Drogenreport 2013Dealen in Köln: Lukratives Geschäft mit dem Tod
„Meine erste Kundin war eine Zivilpolizistin am Neumarkt, da bin ich sofort auf die Schnauze gefallen. Danach wurde ich vorsichtiger. Ich verkaufe an jeden, nur nicht an Kinder. Aber ich frage auch niemanden nach seinem Ausweis.“
Tommy, Dealer
Das Handy klingelt, Tommy muss los. Kundschaft ruft, keine Zeit verlieren. Er rückt die braune Schiebermütze gerade, springt auf, steigt auf sein Fahrrad. Das Ziel: ein Spielplatz hinter dem Wiener Platz. Die Kundin: eine Frau, vielleicht Mitte 30. So genau kann man das nie sagen in seinen Kreisen. Die Menschen sehen oft älter aus. Hinter seiner Oberlippe hat Tommy winzige blaue Kügelchen versteckt, so genannte Bubbles. Falls die Polizei kommt, kann er sie schnell herunterschlucken. Jetzt spuckt Tommy die Ware in seine Hand. Ein Bubble wechselt den Besitzer.
Der Handel dauert keine 30 Sekunden. Man kennt sich, man feilscht nicht, der Preis steht fest: 0,3 Gramm kosten 15 Euro, 0,4 Gramm 20 Euro, 0,5 Gramm 25 Euro. Tommy steckt das Geld ein und schwingt sich wieder auf sein grünes Mountainbike.
„Ich verkaufe das beste Zeug in Köln“, sagt er, als er nach ein paar Minuten wieder am Wiener Platz zurück ist. Thomas, den alle Tommy nennen, handelt mit dem Versprechen auf den ultimativen Trip. Tatsächlich verkauft er Reisen in einen langsamen, elenden Tod.
Tommy ist ein Dealer. Er handelt mit einer der gefährlichsten Drogen der Welt, mitten in Köln: Heroin. Die Geschäfte laufen gut. Er hat ein kleines Blöckchen dabei, darin stehen die Namen seiner Kunden. Und wer noch Schulden bei ihm hat: „Jimmy zehn Euro, Natascha 20 Euro.“ Jeder Kunde hat einen Tarnnamen, falls die Polizei den Block mal finden sollte.
Es ist Anfang Mai, ein heißer Frühlingstag. Der Wiener Platz in Mülheim ist Tommys Revier. Er ist in der Nähe aufgewachsen, kennt sich hier aus. Tommy ist 29. Sein Leben als Dealer hat so gar nichts mit dem Bild gemein, das das Kino mitunter von Drogenhändlern zeichnet: kein fettes Auto, keine teuren Klamotten, keine dicke Kohle.
Er trägt ein rotes Deutschland-Trikot, blaue Converse-Turnschuhe und eine weiße Dreiviertel-Hose. In seiner Tasche steckt ein kleiner Plastikbeutel mit Spritzbesteck: Pumpe, Kanüle, Ascorbinsäure, Schnürriemen, Feuerzeug und ein kleines Pfännchen, das aussieht wie ein Kronkorken mit Griff. Tommy ist selbst abhängig, in der Dealer-Hierarchie steht er ganz unten.
2000 Euro im Monat für den Eigenbedarf Heroin
Er muss den Stoff auf der Straße verticken, drei Gramm pro Tag. Damit finanziert er seinen eigenen Konsum. Fast 2000 Euro braucht er für Heroin, jeden Monat. Ohne Job, ohne normales Einkommen. Da bleibt nur die Illegalität. Und trotzdem hat er kein Geld für eine Wohnung, oft nicht mal für etwas zu essen. Die Nächte verbringt er in der Notschlafstelle des SKM. Oder bei Junkie-Freunden.
Tommys Arbeitstag beginnt, wenn die meisten Leute ihre Mittagspause schon hinter sich haben. Wenn er aufwacht, setzt er sich den ersten Schuss: „Um 14 Uhr treffe ich meinen Dealer und kaufe fünf Gramm Heroin für 160 Euro.“ Der Stoff kommt aus Holland, als fester Block. Das wollen die Kunden so, fertiges Pulver wurde meist schon mehrfach gestreckt.
Drogen in Köln: Drogenreport 2023 – Recherchen aus einer Schattenwelt
Zwei Gramm braucht er selbst. Den Rest wiegt Tommy und packt die Portionen ab. Er steckt ein Stück Plastikfolie durch eine Kuhle zwischen Daumen und Zeigefinger und füllt das Heroin hinein. Dann formt er die Bubbles, die er mit einem Feuerzeug verschweißt. Das heiße Plastik verbrennt seine Fingerkuppen, sie sind braun und verkohlt. Schmerz spürt er nicht: „Du bist durch das Heroin ja dauerhaft betäubt.“
Zwischen 16 und 17 Uhr ist alles bereit, dann verkauft Tommy bis 21 Uhr. So geht das sieben Tage die Woche. Ein Kleindealer kennt keine Wochenenden oder Feiertage, schon gar keinen Urlaub. Wenn die Kundschaft ruft, muss verkauft werden. Sonst bleibt nicht genug Geld, um die eigenen Drogen zu bezahlen: „Eigentlich ganz schön arm“, sagt Tommy und bläst Zigarettenqualm aus, „aber notwendig. Und in diesem Moment durch nichts zu ersetzen.“
Dealen in Köln: Das große Geld machen andere
Das große Geld machen andere. Für Tommys Dealer, der in dieser Geschichte Manni heißt, arbeiten sechs bis acht Leute. Gut 60 Gramm Heroin besorgt Manni jeden Tag aus einer Wohnung in Zollstock. Kosten im Einkauf: 30 Euro das Gramm. Auf der Straße wird dieselbe Menge für 50 Euro verkauft.
Und wer ein halbes Gramm verkauft, verkauft in Wahrheit weniger, „eher 0,42 Gramm. Das macht jeder Dealer“, weiß Tommy. Wenn er trotzdem nicht genug verdient, „muss manchmal noch ein Autoradio dran glauben.“ Dann fährt er am liebsten zum Mitarbeiter-Parkplatz von Bayer Leverkusen und knackt dort Autos auf.
Andere Dealer verkaufen noch mehr als Tommy, zehn bis 15 Gramm am Tag. Sie haben ihren festen Kundenstamm und arbeiten quasi von Zuhause: „Das sind aber die Leute, die alle paar Jahre von der Polizei hops genommen werden.“ Auch Tommy wurde schon erwischt, kam mit zwei Jahren auf Bewährung davon.
In Köln gibt es fast ein Dutzend Orte, an denen Drogenkriminalität ebenso ins Bild gehört wie der Supermarkt an der Ecke: Außer dem Wiener Platz sind das Porz-Finkenberg, Kalk, Gremberg, der Neumarkt, der Ebertplatz, die Altstadt, der Kölnberg, Chorweiler – und die Hochhaussiedlung um das Görlinger Zentrum in Bocklemünd.
Drei große Polizeirazzien gab es hier: 2010, 2011, zuletzt im Juli. Neun Tatverdächtige wurden festgenommen, alle sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß und warten auf ihre Gerichtsverhandlungen. Die Drogengeschäfte laufen weiter. Hier wird hauptsächlich mit Marihuana gehandelt, im großen Stil und bestens organisiert: Wenn große Lieferungen ankommen, strömen die Dealer herbei und holen sich ihre Portionen ab.
Einige von ihnen sind minderjährig, schon Zwölfjährige sollen als so genannte „Läufer“ arbeiten: Sie verstecken die Drogen unter den Sätteln ihrer Fahrräder. „Hier wird der Nachwuchs rangezogen“, weiß ein Ermittler. Dass sogar Kinder in die kriminellen Machenschaften reingezogen werden, schockiert viele im Stadtteil. Den Markt haben alteingesessene Familien unter sich aufgeteilt.
Verkauft wird auf Spielplätzen, aber auch vor dem evangelischen Kindergarten. Falls die Polizei mal unangekündigt kommt, sitzen Aufpasser in Hochhäusern an den Zufahrten zum Görlinger Zentrum und verschicken blitzschnell Warnungen per SMS. Es gibt nur drei Zufahrtswege für Autos. Die Dealer dagegen flüchten zu Fuß oder auf Rollern durch die engen Gassen und Wege in alle Himmelsrichtungen. „Wenn ich Dealer wäre und mir den idealen Stadtteil bauen dürfte, sähe der genauso aus wie das Görlinger Zentrum“, sagt ein langjähriger Drogenfahnder.
Nach den Razzien der Polizei wird es ruhiger in Bocklemünd, aber nur kurz. Im Sommer wurde auf offener Straße gekifft, Anwohner beschwerten sich über den typischen Geruch, der in ihre Wohnungen zog. „Jeder weiß, was hier abläuft“, sagt einer, der seit 30 Jahren im Veedel lebt.
Drogenszene Köln: Gewalt nimmt zu
Auch die Gewalt nimmt zu: Am 1. Juni wurde ein 23-Jähriger an einer Bushaltestelle von zehn bis 15 Jugendlichen halb tot geprügelt und getreten. Wie es heißt, war die Tat eine Abrechnung unter Dealern, Hintergrund: eine nicht bezahlte Rechnung.
Zurück auf dem Wiener Platz. An diesem Nachmittag ist wie meistens viel Betrieb: Menschen, die zur Bahn hetzen, Mütter mit Kinderwagen, alte Männer mit Gehhilfen. Auf den Steintreppen am Rand des Platzes sitzen die Leute in der warmen Frühlingssonne. Auffallend viele haben eine Bierflasche in der Hand, einige lallen. Es ist nicht klar, ob sie von Alkohol oder Heroin so benommen sind. Oder von beidem.
Ballern: spritzen von Heroin. Auch: Drücken oder Fixen.
Bodypacking: Transport von Drogen in Körperöffnungen (z.B. im Darmtrakt oder bei Frauen in der Vagina).
Bodystuffing: Verschlucken von Betäubungsmitteln, um diese zum Beispiel vor der Polizei zu verstecken.
Brown sugar / Braunes: verunreinigtes Heroin.
Bubble: Kugelförmig abgepackte Konsumeinheit, meistens Heroin und Kokain.
Bunker: Betäubungsmittel-Versteck.
Checken: Drogen verkaufen oder besorgen. Auch: Verticken.
Cheese: Heroin und Schmerzmittel kombiniert.
Cutten (englisch für „verschneiden“): durch Beimischung billigster Füllstoffe wie zum Beispiel Mehl wird verschnittene Ware hergestellt. Auch: Strecken.
Einfahren: Festgenommen und inhaftiert werden.
Goldener Schuss: tödliche Überdosis (meist ist Heroin gemeint).
H (engl. ausgesprochen): Heroin. Auch: Schore oder Smack.
Junkie (aus dem Englischen von junk = Schrott): Bezeichnung für Drogenabhängige (meist Heroinkonsumenten), die die Sucht mehr beansprucht als ihr Leben.
Speedball: geschnupfte oder intravenös injizierte Kombination von Heroin und Kokain.
Pumpe: Injektionsspritze.
Steckies: verengte Pupillen nach Heroinkonsum.
Thai-H (meist englisch ausgesprochen): weißes statt wie üblich zimtfarbenes Heroin. Entweder besonders rein oder gestrecktes Fentanyl, ein synthetisches Opiod.
Turkey (englisch ausgesprochen): Entzugserscheinungen von Heroin.
Zivi: Zivilpolizist.
Wer hier öfter vorbei kommt, kennt die ausgemergelten Gesichter, die kaputten Gestalten: fettige Haare, stinkende Klamotten, leere Blicke. Köln ganz unten. Der Dealer Tommy sieht anders aus: gepflegt, gut gebaut, die Haut leicht gebräunt. Er hat keinen ausgemergelten Junkie-Körper. Nur die Narben an seinen Armen zeugen bei näherem Hinsehen vom Raubbau, den er an sich betreibt. Sie kommen von den ständigen Stichen mit der Heroinspritze.
Mit 14 hat er zum ersten Mal Heroin geraucht, mit einer Freundin im Stammheimer Wäldchen. „Wir waren total rebellisch drauf zu der Zeit und dachten: Krass, wir sind 14 und haben die härteste Droge der Welt geraucht“, erinnert er sich. Der Stoff kam von einem Dealer am Wiener Platz. Heute ist er selbst so einer. „Wahnsinn, wir waren noch Kinder“, fällt Tommy auf, wenn er an damals denkt. Auch seine damalige Freundin ist noch drauf. Sie hat ein Kind und holt ihren Stoff manchmal bei Tommy.
Ein Jahr ist er als Jugendlicher abhängig, dann sechs Jahre clean. Er beendet die Schule, macht eine Ausbildung zum Elektriker. Kommt mit 23 wieder drauf, spritzt zum ersten Mal, aber nur für ein paar Monate. Dann wieder Entgiftung, ein paar Jahre normales Leben. Im Dezember 2012 der letzte Rückfall. Seine Freundin trennt sich von ihm, er greift wieder zur Nadel.
Allmählich wird es Zeit für den nächsten Schuss, Tommy spürt die Entzugserscheinungen: Er wird unruhig, sein Kopf schmerzt, der Körper verlangt nach der Droge. Jetzt ist der 29-Jährige nicht mehr der Dealer, sondern der Junkie. Auf einer Stahltreppe hinter der Stadthalle Mülheim macht er sich die nächste Heroin-Ration fertig.
Es ist dreckig, stinkt nach Urin. Tommy stört das nicht. „Ich muss mich gesund machen“, sagt er. „Gesund machen“ mit einem Gift – der Gegensatz fällt ihm gar nicht auf. Während er die Spritze aufzieht, fährt in ein paar Metern Entfernung ein Motorradpolizist Streife. Tommy wird kurz nervös, aber als sich der Beamte entfernt, macht er routiniert weiter.
Obwohl Tommy seinen Arm abgebunden hat, ist kaum eine Vene zu sehen. Als er schließlich doch eine findet und die braune Brühe in seine Blutbahn pumpt, setzt nach wenigen Sekunden der gewünschte Effekt ein: „Jetzt spüre ich den Stoff“, sagt Tommy und zieht die Nadel aus seiner Hand. Einen Kick merkt er schon lange nicht mehr: „Jetzt fühle ich mich so, wie du Dich immer fühlst.“
Er streicht über die Tätowierung an seinem Arm und packt sein Fixerbesteck ein. Sein Handy klingelt schon wieder, der nächste Kunde verlangt nach Stoff. Zum Abschied stimmt Tommy einem nächsten Treffen zu. Bis dahin antwortet er zuverlässig auf Anrufe und SMS. Doch Mitte Mai reißt der Kontakt ab. Tommy ist wie vom Erdboden verschwunden. Nicht am Wiener Platz zu finden, nicht auf dem Neumarkt. Im Gefängnis ist er auch nicht. Ist er tot?
Auch ohne Tommy floriert der Drogenhandel in Köln. Ein stürmischer Dienstagnachmittag am Rheinufer, direkt unterhalb der Philharmonie. Der Weltjugendtagsweg, ein weiterer Hotspot der offenen Drogenszene in Köln. Wo Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch 2005 zum Rhein hinunter ging, hat sich ein bekannter Marihuana-Schwarzmarkt etabliert. Aus dem ganzen Umland kommen die Kiffer, um im Schatten des Doms ihr Rauschgift zu kaufen.
Laut § 29, Absatz Nr. 1 und Nr. 3 Betäubungsmittelgesetz macht sich strafbar, wer „Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft bzw. sie besitzt, ohne zugleich im Besitz einer schriftlichen Erlaubnis für den Erwerb zu sein. Strafrahmen sind Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafen.
Bei gewerbsmäßigem Handel oder der Gründung einer kriminellen Vereinigung zum Zwecke des Drogenhandels und besonders schweren Fällen sind Freiheitsstrafen bis zu 15 Jahren möglich.
Beschaffungskriminalität richtet sich entweder auf die Erlangung von Drogen oder Waren, durch deren Verkauf Drogen beschafft werden können. Neben Ladendiebstählen sind Einbruchsdiebstähle häufige Delikte.
Heroin wird hauptsächlich im so genannten Goldenen Halbmond (Afghanistan, Pakistan, Iran) und im Goldenen Dreieck (Thailand, Burma, Laos, Vietnam) produziert. Die Bedeutung des Goldenen Dreiecks als Lieferant für den weltweiten Heroinmarkt ist durch die Drogenproduktion in Afghanistan spürbar gesunken.
In Südamerika liegen die Coca-Anbaugebiete (Kolumbien, Bolivien und Peru). Hanf wird in vielen Staaten angebaut, teilweise auch legal, angebaut. Die größten Exporteure: Afghanistan, Marokko.
Der weltweite Umsatz beim Drogenhandel beträgt laut UN jährlich etwa 400 Mrd. US-Dollar.
Auch an diesem Tag stehen die Dealer in kleinen Gruppen zusammen. Sie unterhalten sich oder tippen auf ihren Handys herum. Die meisten sind junge Nordafrikaner um die 20. Wer nicht zielstrebig auf sie zugeht und nach Stoff fragt oder zügig und achtlos vorbeiläuft, macht sich verdächtig. „Warum stehst du hier und guckst?“ fragt ein schlaksiger Mann mit Kappe und Handy nach gerade mal fünf Minuten, „bist du Polizia?“
Die Polizei kennt den Ort sehr genau, hat versucht, die Szene mit Razzien, Observationen und Scheinkäufen auszutrocknen. Aber die Dealer kehren immer wieder zurück. Inzwischen tragen sie nur noch kleinste Mengen Marihuana bei sich, angeblich zum Eigenkonsum. Den Rest verstecken sie in Depots hinter Stromkästen, in Mauerspalten und auf Bäumen. Wachposten warnen die Dealer per Handzeichen oder SMS, wenn sich Streifenpolizisten oder mutmaßliche Zivilermittler nähern. „Solange wir die Szene nicht zerschlagen können, haben wir sie hier wenigstens im Auge“, sagt ein Drogenfahnder. Das sei immer noch besser, als wenn sie sich in andere Bereiche verlagere, die man weniger oder gar nicht mehr im Blick habe.
Ende Mai kommt Tommy in einem Wald in Dellbrück wieder zu sich, als Regentropfen sein Gesicht berühren. In seinem Arm steckt noch die Spritze, sein T-Shirt ist voller Blut, er muss sich übergeben. Der 29-Jährige hat sich eine Überdosis gesetzt und Glück, dass er überlebt. „Ich war mit den Nerven am Ende, sah aus wie Scheiße“, erinnert er sich.
Zwei Monate später sitzt er auf einer Bank in einem kleinen Park im Rechtsrheinischen. Es ist ein strahlender Sommertag. Tommy trägt kurze Hosen, T-Shirt und Badelatschen. Seine Mutter wohnt um die Ecke, er ist wieder bei ihr eingezogen. Während des Gesprächs zündet er sich eine Zigarette nach der anderen an und trinkt Unmengen Wasser − Durst ist eine Nebenwirkung der Ersatzdroge Methadon, auch das starke Schwitzen: „Ich muss immer ein T-Shirt zum Wechseln mitnehmen, das ist nicht mehr normal“, erzählt er und lacht.
30 Jahre, war süchtig nach Heroin. Hat als Dealer gearbeitet, um seine Sucht zu finanzieren. Ganz unten in der Dealerhierarchie, für den Straßenverkauf zuständig. Erster Heroinkonsum mit 14. Kurz vorher gab es eine regelrechte Heroinwelle in seinem rechtsrheinischen Vorort. Erste Spritze mit 23, gesetzt von einem anderen Junkie. Seitdem Wandel zwischen Abhängigkeit und Abstinenz. Nach kurzer Abstinenz wieder rückfällig.
Nach der Überdosis hat Tommy entgiftet und die Finger vom Heroin gelassen, auch nichts mehr verkauft. Er ist komplett raus aus der Szene. Sein Dealer war nicht begeistert, „klar, der verdient ja jetzt nichts mehr an mir.“ Jetzt läuft Tommy durch sein Viertel und wird wieder von den Nachbarn gegrüßt. Kaum einer weiß, dass er als Dealer unterwegs war. Am Kiosk ruft jemand: „Hey, alles Gute nachträglich.“ Er hatte vor ein paar Tagen Geburtstag, ist jetzt 30. Er strahlt vor Freude über die Glückwünsche.
Viele seiner Junkie-Freunde sind nicht so alt geworden: Er zählt auf: „Sven, Mike, Roland, so viele Leute einfach tot. Mein Freund Dennis ist mit 18 gestorben. Und jetzt? Keiner redet mehr über ihn. Was ist das denn bitte für ein Elend?“ Tommy will nicht vergessen werden, das ist seine größte Sorge im Moment. „Wer will das schon? Stell dir vor, zu deiner Beerdigung kommen nur ein paar Junkies und der Pastor? Und vielleicht noch die eigene Mutter. Das ist doch kacke.“
Er wirkt überzeugend, wenn er davon spricht, dass er es dieses Mal packen will. Und die Chancen stehen gut. Mit seiner Mutter ist es nicht immer einfach, aber sie nähern sich langsam an. Die Altenpflegerin ist immer für ihren Sohn da, fährt ihn zu Entgiftungen, lässt ihn bei sich wohnen. Der familiäre Rückhalt ist groß.
Tommy findet sogar schnell einen neuen Job, in dem der gelernte Elektriker seine Chefs mit Fleiß und Zuverlässigkeit überzeugen kann. So sehr, dass sie ihm mehr Verantwortung übertragen wollen. Schon nach wenigen Monaten soll er Projektleiter werden. Und das Wichtigste: Er verspürt keinen Suchtdruck. Allerdings sei das trügerisch, er habe diese Situation schon häufig erlebt. Das war jetzt das letzte Mal, wie oft sagt man diesen Satz? „Viel zu oft. So oft, dass ich darüber auch den Glauben an mich selber verloren habe.“
Ende Oktober kommt er doch, der nächste Rückfall. Der Leistungsdruck wird ihm zu groß, er schmeißt den Job hin, taucht wieder in die Szene ein. Er spritzt Heroin, finanziert die Sucht mit dealen. Der ewige Junkie-Kreislauf.
Seine Mutter hat ihn vor zehn Tagen zum letzten Mal gesehen. Sie sitzt am Esstisch ihrer Wohnung, eine kleine Frau mit offenem Gesicht und freundlichen Augen. Sie wirkt gefasst, als sie von ihm spricht. Sie sei sehr gläubig und wünsche ihrem Sohn, dass er endlich seinen Frieden findet: „Wenn er es nicht schafft, da raus zu kommen“, sagt sie, „ist er beim lieben Gott vielleicht besser aufgehoben.“
Dieser Artikel ist erstmals am 20. November 2013 auf ksta.de erschienen.