Der Spaziergang mit Gerhart Baum beginnt sportlich, er will sein Veedel zunächst von oben zeigen. „Kommen Sie in den zweiten Stock“ klingt es aus der Gegensprechanlage. „Am besten zu Fuß, das mache ich auch immer.“ Der Aufzug sei nur was für ältere Leute, sagt der über 80-jährige. Oben steht der ehemalige Bundesminister lächelnd in der Haustür: „Jetzt haben Sie es fast geschafft“, sagt Baum und steigt leichtfüßig die nächste Treppe hinauf. Es geht über Terrassen und steile Holzstufen immer weiter nach oben.
Der Rheinauhafen ist weit weg
„Das ist mein Veedel, hier wohne ich seit 15 Jahren, erfreue mich immer wieder an diesem Blick“, sagt er. Er hat nicht übertrieben: Aus dem Dächermeer der Südstadt ragt die Kirche St. Severin heraus, daneben steht der Dom in seiner ganzen gotischen Pracht, weiter rechts sind die Kranhäuser zu sehen. „Der Rheinauhafen ist für mich weit weg, er ist nicht in das Viertel integriert, die Rheinuferstraße und die Art der Bauweise bilden die Grenze, hier gibt es einen Schnitt. Vielleicht würde da eine Fußgängerbrücke helfen, um ein wenig Verbindung zu schaffen“, sagt Baum und steigt wieder nach unten.
Baums Wurzeln liegen in Dresden, doch seit mehr als 60 Jahren lebt er in Köln. „Ich habe eine enge Bindung zu den Bürgern und ihrer Mentalität. Anfangs wohnte ich in Weidenpesch und besuchte das neusprachliche Gymnasium in Nippes, natürlich ein urkölsches Veedel. Als Bundesminister wohnte ich zunächst im Agnesviertel, sehr schön, aber viel zu kompliziert für die Personenschützer. Deshalb bin ich dann in den Hahnwald gezogen, ein Stadtteil ohne Flair, aber für die Sicherheitsleute optimal, da konnte ich auch mal spazieren gehen, ohne dass die ganze Straße gesperrt werden musste.“ Er denkt kurz nach: „Aber hier die Südstadt, das Vringsveedel – das ist Köln pur.“
Frischer Wind vom Rhein
Jetzt übernimmt er die Veedelsführung und geht den Weg, den er fast täglich geht. Über den Ubierring durch den kleinen Grünstreifen geht es in Richtung Bottmühle. „Das ist meine grüne Lunge, vom Rhein kommt immer frischer Wind.“ Dann bleibt er vor dem leer stehenden Prachtbau aus der Gründerzeit stehen, in dem sich bis 2010 das Rautenstrauch-Joest-Museum befand. „Eine Schande! Einige Kräfte in der Stadt erwägen einen Verkauf dieser Immobilie an einen privaten Investor, das wäre das Ende dieses traditionsreichen Ortes. Deshalb unterstütze ich die Initiative Luxet, ein Zusammenschluss von Architekten und Filmleuten, die hier eine Art Kulturzentrum mit Kino, Filmbildung, Buchhandlung und Gastronomie errichten möchten“, sagt Baum, der kulturpolitisch sehr aktiv ist. Unter anderem ist er Vorsitzender des Fördervereins Fuhrwerkswaage in Sürth und Vorsitzender des Kulturrates NRW.
„Kultur ist für mich Lebenserfüllung, ich brauche sie für mein eigenes Leben. Kunst, die anstößt aber auch abstößt, die mich begeistert, mir die Augen öffnet.
Jetzt begrüßt Baum Martin Stankowski, der im Wippn’bk die Sonne genießt. Das Lokal ist am Samstagvormittag für viele Südstädter ein beliebter Treffpunkt, auch Frank Schätzing und Dieter Wellershoff sind hier oft anzutreffen. „Seit fast sieben Jahren sind wir Nachbarn“, sagt Stankowski, „beide haben wir in Sichtweite eine Dachterrasse. Der Gerhart hat zwar einen Aufzug, den er aber nicht benutzen darf, da ist seine Frau ganz streng“, scherzt Stankowski, der als Geschichtenerzähler und der etwas andere Stadtführer über die Grenzen Kölns bekannt ist.
Der vornehme Teil der Südstadt
Kaum ist der Cappuccino getrunken, gehen wir weiter: „Ubierring, Alteburger, Mainzer Straße, das ist der vornehme Teil der Südstadt, hier gibt es teure Wohnungen.“ Baum bleibt an der Kreuzung Severinswall, Annostraße, Silvanstraße stehen. „Schauen Sie, hier kann man schon eine andere, niedrigere Bebauung erkennen. Die Wohnungen sind preiswerter, hier war mal das Arbeiterviertel. Diese Mischung macht das Flair.“
Links geht es auf die Severinstorburg zu. Ne Kölsche Jung sei er nicht, Kölsche Mundart und Karneval seien nicht seine Dinge, aber für ein Kölsch und einen Halven Hahn im Früh im Veedel sei er immer zu haben, berichtet Baum. „In der Severinstraße schlägt das Herz des Veedels, hier mischen sich die Schichten. In dem Eckhaus direkt am Tor, da hatten mal die Eltern von Wolfgang Niedecken einen Kolonialwarenladen. Es ist wichtig, die kleinen Geschäfte zu unterstützen, denn die Vielfalt macht das gewisse Etwas in einem Veedel aus. Meine Frau und ich kaufen hier regelmäßig ein, ob Wein, Fleisch, Fisch oder Gemüse, der persönliche Kontakt an der Verkaufstheke hat viel Lokalkolorit.“
Wir haben inzwischen den Severinskirchplatz erreicht, Gerhart Baum kauft auf dem Ökomarkt ein Anisbrot und winkt einem Mann auf einem roten Fahrrad zu. „Das ist Pfarrer Mörtter von der Lutherkirche, der ist einfach genial, unübersehbar und unüberhörbar in Köln. Vorbildlich engagiert er sich im Vringstreff, dem Obdachlosenzentrum hier im Schatten von St. Severin, das auch mir besonders am Herzen liegt.“
Engagiert für Obdachlose
Vor dem Vringstreff treffen wir tatsächlich Pfarrer Mörtter und die Leiterin Jutta Eggeling. Baum ist hier kein Unbekannter. „Er und seine Frau sind große Förderer unserer Einrichtung, nach Geburtstagsfeiern oder anderen Festivitäten ist unser Konto immer gut gefüllt“, sagt die Leiterin. „Ich unterstütze den Vringstreff, weil es mir sehr wichtig ist, dass die Obdachlosen wenigstens einmal am Tag ein warmes Essen bekommen – und zwar serviert. Das ist das Besondere: nicht wie in einer Kantine, sondern sitzend und serviert. Sie werden hier in ihrer Menschenwürde ernst genommen, nicht irgendwo abgefertigt.“
Nach zwei Stunden sind wir wieder auf dem Ubierring. Letzte Station ist „Der andere Buchladen“. „Herr Baum kommt täglich, er schaut immer nach den neusten Büchern“, sagt Friderike Dobisch, die Geschäftsführerin. „Bei gutem Wetter hat er meistens ein Eis in der Hand.“ „Ich gucke aber nicht nur, ich kaufe und lese auch die Bücher, Krimis, Biografien und Zeitgeschichte“, betont Baum. „Und das Eis kaufe ich stets im Eiscafé Forum.“
Auf dem Rückweg begleitet mich der ehemalige Bundesinnenminister zur Haltestelle der Linie 16. „Im Veedel mache ich alles zu Fuß, sonst aber fahre ich mit meiner Frau mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Taxi, das ist preiswerter, als stundenlang einen Parkplatz zu suchen.“ Die Menschen am Bahnsteig schauen uns an, viele scheinen ihn noch zu kennen, den liberalen Bundesinnenminister unter Helmut Schmidt. Ich nutze die Wartezeit und frage nach seiner FDP, nach einem kurzen Zögern kommt die Antwort: „Ich fühle mich mit der FDP verbunden, insbesondere mit Lindner in NRW. Ich hoffe, dass meine FDP, der ich seit 60 Jahren angehöre, sich wieder noch deutlicher bundesweit zu einer liberalen Partei profiliert.“