Meschenich – Er gibt der Polizei ein Gesicht – und einen Namen. Der lautet „Herr Thilo“. Unter diesem ist Bezirkspolizist Thilo Lotterer am Kölnberg bekannt, jener Hochhaussiedlung am Rande von Meschenich mit schlechtem Ruf. Im zweiten Stock von „Haus 4“ sitzt Lotterer mit drei Kollegen in einer zur Polizeiwache umfunktionierten Wohnung. Hinter dem Tresen, an dem die Polizisten Anzeigen aufnehmen, hängt das alte Straßenschild „Auf dem Kölnberg“. Lotterer und seine Kollegen betreuen etwa 10 000 Menschen in ihrem Bezirk, der die Stadtteile Rondorf und Meschenich einschließt.
Die Wache ist nicht durchgehend besetzt. Darauf weist ein Schild außen an der Tür hin. „Wir haben gar nicht so viele Straftaten hier“, stellt Lotterer klar. Die Kriminalitätsrate liege kaum über dem Kölner Durchschnitt, auch wenn einzelne Vorkommnisse, wie die blutige Fehde zwischen zwei nordirakischen Familien im vergangenen Jahr, die öffentliche Wahrnehmung prägten. „Hier wohnen viele, die Straftaten begehen, ein klassischer Rückzugsraum für Kriminelle“, sagt Lotterer. In der Hochhaussiedlung bleiben die Menschen anonym, wenn sie wollen. Ein Großteil seiner Arbeit besteht aus dem Vollstrecken von Haft- und Strafbefehlen. Dabei klicken selten die Handschellen. „Manchmal kommen die Leute hierher, zeigen mir ihren Strafbefehl und fragen: »Hier Thilo, was soll ich machen?«“ Oft geht es um Beschaffungskriminalität, Einbrüche, Diebstahl. „300 Euro sind hier eine Menge Geld“, weiß Lotterer. Wenn eine Geldstrafe verhängt wurde, fragt er: „Willst du arbeiten, zahlen oder sitzen?“ Häufig greift Lotterer zum Telefon und vereinbart mit der Staatsanwaltschaft eine Ratenzahlung für den Straftäter oder nimmt Kontakt mit einer karitativen Einrichtung auf, in der Arbeitsstunden abgeleistet werden können.
Gutmütig mit bärenhafter Statur
Das ist der gutmütige Polizist Lotterer, ein ehemaliger American-Football-Spieler mit bärenhafter Statur, der den Leuten eine Chance geben will. Manchmal führt aber kein Weg an der Haft vorbei. Er betont, dass sie hier niemanden vorführen wollen.„Bei uns bekommt jeder die Zeit, in Ruhe fürs Gefängnis zu packen und auch noch einen Kaffee zu trinken“, sagt er.In der Hochhaussiedlung leben mehr als 4000 Menschen aus vielen Nationen. Die größte Gruppe stellen türkische Einwanderer, die mit einigen Sinti-Großfamilien zu den Alteingesessenen am Kölnberg gehören. Seit dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien 2007 kommen vermehrt Roma aus diesen Ländern hierhin. Dazwischen leben Afrikaner, Afghanen, Polen, Russen. Die meisten bleiben unter sich. Die Fluktuation ist hoch. „Viele verbinden mit der Polizei das, was sie aus ihrem Heimatland kennen, und begreifen nicht, dass die Polizisten hier niemanden schlagen“, meint Lotterer.
Die ersten zwei Jahre als Bezirksbeamter musste er sich das Vertrauen der Leute hart erarbeiten. Seit 1998 ist der heute 59-Jährige hier. Zuvor arbeitete er bei der Kriminalitätsbekämpfung, ermittelte Straftäter, häufig verdeckt. Zum Bezirksdienst kam er, weil er etwas anderes machen wollte. Offen mit den Menschen reden zu können, reizte ihn besonders. „Ich versuche, zu jedem freundlich zu sein, auch zu denen, mit denen ich privat kein Bier trinken würde“, formuliert er seine Ansprüche an sich selbst. „Am Anfang seiner Zeit hier fragten die Bewohner nach seinem altgedienten Kollegen, wollten erst gar nicht mit ihm reden. Als jener nach einem dreiviertel Jahr das erste Mal nach seinem neuen Kollegen gefragt wurde, wusste Lotterer, dass er auf dem richtigen Weg war. Erst war man der Bulle. Dann war man auf einmal Herr Thilo“, erinnert er sich.
Auch frustrierende Erlebnisse
Manche Gesetzesuntreue legen ihm sein Bemühen um eine vertrauensvolle Beziehung als Schwäche aus. Wenn sie sich aber nicht an Vereinbarungen mit Lotterer und seinen Kollegen halten, kann er ungemütlich werden. „Ich bin ja keine Witzfigur“, meint Lotterer. Schon allein, weil er weit mehr als 100 Kilo auf die Waage bringt. Großen Wert legt er auf die Zusammenarbeit mit den verschiedenen sozialen Einrichtungen im Bezirk. Lotterer genießt dort viel Ansehen, gilt als verlässlich, offen und ehrlich. In Zusammenarbeit mit dem Jugendzentrum sorgte er vor ein paar Jahren dafür, eine aus dem Ruder gelaufene Gruppe Halbstarker wieder auf die richtige Spur zu bringen. Die etwa 40 Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren raubten anderen Jugendlichen in Rondorf Handys und lieferten sich Schlägereien. Zwei Vorbestrafte aus der Gruppe landeten im Gefängnis. Von den Übrigen bestellten Lotterer und die Mitarbeiter des Jugendzentrums zehn Rädelsführer zum Gespräch. Sie drohten, im nächsten Schritt die Eltern zum Gespräch zu bitten. Das sprach sich herum, und die Überfälle hörten auf.
Doch auch frustrierende Erlebnisse blieben nicht aus. Entsetzt erzählt Lotterer von dem Tag, an dem er und seine Kollegen in einer Wohnung im zehnten Stock einen Haftbefehl vollstrecken wollten. Sie klingeln, hören Geräusche von innen, doch niemand öffnet. Sie brechen die Tür auf und treffen auf eine Frau, die vom Gesuchten, ihrem Ehemann, alleine eingeschlossen wurde. „Was passiert denn mit der Frau, wenn es brennt?“, fragt Lotterer. Häufig sieht er Frauen, die sie ein paar Tage zuvor vor ihren prügelnden Männern in Frauenhäusern in Sicherheit gebracht hatten, wieder zusammen mit ihren Männern, als wäre nichts geschehen. Auch die Heroinszene macht ihnen zu schaffen, an die Hintermänner kommen sie selten heran. In dieser hermetisch abgeschlossenen Welt halten alle dicht, Observationen oder verdeckte Ermittlungen sind so gut wie unmöglich. „Jeder, der nicht hierhin gehört, wird sofort wahrgenommen“, sagt Lotterer. Einem Drogenabhängigen half er einst hier heraus. Der Mann zog weg, doch nach nur einem Jahr war er zurück und hing schnell wieder an der Nadel.
Ausbildung vs. schnelles Geld
Einem anderen Jugendlichen verschaffte Lotterer eine Arbeitsstelle. Irgendwann ist der junge Mann dort einfach nicht mehr aufgetaucht. „Die sehen das schnelle Geld, ihre Brüder oder Nachbarn mit den dicken Karren. Da ist es schwer zu vermitteln, dass eine Lehre mit 600 Euro Verdienst im Monat der richtige Weg ist“, klagt Lotterer. Resigniert stellt er fest, dass sie den Kölnberg wohl nie drogenfrei bekommen werden.
Er klingt manchmal wie ein Sozialarbeiter. Vielleicht, überlegt er, wäre er auch einer geworden, wenn er nach der Schule studiert hätte. So bringt er seinen Idealismus eben in die Polizeiarbeit ein. „Ich will, dass das Leben hier besser wird“, sagt er. Die Bewohner scheinen ihm und seinen Kollegen die ehrlichen Absichten abzunehmen und ihnen den nötigen Respekt zu zollen. Ihre Privatwagen stehen während der Dienstzeit in der Tiefgarage. Jeder weiß, wo. Trotzdem war noch nie auch nur ein Kratzer an einem der Autos.