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NachrufWie aus Ralf Broch der Kölner Theater-Star Sophie Russel wurde – und warum sie ein Rätsel blieb

Lesezeit 7 Minuten
Sophie Russel war der Star in Scala-Theater, im Dezember 2024 ist sie gestorben.

Sophie Russel war der Star in Scala-Theater, im Dezember 2024 ist sie gestorben.

Als Sophie Russel wurde der Solinger Ralf Broch im Kölner Scala-Theater berühmt. Im Dezember letzten Jahres ist Broch völlig überraschend gestorben.

Ralf Broch war erst 18, als er zu Sophie Russel wurde. Oder, wie es auf Kölsch heißt: zu „et Soffie“. Aufgewachsen in Solingen, hatte er schon früh bemerkt, dass er anders ist, dass er Glitzer und Frauenkleider mochte. Einzelhandelskaufmann hat er gelernt, arbeitete auch an der Fleischtheke. „Ich war das Fraulück für die Schinkenwurst“, hat Sophie Russel Jahrzehnte später lachend ihrer besten Freundin Lucy Wienen erzählt.

Lange hielt Ralf Broch es hinter der Verkaufstheke nicht aus. Er ging in die Großstadt, nach Köln, wo es schon eine Homosexuellen-Szene gab und er vielleicht nicht mehr so alleine sein würde. 1987 engagierte ihn der Chef des „Timp“ am Heumarkt für seine Travestie-Show. Den Künstlernamen Sophie Russel bekam er, weil er angeblich aussah wie Craig Russell, damals ein sehr bekannter kanadischer „Frauenimitator“ und Schauspieler. Seitdem war Ralf Broch eine „Sie“.

Travestie-Star Sophie Russel mit Freundin Lucy Wienen

Travestie-Star Sophie Russel mit Freundin Lucy Wienen

Das „Timp“ und auch der „Star-Treff“, in dem sie zeitweise arbeitete, hatten etwas Verruchtes, Frivoles, ein Hauch Verbotenes. Und auch etwas Sensationslüsternes. Homosexualität spielte sich noch am Rande der Gesellschaft ab. Andererseits oder gerade deswegen waren hier oft Prominente wie Udo Kier, Alfred Biolek und Ingrid Steeger zu Gast. Sophie Russel machte mit ihrer Größe von 1,81 Meter plus Highheels Eindruck. Sie gastierte auch in der Travestie-Show „Chez Nous“ in Berlin.

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Doch sie wollte woanders hin: ins Scala-Theater von Schwulen-Ikone Walter Bockmayer. Auf eine richtige Bühne mit richtigen Stücken. Ralf Borgartz und Arne Hoffmann, die das Scala-Theater nach Bockmayers Tod 2014 übernahmen, haben in den Unterlagen einen Bewerbungsbrief von Sophie Russel an Bockmayer aus dem Jahr 2005 gefunden. Sehr höflich und gewandt geschrieben, beigelegt zwei Freikarten für den „Star-Treff“ mit der Einladung, doch mal vorbeizukommen. „Die Karten sind undatiert, denn ich weiß ja, dass Sie sehr beschäftigt sind, so können Sie sich den Tag aussuchen“, schrieb sie. Doch Bockmayer ließ sie mehrere Jahre lang warten. Erst 2011 engagierte er sie: als Zweitbesetzung von Gigi Herr, der Nichte von Trude Herr.

Sophie Russel war sehr zurückhaltend und verschlossen

„Hier ging es nicht um Travestie, hier war sie Schauspielerin“, so Ralf Borgartz. Sehr loyal und freundlich sei sie gewesen, sagt Arne Hoffmann. Und das Publikum war hingerissen von dem fülligen, lustigen, lauten Star mit dem frivolen Kölsch. „Aber sie war auch sehr zurückhaltend und verschlossen.“ Sie saßen oft als erste in der Garderobe beim Schminken, haben viel gewitzelt, Soffie hörte immer Musik, erzählt Arne Hoffmann. „Sie kannte wirklich jeden Schlager.“ Privates erzählte sie nie. Nur, dass sie sehr gerne ihre geliebte Schwester in Solingen besuchte. „Ich fahre nach Solonsch“, sagte sie dann und sprach die Stadt französisch aus.

Sophie Russel (l.) 2011 bei ihrem ersten Engagement im Scala-Theater: „Trude zum Dessert“ mit Gigi Herr (M.) und Hilde Schmitz. Sie war Zweitbesetzung.

Sophie Russel (l.) 2011 bei ihrem ersten Engagement im Scala-Theater: „Trude zum Dessert“ mit Gigi Herr (M.) und Hilde Schmitz. Sie war Zweitbesetzung.

Freundin Lucy Wienen war bei jeder Premiere dabei und fuhr et Soffie zehn Jahre lang zu Auftritten bei Firmenfeiern, Straßenfesten und Geburtstagen, reichte die Kostüme, legte die CDs ein. „Ich habe sie immer meine Zauberfee genannt, weil sie sich so toll von einem Jungen in eine Frau verwandeln konnte. Sie war eine Diva, mehr Dame als manch andere echte Frau.“ Berührend sei dann aber auch gewesen, wenn sie sich abschminkte. „Da war auf einmal die ganze Soffie im Papier.“

Die Rolle sei sicherlich auch so etwas wie ein Schutzschild gewesen. Und eine Barriere: Soffie habe es gehasst, wenn ihr jemand einfach in die Perücke griff. „Anfassen konnte sie gar nicht leiden.“ Auch ließ sie eigentlich niemanden in ihre Wohnung am Eigelstein.

Sie fühlte sich aufgehoben im Theater, aber sie sagte auch: „Die wissen alle nichts von mir.“ Es habe auch sehr lange gedauert, bis sie und Soffie tatsächlich Freundinnen wurden. Dann aber telefonierten sie bis zu viermal am Tag, machten Ausflüge zu Musicals in ganz Deutschland. Und der erste Blick von Soffie bei der Premiere ging immer zur Freundin. Ob es ihr gefallen hat. „Oder ob ich etwas zu karamellisieren hätte.“ Einmal habe Soffie einen Partner gehabt, das habe aber nicht sehr lange gehalten. „In diesem Beruf, mit der Öffentlichkeit und den Arbeitszeiten, ist es sehr schwierig für einen Partner“, sagt Lucy Wienen.

Ich bin ene Käl in Fraulücks-Kleider
Sophie Russel

Und immer wieder die Frage nach dem eigentlichen Geschlecht von Soffie. „Sie fühlte sich als beides. Sie wäre aber gerne eine Frau gewesen“, meint Lucy Wienen. Ralf Borgartz erzählt, dass man beim Arbeitsvertrag erst unsicher war, ob man Soffie als „Schauspielerin“ oder als „Schauspieler“ einstellen sollten. Sie wählte „Schauspielerin“. „Ich bin ene Käl in Fraulücks-Kleider“, beschrieb sie sich. Aber war da nicht doch ein Busen? Lucy Wienen sagt, das ließe sich alles mit ein bisschen Babyspeck und gepolsterten BHs machen. Ralf Borgartz vermutet, dass die Leute vielleicht auch wegen dieses Geheimnisses ins Theater gekommen sind. Ungeschminkt sah man sie nur selten, manchmal im Lokal Kattwinkel, ihrem „Wohnzimmer“ an der Eigelsteintorburg.

Als sich Gigi Herr 2015 zurückzog, wurde Sophie Russel von der Zweitbesetzung zum Star im Scala. Zu Lucy Wienen sagte sie stolz: „Jetzt bin ich Volksschauspielerin.“ Das Scala-Theater hatte, so meinten viele, im Grunde das bürgerliche Publikum des Millowitsch-Theaters geerbt.

Doch dann begannen düstere Zeiten. 2019 erlitt Sophie Russel einen leichten Schlaganfall. Als das Theater während des Corona-Shutdowns 2020 geschlossen war, arbeitete sie stundenweise bei Rewe am Eigelstein an der Kasse. „So habe ich wenigstens Publikum und kann den Leuten in die Augen schauen. Ich lebe doch dafür, die Leute zu begeistern.“ An der Kasse saß sie natürlich auch als Frau, aber „mit eher ruhigem Make-up“, wie sie es ausdrückte.

2020 arbeitete Sophie Russel während des Pandemie-Shutdowns bei Rewe am Eigelstein.

2020 arbeitete Sophie Russel während des Pandemie-Shutdowns bei Rewe am Eigelstein an der Kasse, um unter Menschen zu sein.

Im März 2023 starb ihre Schwester an Krebs. „Danach war Soffie nicht mehr dieselbe“, so Lucy Wienen. „Soffie sagte: Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht weine.“ Die Scala-Chefs erzählen: „Sie wurde noch verschlossener.“ Sie veränderte sich auch äußerlich. Von ursprünglich 140 Kilogramm verlor sie 60. „Sie hatte nun eine Taille und schaute sich gerne im Spiegel an“, erinnert sich Arne Hoffmann.

Lucy Wienen fuhr immer seltener mit ihr herum, denn es gab immer weniger Auftritte. „Inzwischen ist Travestie eher eine aussterbende Kunst. Die Zeiten, in denen Unternehmer es cool fanden, Travestiekünstler für ihre Feste zu engagieren, sind längst vorbei“, hatte Sophie Russel selbst gesagt. „2024 war wirklich sehr wenig los“, so Lucy Wienen.

Sophie Russel sang zuletzt ein Lied von Roy Black

Am 18. Dezember letzten Jahres stand Sophie Russel bei der Weihnachtsgala des Scala auf der Bühne. Jeder Künstler durfte sich ein Lied aussuchen. Sie hatte Roy Blacks „Weihnachten bin ich zu Haus“ gewählt. „Als ich den Text hörte, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl“, sagt Arne Hoffmann. „Weihnachten bin ich zu Haus, wenn auch nur im Traum Weihnachten steh ich bei Mutter zu Haus unter dem Tannenbaum. Ungeheuer sentimental, mir kamen die Tränen.“

In der Pause sagte Sophie Russel, dass sie sich unwohl fühle, es sei wohl eine Grippe im Anmarsch. Sie würde nach Hause gehen und sich hinlegen. „Wir wollten noch einen Krankenwagen oder ein Taxi bestellen oder sie wenigstens begleiten, aber sie hat abgewunken. Es sei nicht so schlimm.“ Wie abgesprochen sagte sie aber Bescheid, als sie zu Hause angekommen war, am nächsten Tag meldete sie sich krank. Die Theaterkollegen und die Freundin versuchten sie zu erreichen, wollten sie aber auch nicht bedrängen. Als sie sich am 21. Dezember immer noch nicht zurückgemeldet hatte, wurde die Wohnungstür mit einem Zweitschlüssel geöffnet. Sophie Russel war tot. Wie eine Obduktion ergab, war sie am Tag des Auffindens an einem Herzstillstand gestorben. Sie wurde 56 Jahre alt.

Im Theater teilen sich jetzt Kollegen ihre Rolle, ein Ersatz für die vielleicht letzte Travestie-Diva Kölns gibt es nicht. Ende Januar ist sie wie von ihr gewünscht auf dem Melatenfriedhof beerdigt worden. „Ich will in die Sonne“, hatte sie Lucy Wienen schon vor einiger Zeit einmal gesagt, als sie dort einmal auf einer Bank saßen. „Ich habe ihr dann einen sonnigen Platz ausgesucht. Hoffentlich ist sie zufrieden.“ Bei der Trauerfeier war die Urne mit ihrem Glitzer-Schmuck behängt. Links davon war ein Bild von Ralf Broch aufgestellt, rechts eines von Sophie Russel. Das Foto von Ralf Broch wollten die Freunde nicht zur Veröffentlichung weitergeben. „Das ist Privatsphäre.“ Auf dem Grabstein soll ganz groß „Sophie Russel“ stehen und kleiner darunter der Geburtsname.