Köln/Bedburg – Auch fast drei Monate nach dem Unfalltod des Polizisten Veit Rathenow an der KVB-Haltestelle Chlodwigplatz sind die Umstände noch ungeklärt. Die Staatsanwaltschaft wartet unter anderem auf das Ergebnis eines „biodynamischen Gutachtens“ der Rechtsmedizin, das den Hergang rekonstruieren soll. Ein Anwalt, der verdächtigt wurde, das Opfer vor die Bahn gestoßen zu haben, war aus der U-Haft wieder freigelassen worden.
Eine Stunde vor seinem Tod bemerkt Veit Rathenow in einer Kneipe im Kwartier Latäng ein junges Paar. Spanische Touristen. Die beiden sitzen in einer Ecke und wirken ziemlich verloren, sie sind nicht verkleidet – und das am späten Abend des Karnevalsfreitags. Rathenow bestellt drei Kölsch und setzt sich dazu. Wo sie herkommen, will er wissen. Was sie in Köln machen. Er erzählt ihnen von der Stadt, über den Karneval – und er gibt ihnen den Tipp, in eine Kneipe um die Ecke zu wechseln, wenn sie richtig feiern möchten. Veit, der Gemeinschaftsstifter.
Unfallursache ist noch unklar
Volker und Brigitte Rathenow sprechen gern in kurzen Überschriften, wenn sie ihren Sohn beschreiben. Veit, der kölsche Jung. Veit, der Familienmensch. Die Eltern sitzen daheim am Tisch im Wohnzimmer. Hier, in diesem Haus, ist Veit aufgewachsen. Im Flur hängt ein Foto, das er gemacht hat. Ein dichter Birkenwald, durch den die Sonne scheint. Kräftige Farben. Das Bild strahlt eine warme, geheimnisvolle Atmosphäre aus. Veit, der Künstler.
Nach der Begegnung mit den spanischen Touristen zieht der 32-jährige Polizist mit Freunden weiter. Am Chlodwigplatz wollen sie weitere Bekannte treffen. Veit Rathenow steigt aus der Bahn. Aus Gründen, die bis heute ungeklärt sind, stürzt er zwischen zwei Waggons. Vielleicht wurde er gestoßen, vielleicht ist er gestolpert, vielleicht beides. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sind noch nicht abgeschlossen. Rathenow wird vom anfahrenden Zug überrollt und stirbt. Der rote, gehäkelte Kölschglashalter, den er um den Hals trug, hängt heute an einem Kirschbaumzweig an seinem Grab in Bedburg, seinem Geburtsort. Veit, der Unvergessene.
Offenherzig und lebensfroh
Von Beginn an sind die Eltern mächtig stolz auf den jüngsten ihrer drei Söhne. Er ist ein aufgewecktes Kind, offenherzig, lebensfroh. Eines, das ohne Scheu auf Andere zugeht. Manchmal aber verzweifelt die Mutter fast vor Sorge. „Sein ganzes Leben hatte ich Angst um ihn.“ Veit strotzt nur so vor Energie. Als Kind entwischt er mal zu den Nachbarn, mal in die Eisdiele an der Ecke, wo er ein Hörnchen geschenkt bekommt, mal zum Schneider auf der Hauptstraße, der ihm Stoffballen gibt, aus denen der Junge sich Kostüme bastelt. „Wir haben ihm irgendwann eine Bimmel an die Hose gemacht, damit wir immer wussten, wo er war“, erinnert sich der Vater. Veit, der Pulsbeschleuniger.
Die unbändige Neugierde, die Dynamik, mit der Veit Rathenow durch sein Leben steuert, wird zu einer Art Markenzeichen von ihm. Er lässt nichts aus. Wird Skater, dann Hiphopper. Später Fußballer, Tischtennisspieler, Kickboxer, Bergsteiger, Segler. Weiß nach der Schule zunächst nicht, was er machen soll, absolviert dann eine Ausbildung zum medizinischen Fußpfleger, weil seine Mutter Podologin mit eigener Praxis ist. „Was er gemacht hat, hat er immer mit ganzem Herzen gemacht“, sagt seine gute Freundin Pia.
Bescheiden im Mittelpunkt
Woher ihr Sohn die Power nahm, haben die Eltern nie herausgefunden. „Die war immer schon da“, sagt die Mutter. Wenn Veit, der zuletzt in der Roonstraße in Köln wohnte, seine Eltern in Bedburg besuchte, stieß er die Haustür so kräftig auf, dass der ganze Altbau wackelte. „Alle wussten sofort, dass er da war“, erinnert sich der Vater und lacht. Präsent sei sein Sohn gewesen, aber ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Ein Freund der Familie habe den treffenden Satz geprägt: „Veit war bescheiden, aber er wollte im Mittelpunkt stehen. Und genau da gehörte er auch hin.“
Vielleicht war die Mitte auch deshalb der ideale Platz für einen wie ihn, weil man von dort die Ränder besser im Blick hat. Die Einsamen. Die Hilfsbedürftigen. Menschen, die Veit sofort integrieren wollte. „Er war zugewandt, empathisch. Für mich der typische Kölner“, sagt sein Freund Raffael, der aus dem Münsterland stammt.
Spätestens mit Beginn seiner Polizeiausbildung an der Fachhochschule in Köln 2011 bildet der Bedburger eine weitere Facette aus: Veit, der Beschützer. Er schimpft mit seinen Eltern, wenn sie hinten im Garten sind und vorne die Fenster offen stehen. Gibt keine Ruhe, bis sie die Fenster mit Pilzkopfverriegelungen sichern lassen. Seinen Bekannten bringt er Selbstverteidigung bei. „Hatte er auf einem Lehrgang neue Eingriffstechniken gelernt, musste man sich erstmal eine halbe Stunde von ihm vermöbeln lassen“, erinnert sich Raffael und lacht beim Gedanken daran.
Besonnen, oft nachdenklich
Scheu vor gefährlichen Einsätzen habe er nicht gehabt, bestätigt Andreas Quarz, Veits ehemaliger Dienstgruppenleiter auf der Polizeiwache in Köln-Weiden. Ein Draufgänger sei er aber auch nicht gewesen. Eher besonnen, oft nachdenklich. Von 2014 bis 2016 ging Rathenow im Kölner Westen auf Streife. Anschließend wechselte er als Ermittler ins Landeskriminalamt, wo er bis zuletzt arbeitete.
In einem Wachraum in Weiden grinst Veit Rathenow von einem eingerahmten Foto an der Wand, den Daumen nach oben gereckt, eine Polizeimütze auf dem Kopf. Seine ehemaligen Kollegen haben das Bild nach seinem Tod aufgehängt, in den ersten Tagen standen brennende Kerzen davor. Als kürzlich auf der Aachener Straße ein junger Mann von einem Bahnsteig zwischen zwei Straßenbahnwaggons stürzte und mit viel Glück überlebte, brachen die Polizisten, die den Unfall aufnehmen mussten, danach ihren Dienst ab. Sie kannten Veit, die Bilder gingen ihnen ungewöhnlich nahe.
Mit ihm habe fast jeder Einsatz Spaß gemacht, erinnert sich Sascha Göbel, Polizeikommissar auf der Wache Weiden. „Sogar Verkehr regeln im Regen.“ Veits spontane, unkonventionelle Art blieb auch den Kollegen nicht verborgen. „Es hätte mich nicht gewundert“, sagt Andreas Quarz, „wenn er irgendwann gekündigt und gesagt hätte: So, ich werde jetzt Autohändler in Costa Rica.“
Immer wieder Auszeiten genommen
Veit nimmt sich immer wieder Auszeiten. Ohne Pausen wäre das Vollgas-Leben nicht durchzuhalten. „Es gab Phasen, da meldete er sich seltener“, erinnert sich Pia. Dann zog er sich zurück und zeichnete. Vertiefte sich in Literatur über indianischen Schamanismus oder griechische Mythologie. Spielte Diabolo. Oder schnappte sich sein Fahrrad und fuhr nach Holland. „Er konnte gut alleine sein“, sagt Martin, der beste Freund.
Mit Frauen dagegen war das so eine Sache. Es gab zwar intensive Beziehungen, auch welche, die lange hielten. Aber nie die eine fürs Leben. „Die hohen Ansprüche, die er an sich selbst stellte, stellte er auch an eine Partnerin“, glaubt Martin. Für jemanden, der in allem, was er anpackt, nach Perfektion strebt, kann das zum Problem werden. „In Beziehungen fiel es ihm schwer, sich seiner Partnerin komplett zu öffnen“, sagt Pia. „Er hatte Angst, dass die Beziehung nicht funktioniert. Dass er verletzt werden könnte.“
Stark und unverwundbar
Auf Außenstehende wirkte Veit Rathenow vor allem stark und unverwundbar. Seine Muskeln, der selbstbewusste Gang, die Tattoos. Veit, die megacoole Sau, sagt sein Freund Martin und lächelt. In seiner Einheit beim LKA hielt Veit den Rekord im Liegestütz – 600 am Stück, mit kleinen Pausen dazwischen. Auf seinem Körper hatte er die Initialen der Namen seiner Eltern, seiner Brüder, Neffen und Nichten tätowiert. Beim letzten gemeinsamen Wander- und Kletterurlaub auf Mallorca konnte Martin kaum mit seinem Freund Schritt halten: „Wäre es nach mir gegangen, hätten wir auch nicht immer unbedingt den Weg direkt am Abhang entlang nehmen müssen.“ Aber es ging nicht nach ihm.
Es ist ein eiskalter Tag Ende Februar, knapp zwei Wochen nach Veits Tod, als seine Eltern, die beiden Brüder mit ihren Familien und die Freunde Pia und Martin in einem Krematorium nahe der holländischen Grenze vor dem geschlossenen Sarg stehen. „Jeder sagte Veit, was er ihm noch sagen wollte“, erzählt die Mutter. Irgendwann meinte der Vater: „Wir müssen ihn jetzt loslassen.“ Volker Rathenow drückt einen Knopf. Eine Edelstahltür sollte sich öffnen und der Sarg auf einer Schiene in die Brennkammer fahren. So hatte es der Bestatter erklärt. Aber es geschieht nichts. Volker Rathenow drückt noch einmal, der Sarg wird angehoben, bewegt sich aber nicht nach vorne. Plötzlich müssen alle lachen. Der Vater ruft: „Mensch, Veit! Was machst du hier mit uns?“
Wie auf einer Wikingerbeisetzung
Ein Mitarbeiter setzt den Mechanismus schließlich in Gang. Die Tür öffnet sich und der Sarg zieht in die Glut „wie ein Schiff in die grelle Sonne“. So hat es die Mutter in Erinnerung. Wie auf einer Wikingerbeisetzung, sagt der Vater. „Das Schiff mit dem toten Wikingerfürst wird angezündet und aufs Meer hinaus geschickt. Es war gigantisch.“
Am 24. Februar versammeln sich fast tausend Gäste in Bedburg zur Trauerfeier. Die kleine Stadt hat eigens für diesen Tag ein Parkleitsystem entworfen, Polizisten regeln den Verkehr. Die evangelische Friedenskirche im Stadtzentrum ist zu eng, um alle Gäste aufzunehmen. Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, Polizisten, Skaterkumpels von früher, Bekannte aus Jugendzeiten, Kioskverkäufer aus der Kölner Südstadt, die Veit vom Zigarettenholen kannten – sie alle drängen sich dicht an dicht. Veit, der Menschenverbinder.
Volker Rathenow hält sich bis heute an einem Satz seines ältesten Sohnes fest. Der Satz stimme ihn versöhnlich, trotz des unsagbaren Verlusts. „Manche“, sagte der Sohn nach Veits Tod , „werden 100 Jahre, manche 32. Wichtig ist, wie man seine Zeit genutzt hat.“
Veit, findet sein Vater, habe drei Leben gelebt. Mindestens.