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Auftakt der lit.CologneBlicke in menschliche Abgründe

Lesezeit 4 Minuten
Caroline Darian im Gespräch mit Olga Mannheimer bei der lit.Cologne

Caroline Darian im Gespräch mit Olga Mannheimer bei der lit.Cologne

Der Mafia-Experte Roberto Saviano und Caroline Darian, Tochter von Gisèle Pelicot, eröffnen das Kölner Literaturfestival.

Roberto Saviano braucht nur einen Satz, um sein Publikum in Köln endgültig auf seine Seite zu bringen: „Ich weiß ja, insgeheim sind Sie alle Italiener.“ Und dann bedankt er sich in der ausverkauften Flora am Montag noch für den blauen Himmel, den man ja offensichtlich für ihn bestellt habe.

2006 wurde der Journalist und Autor mit „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ berühmt. Er beschreibt darin die mafiösen Strukturen in seiner Heimatstadt Neapel. Der Erfolg hatte weitreichenden Einfluss auf den weiteren Lebensweg des heute 45-Jährigen. Er lebt unter Personenschutz an einem unbekannten Ort.

Es ist ein Leben mit vielen Einschränkungen und sicher auch Entbehrungen. Beim Auftakt der lit.Cologne in der Kölner Flora macht Saviano aber nicht den Eindruck, die Lebenslust verloren zu haben. Im Gespräch mit Moderatorin Karen Krüger und Übersetzerin Paola Barbon verbreitet er äußerst charmant gute Laune, fotografiert und filmt zwischendurch sich und das Publikum. Dabei hat er erneut ein ernstes Thema im Gepäck. Savianos neues Buch beschäftigt sich mit der Rolle der Frauen in der Mafia. „Treue“ heißt der Band, der gerade bei Hanser erschienen ist.

Die Rolle der Frauen in der Mafia sei komplex, sagt Saviano. In erster Linie sind sie Ehefrauen, die die Familie zusammenhalten und für den - am besten männlichen - Nachwuchs sorgen. Aber wenn ihre Partner, Söhne oder Brüder für viele Jahre ins Gefängnis müssen, übernehmen sie häufig die Macht: „Dann führen sie autonom.“ Ihre Rolle sei dabei nicht zu unterschätzen, sagt Saviano: „Wenn die Männer im Gefängnis landen, sind die Frauen Dreh- und Angelpunkt der Machtkontinuität.“

Roberto Saviano bei der lit.Cologne

Roberto Saviano bei der lit.Cologne

Als Akt der Emanzipation darf man das aber nicht verstehen. So sei es zum Beispiel an den Männern zu bestimmen, welcher Mann ihn als Partner für die Ehefrau ersetzen darf. Aus Liebe werde in der Mafia ohnehin nicht geheiratet, es gehe immer um das Wohl der Organisation.

Roberto Saviano ist ein faszinierender Geschichtenerzähler, das wird an diesem Abend deutlich, das wird auch deutlich in den Lesestellen, die Schauspielerin Barbara Auer vorträgt. Allerdings bleibt sein Vortrag sehr im Anekdotischen, eine tiefergehende Analyse der Rolle der Frauen ist er hingegen nicht. Da ist vielleicht auch der Reiz des Bösen zu groß, denn die Grausamkeiten des organisierten Verbrechens erzählt Saviano schon sehr ausführlich.

Kampf gegen chemische Unterwerfung

Einem völlig anderen, aber auf seine Art nicht minder grausamen Blick in den Abgrund musste sich Caroline Darian stellen. Für die Tochter von Gisèle Pelicot ist seit dem 2. November 2020 nichts mehr wie zuvor. Damals erfuhr sie, dass ihr Vater Dominique die Mutter fast zehn Jahre lang betäubte, um sie im bewusstlosen Zustand zu vergewaltigen und knapp 70 fremden Männern zur Vergewaltigung zu überlassen.

Ein Verbrechen von solch monströsen Ausmaßen, dass es weltweit für Schlagzeilen sorgte. Doch der vermeintliche Einzelfall legt ein gesellschaftliches Problem nahe, das bis zu dem Prozess zu wenig Beachtung erfuhr. Denn Dominique Pelicots Vorgehen wird in vielen Internetforen diskutiert, Täter tauschen sich aus, mit welchen Mitteln, oft einfach aus der Hausapotheke, sie ihre Partnerinnen oder fremde Frauen betäuben können. 

Chemische Unterwerfung heißt diese Form des sexuellen Missbrauchs, der Begriff ist aus dem Französischen übersetzt, und Caroline Darian hat mit ihrem Buch „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“ (Kiepenheuer & Witsch) und ihrem Verein #MendorsPas (Betäube mich nicht) dazu beigetragen, für diese Verbrechen zu sensibilisieren.

Im Gespräch mit Olga Mannheimer - Auszüge aus dem Buch liest Schauspielerin Sandrine Mittelstädt - spricht Darian im WDR Funkhaus über die Folgen des Missbrauchs für ihre Familie. Es sei kaum vorstellbar, so etwas jemals zu überwinden, aber sie sei zu einer Kämpferin geworden, ihr Weg aus dem Inferno sei es, Sinn dort zu schaffen, wo kein Sinn zu finden sei: „Ich wollte dieses fürchterliche Erbe meines Vaters in etwas Nützliches verwandeln.“

Erstaunlich offen schreibt und spricht Darian darüber, wie die Aufdeckung der Verbrechen ihres Vaters und der Prozess das Gleichgewicht der Familie für immer zerstörte, zumal sie mit ihrer Mutter nicht darüber sprechen kann, dass sie sicher ist, auch von Dominique Pelicot missbraucht worden zu sein. Ihre Mutter könne sie da nicht unterstützen, aber „ich habe nicht das Recht, ihr das übelzunehmen“.

Anfang des Monats hat Caroline Darian Strafanzeige gegen ihren Vater wegen Vergewaltigung gestellt. Auch ein zweites Buch über den Prozess hat sie geschrieben, das in Frankreich gerade erschienen ist. Der Kampf geht weiter.