Zollstock – Der Knall, der am Freitag gegen 8.30 Uhr die Mitarbeiter einer Versicherung an der Pohligstraße in Zollstock aufschreckt, ist ohrenbetäubend. Sie stürmen zu ihren Bürofenstern, aus dem Hochhaus haben sie freien Blick auf das Rangiergelände der Deutschen Bahn. Was sie dort sehen, soll eine Angestellte so sehr geschockt haben, dass ihre Kollegen den Rettungsdienst alarmieren.
Auf einem Kesselwagen liegt ein brennender Mann in Arbeitskleidung. Er ist der Oberleitung zu nahe gekommen, hat einen Stromschlag erlitten. Ein verzweifelter Kollege will ihm zur Hilfe eilen und klettert die Leiter zum Waggon hoch. Aber auf halbem Weg wird auch der 30-Jährige vom mehrere tausend Grad heißen Lichtbogen erfasst und auf den Boden geschleudert.
Als wenige Minuten später die Rettungskräfte eintreffen, erleben sie „mit das Schlimmste, was einem als Feuerwehrmann passieren kann“, wie es ein Wehrmann später ausdrückt: Sie müssen mit ansehen, wie der Arbeiter auf dem Waggon verbrennt, können ihm nicht helfen, weil die Oberleitung immer noch Strom führt. Löschwasser hätte den Funkenschlag noch erhöhen, Löschschaum sogar eine Explosion auslösen können. „Es war eine sehr dramatische Situation“, schildert Martina Dressler, Sprecherin der Bundespolizei.
Also tun die Feuerwehrkräfte das, was ihnen in diesem Moment möglich ist, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen: Sie kümmern sich um den 30-jährigen Schwerverletzten, der am Boden liegt, reanimieren ihn. Ein Rettungswagen bringt den lebensgefährlich verletzten Mann in eine Spezialklinik.
Seinen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Kollegen bergen die Einsatzkräfte, nachdem die Bahn den Strom abgeschaltet hat und Arbeiter den Reststrom, der durch die 15 000-Volt-Leitung fließt, mit so genannten Erdungsstangen in den Boden abgeleitet haben. Wie Feuerwehr-Einsatzleiter Georg Spangardt mitteilte, hätten seine Kollegen das Leben des 33-Jährigen auch bei schnellem Eingreifen nicht mehr retten können. „Für ihn wäre von Anfang an jede Hilfe zu spät gekommen.“ Mehrere Einsatzkräfte mussten dennoch psychologisch betreut werden.
Landes- und Bundespolizei ermitteln nun, wie das Unglück geschehen konnte. Nach ersten Untersuchungen steht fest, dass der Strom zum Zeitpunkt des Unglücks nicht abgeschaltet war. Das ist ungewöhnlich. Denn es sei grundsätzlich „normale Vorgehensweise“, dass Arbeiter, die in der Nähe einer Oberleitung tätig werden, sich vorher vergewissern, dass die Leitung stromlos und geerdet ist, sagte Polizeisprecherin Dressler. „Wie das im vorliegenden Fall konkret gelaufen ist, müssen die Ermittlungen ergeben.“
Der 33-Jährige sei eine erfahrene Fachkraft gewesen, heißt es bei seinem Arbeitgeber, einem privaten Subunternehmer der Deutschen Bahn. Wie auch sein schwer verletzter Kollege sei er seit Jahren in der Firma beschäftigt gewesen.
Am Freitagmorgen hatte er den Auftrag, ein offenbar defektes Druckventil am Waggon zu reparieren, ein so genanntes Bodenventil. Warum der Familienvater dazu auf das Dach des Wagens kletterte, ist bislang vollkommen unklar. Weder sein Arbeitgeber noch die Polizei oder die Deutsche Bahn hatten dafür am Freitag eine Erklärung. Die Polizei setzt nun auf die Aussagen von Zeugen.
Fest steht: Den Strom können die Arbeiter nicht selbstständig abschalten. Ein entsprechender Antrag muss schriftlich bei der DB Netz AG eingereicht werden. Ob dies im Zusammenhang mit den Arbeiten an der Pohligstraße nötig war und auch geschehen ist, ist ungewiss. Weder der Subunternehmer noch ein Sprecher der Deutschen Bahn äußerten sich dazu.