit, oder auch die Erkrankung eines Familienmitglieds, und ich bin sofort wieder im „Damals“, wieder bei Miriam. Dann fühle ich das komplette Entsetzen, die Fassungslosigkeit, das Nicht-Wahrhaben-Wollen, die Trauer, die Panik.
Bis heute tut mir furchtbar leid, was für sie selber verloren gegangen ist, all ihre Pläne, ihre Träume, alles, was sie je gelernt und gekonnt hatte, ihre Intelligenz, ihr selbständiges Denken; die Schönheit, die sie für uns war.
Ihre Liebe zu uns, ihrer Familie, und zu ihrem Freund Carsten und die Nähe zu ihren Freunden, all das fehlt. Ihr ganzes Leben fehlt. Es braucht nur einen Moment, um den Verlust wieder vor Augen zu haben. Und der Schrecken des Erlebten überträgt sich dann sofort auf aktuelle Situationen, man nennt es wohl posttraumatische Belastungsstörung.
Das Leben ist durch Miriams Tod extrem anstrengend geworden. Der Glaube daran, dass sich Dinge zum Guten wenden, das Urvertrauen, das viele Menschen haben, das ist für uns mit Miriam gestorben. Auch nach all den Jahren vermisse ich sie schrecklich. Ihre selbstverständliche Nähe, ihre Zugehörigkeit, ihr „Mami, ich komme mal, ich hab‘ grad‘ Kuschelbedarf“, ihre Liebe zu uns, all das fehlt. Es fehlt ein Teil von uns.
Wer wäre sie wohl jetzt, wer wären wir mit ihr, wer hätten wir alle sein können?
Mir ist klar, dass alles längst nicht mehr genau so wäre wie damals, aber durch ihr abruptes Ende ist sie in meinen Gedanken immer noch die gerade neunzehnjährige junge Erwachsene, sich ihrer selbst noch nicht ganz sicher und für uns auch immer noch Kind.
Wer wäre sie wohl jetzt, wer wären wir mit ihr, wer hätten wir alle sein können? Hätte Miri ihr Studium beendet, vielleicht doch das Fach gewechselt? Wäre sie Wissenschaftlerin geworden, und Mutter, und Ehefrau? Alle Möglichkeiten hatte sie gehabt. Bis die Raser ihren Weg abschnitten.
Wir werden nie wissen, wie dieses andere Leben hätte aussehen können, unser Leben mit Miriam. Sicher wären wir auch unserem Sohn Fabian bessere Eltern gewesen, hätten nicht unbedacht so viel von unserer Last, noch zusätzlich zu seiner eigenen, bei ihm abgeladen.
Das tut mir unendlich leid, wir wussten es nicht besser, haben bei ihm, der selber gelitten hat, Halt gesucht. Auch sein Leben wäre mit Miriam sicher leichter, unbeschwerter. Ganz sicher wären wir in den letzten zehn Jahren andere Menschen gewesen, glücklich vielleicht.
„Du möchtest doch nicht den Rest Deines Lebens darüber definiert werden, dass Du diejenige bist, deren Tochter im Auenweg totgefahren worden ist“, hat mal jemand gesagt, als ich mich wieder zu Miris Tod geäußert hatte. Aber genau DIE bin ich, zumindest ein Teil von mir.
Das ist wie ein Stigma, wie der berühmte „rosa Elefant“ im Raum, der uns immer begleiten wird. Wir sind die, die erlebt haben was keiner erleben möchte – so empfinde ich es. Das war nie mein Plan, aber ich habe die Rolle natürlich auch ein Stück weit angenommen, bin mit Miriams Vater zusammen mit „Crash-Kurs“, einer Kampagne der Polizei, in Schulen gegangen, um vor den Folgen von Leichtsinn im Straßenverkehr zu warnen. Die Alternative wäre „Totschweigen“ gewesen. So, als hätte es Miriam nie gegeben. Das konnte ich noch weniger.
Seit Miriam in unserem Beziehungsgefüge fehlt, ist es, als hätte man an einem Mobile ein Teil abgeschnitten – der Rest hängt schief
Warum ich das gelegentlich immer noch mache, werde ich gefragt. Weil sie immer noch tot ist…? Durch Miriams Tod haben sich auch die Beziehungen im Bekanntenkreis verschoben. Nach ihrem Tod haben wir uns verändert, sind dünnhäutig und empfindlich geworden, der Umgang mit uns schwieriger.
Seit Miriam in unserem Beziehungsgefüge fehlt, ist es, als hätte man an einem Mobile ein Teil abgeschnitten – der Rest hängt schief, verheddert sich, es ist mühsam, ihn neu auszurichten.
Es hat unfassbar lange gedauert, bis wir wieder in der Lage waren, aus dem „tiefen Loch“ nach Miris Sterben wenigstens herauszuschauen, nach „vorne“, auf die uns verbleibende Zeit, die Zeit ohne sie zu blicken. Da hat uns dann allerdings leider auch nichts Gutes erwartet, und auch wenn das eine andere Geschichte ist, wäre sie mit Miriam zusammen vielleicht leichter zu ertragen. Miri wird immer fehlen, so lange wir leben.
Polizist Hartmut Berg: „Menschen trösten zu wollen, ist in so einer Situation absolutes Gift“
Als ich noch bei den Polizei-Spezialeinheiten gearbeitet habe, musste ich einen Unfall miterleben, der für mich zu einem Wendepunkt wurde. Direkt vor mir, auf einer Ausfahrt der A4, ist ein Auto in Brand geraten. Als Ersthelfer habe ich versucht, zu retten, was zu retten war, konnte aber nicht verhindern, dass zwei kleine Kinder in dem Unfallwagen verbrannt sind.
Dieses Ereignis hat mich lange beschäftigt und tief berührt. Ich wollte versuchen, mich um den Schmerz und das Leid zu kümmern, die solche Todesfälle bei Betroffenen auslösen. Das wurde für mich zu einer Herzensangelegenheit. Deswegen bin ich zum Opferschutz gegangen.
Grundsätzlich soll der Opferschutz ein Gesprächs- und Informationsangebot sein für Betroffene von schweren Verkehrsunfällen. Todesnachrichten musste ich dabei auch überbringen. Das zu tun, ist eine Gratwanderung. So etwas kann man zwar nicht ohne Empathie tun. Gleichzeitig muss man eine gewisse Distanz halten.
Es hilft nicht, wenn man mit Betroffenen dasitzt und weint. Auch der Versuch, Menschen trösten zu wollen, ist in so einer Situation absolutes Gift. Wenn du einer Mutter mitteilten musst, dass ihre Tochter gestorben ist – dafür gibt es keine tröstenden Worte.

Polizist Hartmut Berg
Copyright: Arton Krasniqi
Stattdessen war meine Aufgabe, Stabilität auszustrahlen, Betroffenen bei praktischen Fragen zu helfen und sie handlungsfähiger zu machen: Wann brauche ich einen Anwalt? Wann muss ich mich an die Versicherung wenden? Und wohin kann ich mich wenden, wenn ich psychologische Hilfe brauche?
Nach dem Unfall von Miriam Scheidel bin ich damals ins Krankenhaus gefahren, habe Miriam noch in ihrem Zimmer gesehen. Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings schon fest, dass sie den Unfall nicht überleben wird. Als ich versucht habe, den Eltern das klarzumachen, ist das damals zunächst nicht angekommen. Miriams Tod zu akzeptieren, dazu waren sie damals nicht in der Lage.
Nach Miriams Tod hatte ich mit ihnen zunächst nur sporadisch Kontakt gehabt. Ich habe versucht, bei ganz praktischen Fragen zu helfen. Etwa dabei, Miriams Brille am Unfallort wiederzufinden. Bei dem Fall wusste ich aber sofort, dass ich mich emotional von ihm fernhalten muss, weil er mich sonst eingeholt hätte.
Bei dem Fall wusste ich aber sofort, dass ich mich emotional von ihm fernhalten muss, weil er mich sonst eingeholt hätte.
Ich habe selbst eine Tochter, die nur wenig jünger ist als Miriam damals, und ich kann mir vorstellen, was mit mir passiert wäre, wenn ein Polizist vor meiner Tür gestanden und mir eine solche Nachricht überbracht hätte. Es war sicher einer der schlimmsten Fälle, die ich beim Opferschutz erlebt habe.
Erst als ich 2018 angefangen habe, den „Crash-Kurs“ mitzuveranstalten, hat sich der Kontakt zu Miriams Eltern intensiviert. Beim „Crash-Kurs“ sprechen Einsatzkräfte von Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr, aber auch Hinterbliebene von Unfallopfern auf einer Bühne vor jungen Menschen über ihre Erlebnisse. Wir waren damals im Schnitt an 60 Schulen jährlich. Es ist eine Veranstaltung, die nicht auf den Verstand, sondern auf die Emotionen zielt und versucht, bei jungen Menschen ein Bewusstsein für die Gefahren im Straßenverkehr zu wecken.
Damals konnten wir Miriams Eltern für den Kurs gewinnen. Als ich sie das erste Mal auf der Bühne sah und mich emotional auf ihre Erlebnisse einließ, kämpfte ich mit den Tränen. Solche Veranstaltungen gemeinsam zu durchleben, schweißt natürlich zusammen. Heute duzen wir uns und haben ein sehr enges Verhältnis.
Ich glaube, der Unfalltod von Miriam hat zusammen mit einigen anderen Fällen schon dafür gesorgt, dass es einen Paradigmenwechsel gab, bei der Frage, wie wir als Gesellschaft auf solche Unfälle blicken. Nach dem Unfall wurde viel über Verkehrssicherheit und Raserei in Köln diskutiert und einiges in Bewegung gesetzt, damit sich solche Fälle nicht wiederholen.
Heute ist es mehr ins öffentliche Bewusstsein gerückt, was solche Unfälle anrichten können und dass es keinen Unterschied macht, ob jemand erstochen oder im Straßenverkehr getötet wird. Zu schnelles Fahren oder gar Rasen wird zumindest medial heute nicht mehr als Kavaliersdelikt dargestellt.
Hartmut Berg hat bis 2022 bei der Kölner Polizei gearbeitet und war ab 2018 Mitorganisator des Kölner „Crash-Kurses“. Noch heute engagiert er sich ehrenamtlich für die Veranstaltung.
Lehrerin Silke Micheel: „Der Tod von Miriam hat für viele jungen Menschen einen massiven Bruch bedeutet“
Die Nachricht von Miriams Unfall habe ich vor dem Schulgebäude bekommen, als ich in Hektik die Treppenstufen des Eingangs heruntergehastet bin. Eine junge Kollegin hat mich aufgehalten. Schon an ihrer Stimme habe ich erkannt, dass jetzt ganz egal ist, was ich sonst noch für Termine habe.
Und dass ich mir jetzt Zeit nehmen muss für das, was sie und die auf der Treppe hockende ehemalige Schülerin und Freundin Miriams mir zu sagen haben. Als sie fertig waren, saßen wir alle drei weinend auf den Treppenstufen.
Der Tod von Miriam hat nicht nur für mich, sondern vor allem auch für viele jungen Menschen einen massiven Bruch bedeutet. Ich weiß noch, wie bei ihrer Beerdigung lauter hilflose ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler an ihrem Grab standen. Alles junge Menschen, die gerade die Schule verlassen haben und mit großen Plänen ins Leben marschiert sind, mussten plötzlich mit so einem Verlust umgehen.
In den vergangenen Wochen habe ich mir öfter die Frage gestellt, ob es mich überhaupt interessiert, welche Strafe die Raser damals bekommen haben, die für den Tod von Miriam verantwortlich sind. Doch es gibt keine Strafe, die ihren Tod erträglicher macht, geschweige denn aufwiegen könnte. Kein Urteil bringt uns Miriam wieder.

Silke Micheel ist Lehrerin am Rhein Gymnasium in Köln-Mülheim. Sie unterrichtete den Deutsch-Leistungskurs, den Miriam Scheidel besuchte.
Copyright: Michael Bause
Miriam war meine beste Schülerin. Sie war bescheiden und eher schüchtern, drängte sich nicht in den Vordergrund. Oft erst am Ende der Stunde meldete sie sich und brachte mit ihren Beiträgen die Diskussion sofort auf ein anderes Niveau.
Sie war auch Streitschlichterin an unserer Schule, das heißt, sie half Schülerinnen und Schüler dabei, ihre Konflikte zu lösen. Das ist eine sehr schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, bei der es nicht darum geht zu entscheiden, wer schuld hat, sondern beiden Parteien eine Perspektive aufzuzeigen, wie sie eine Lösung finden können, mit der beide zufrieden sind. Miriam hatte mit ihrer einfühlsamen Art ein Talent dafür.
Oft erst am Ende der Stunde meldete sie sich und brachte mit ihren Beiträgen die Diskussion sofort auf ein anderes Niveau.
In der Abizeitung sollte ich für jede Schülerin und jeden Schüler meines Leistungskurses angeben, in welchem Beruf ich sie später sehe. Bei Miriam schrieb ich „Bundeskanzlerin“. Als ich mir die Abizeitung jetzt, zehn Jahre später, angeschaut habe, hat mich das zuerst gewundert.
Schließlich war Miriam überhaupt nicht machthungrig, sie wollte nie im Mittelpunkt stehen. Aber sie war jemand, die Kompromisse finden und schwierige Entscheidungen treffen konnte – ohne dass ihr Ego dabei im Weg stand.
Wenn ich heute an Miriam denke, habe ich schnell ein Foto vor Augen. Das habe ich irgendwann Miriams Eltern geschickt, als eine Art Kondolenz-Schreiben. Darauf sieht man, wie ich über den Schulhof laufe. Im Hintergrund ist ganz klein auch Miriam zu sehen, mit ihrem Kopf ist sie auf dem Foto genau auf der Höhe meines Ohrs. Es sieht so aus, als ob sie mir etwas zuflüstert. Dieses Foto und diese Erinnerung wecken in mir immer die Frage, was Miriams Tod zu bedeuten hat, was es mir sagen kann oder soll. Eine Antwort darauf fällt mir schwer. Aber er ermahnt mich zumindest daran, den Augenblick zu genießen und sich zu vergewissern, wie kurz das Leben ist.
Silke Micheel ist Lehrerin am Rhein Gymnasium in Köln-Mülheim. Sie unterrichtete den Deutsch-Leistungskurs, den Miriam Scheidel besuchte.
Miriams beste Freundin Judith Oehl: „Fünf Jahre nach ihrem Tod habe ich mir ein Tattoo für sie stechen lassen, auf meinem Rücken.“
Miriam und ich waren zehn, als wir uns kennengelernt haben, das war in der 5. Klasse am Rhein-Gymnasium in Köln-Mülheim. Wir hatten ein bisschen denselben Außenseiter-Vibe, gehörten irgendwie zu keiner Gruppe so richtig dazu und haben uns schnell angefreundet. Miriam war mit meiner Familie mit im Winterurlaub, und ich war häufiger mit ihrer Familie an der Nordsee. Miriam wurde meine beste Freundin.
Als Kind haben wir viel gelesen und uns am Telefon Stellen aus Büchern vorgelesen, die wir gut fanden. Wir waren viel gemeinsam draußen, haben oft gequatscht, zusammen Musik gehört oder Gesellschaftsspiele gespielt. Später hatten wird denselben Freundeskreis. Ich habe ein Jahr nach ihr Abi gemacht.

Judith Oehl war Miriams engste Freundin.
Copyright: Judith Oehl
Ich habe an Miriam geschätzt, dass sie so unaufgeregt war. Nein, unaufgeregt ist das falsche Wort, sie konnte sich schon auch sehr aufregen, aber sie war sehr besonnen. Und verkopft. Ein sehr guter Gegenpol zu mir und ich ein guter Gegenpol zu ihr, denn ich bin eher impulsiv und stürze mich von 0 auf 100 in Dinge hinein.
Wenn Miriam irgendwas gut fand oder realistische Chancen sah, dass etwas klappte, konnte man sich schon sehr sicher sein, dass das auch wirklich funktionierte. Sie war eine sehr gute Zuhörerin.
Von Miriams Unfall erzählte mir meine Mutter noch am selben Abend. Ich saß zu Hause am Tisch und habe Pizza Margherita gegessen, das vergesse ich nie. Zu dem Zeitpunkt wusste noch keiner genau, wie es ihr geht, die Rede war von Knochenbrüchen. Das hat mich beunruhigt, aber ich dachte nicht, dass sie sterben würde.
Die Gewissheit kam noch in derselben Nacht. Bis heute bin ich dankbar dafür, dass ich noch einmal die Gelegenheit hatte, mich im Krankenhaus von ihr zu verabschieden, auch wenn sie das vermutlich nicht mehr mitbekommen hat.
Die ersten Wochen nach ihrem Tod waren komplett surreal, das ist gar nicht richtig bei mir angekommen. Ich habe das verdrängt. Zu der Zeit war ich mitten im Abitur, und an ihrem Unfalltag habe ich meine Deutschklausur geschrieben. Drei Stunden vor dem Unfall schrieb sie mir noch eine SMS aus der Uni. Darin klagte Miriam über ihre superlangweilige Vorlesung und fragte mich, wie meine Klausur gelaufen ist.
Dass sie tot ist, habe ich erst ein paar Wochen nach der Beerdigung richtig begriffen.
Dass sie tot ist, habe ich erst ein paar Wochen nach der Beerdigung richtig begriffen. Ich war auf dem Weg zur Tanzschule und dachte darüber nach, dass ich Miriam eine Sache unbedingt erzählen muss, eine Kleinigkeit, ich weiß schon gar nicht mehr genau, um was es ging. Irgendwas Witziges, das ich gelesen hatte.
Und in diesem Moment habe ich erst gecheckt, dass das nicht mehr geht. Dass ich ihr nie wieder etwas erzählen kann. Ich habe mir eine ruhige Ecke auf der Domplatte gesucht und erstmal geheult.

Miriam (l.) und Judith waren schon als Kinder beste Freundinnen.
Copyright: Oehl
Bis heute passieren Ereignisse in meinem Leben, da wünschte ich mir, Miriam wäre dabei. Vor allem bei meiner Hochzeit vor anderthalb Jahren hätte ich sie gerne dabei gehabt. Ich weiß ja nicht, ob unsere Freundschaft bis heute gehalten hätte. Aber wenn, dann wäre sie auf jeden Fall meine Trauzeugin geworden.
Miriam ist jetzt zehn Jahre tot, ein Jahr länger, als ich sie gekannt habe. Manchmal tut es noch genauso weh wie am Anfang, das ist komplett tagesabhängig. Aber grundsätzlich ist der Schmerz dumpfer geworden. Meistens kommt er völlig überraschend.
Zum Beispiel wenn ich ein Lied höre, bei dem ich weiß, das hätte Miriam gefallen, oder das ich mit ihr verbinde. Wir mochten beide das Stück „Run“ in der Coverversion von Leona Lewis. Das haben wir oft gesungen, zum Leidwesen aller anderen, fürchte ich.
Den Auenweg, den Unfallort, meide ich
Anfangs bin ich sehr oft auf dem Friedhof gewesen. Miriam und ich haben die Serie „Der Lehrer“ geschaut, die sie nicht bis zum Ende mitbekommen hat. Ihr fehlen sechs Staffeln. Die habe ich ihr am Grab alle erzählt, jede Woche. Mittlerweile brauche ich keinen speziellen Ort mehr, wenn ich mich an sie erinnern möchte.
Wir hatten Freundschaftskühe, so kleine Kuscheltiere, jede eine. Nach ihrem Tod hat Miriams Mutter mir ihre Kuh gegeben, jetzt habe ich beide. Die anzugucken reicht mir schon, wenn ich mich an Miriam erinnern will. Auch Freundschaftsketten, die wir beide hatten und die mich sehr an sie erinnern, habe ich noch.
Den Auenweg, den Unfallort, meide ich. Wenn ich da mal zufällig vorbeikomme, merke ich direkt, dass meine Stimmung schlecht wird. Auf die beiden Raser hatte ich anfangs eine Riesenwut. Das Unverständnis ist auch heute noch da, aber die Wut ist dumpfer geworden. Ich habe nicht die Energie, neben der Trauer auch noch konstant wütend zu sein.
Ich versuche, nicht über die beiden nachzudenken. Nicht darüber nachzudenken, dass sie ihren Führerschein wiederhaben. Und ihre Strafe abgesessen haben oder dass ihr Leben inzwischen normal weitergeht. Ich wünschte mir, dass zu Miriams Unfallzeitpunkt illegale Straßenrennen schon explizit im Strafgesetzbuch gestanden hätten, dann wäre die Strafe vor Gericht vermutlich höher ausgefallen.
Es gibt Menschen, mit denen ich gut über sie und ihren Tod reden kann. Es gibt aber auch solche, die inzwischen die Augen verdrehen. Dann heißt es: „Wer weiß, ob ihr überhaupt noch befreundet wärt.“ Oder: „Du kanntest sie doch sowieso nur neun Jahre.“ Oder: „Ihr wart doch nur befreundet, so schlimm kann das doch nicht sein.“
Wir haben uns früher Zettel geschrieben, die ich alle aufbewahrt habe
Ich finde das unfair, Freundschaften kleinzureden. Ich glaube, dass es, wenn man einen Menschen sehr gern hat, völlig egal ist, ob man die Person nun freundschaftlich, romantisch oder wie auch immer geliebt hat. Warum muss man Schmerz vergleichen?
Irgendwann habe ich aufgehört, mit anderen darüber zu reden. Ich finde es aber gut, wenn ich auf Miriam angesprochen werde und freue mich, wenn andere auch noch an sie denken. Und ich finde es schön, wenn Leute mich fragen, wie es mir geht, zum Beispiel an Miriams Todestag oder am Unfalltag oder an ihrem Geburtstag.
Wenn ich mir Miriam heute vorstelle, glaube ich, dass sie verheiratet wäre, aber noch keine Kinder hätte. Sie würde wahrscheinlich noch in Köln wohnen. Vielleicht wäre sie heute Juristin oder Ernährungswissenschaftlerin, das war damals eine Überlegung von ihr. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr Jurastudium weitermachen wollte.
Fünf Jahre nach ihrem Tod habe ich mir ein Tattoo für sie stechen lassen, auf meinem Rücken. Ich kann es nicht sehen, aber jedes Jahr an Miriams Todestag mache ich ein Foto davon. Es ist ein Schriftzug in Miriams Handschrift. Wir haben uns früher Zettel geschrieben, die ich alle aufbewahrt habe. Mit einem der Zettel bin ich zum Tätowierer gegangen und habe gesagt: Ich hätte gerne das, was da draufsteht, Miriam hatte mir das mal geschrieben. Zweimal sogar. I’m always with you.