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Interview

Joschka Fischer
„Russland nimmt uns nicht ernst“

Lesezeit 5 Minuten
Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer spricht bei der lit.COLOGNE über sein neues Buch „Die Kriege der Gegenwart“ im WDR Funkhaus.

Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer spricht bei der lit.COLOGNE über sein neues Buch „Die Kriege der Gegenwart“ im WDR Funkhaus. 

Er war erster grüner Außenminister, heute sieht Joschka Fischer die rot-grüne Russlandpolitik als Fehler und gibt Europa nur als militärische Großmacht eine Zukunft. 

Herr Fischer, als Außenminister haben Sie Putin 2001 bei dessen erstem Deutschlandbesuch als russischer Präsident begrüßt. Es gibt ein Foto vom Handshake: Sie lächeln aufgesetzt, er verschlagen.

Ich erinnere mich.

US-Präsident George Bush sagte einst, er habe in Putins Augen dessen Seele gesehen und vertraue ihm. Später will Joe Biden zu Putin gesagt haben, da sei keine Seele. Und Robert Gates – erst Bushs und dann Barack Obamas Verteidigungsminister – sah dort einen „eiskalten Killer“. Was sahen Sie in Putins Augen?

Ich habe nie den Kontakt zu anderen Staatsführern am ersten Blick ausgerichtet. Mich hat zwar interessiert, wie der Gegenüber tickt. Aber wichtiger war mir der intellektuelle Hintergrund: Was treibt ihn an? Das Denken war für mich entscheidend, nicht das Bauchgefühl.

Als Sie Putin 2001 trafen, hielt er seine berühmte Rede im Bundestag: Auf Deutsch bot er Russlands Mitarbeit an einem „einheitlichen und sicheren Europa“ an. Am Ende bekam er – auch von Ihnen – Ovationen für diese „ausgestreckte Hand“. Eine Täuschung? Oder eine vertane Chance?

Mit der ausgestreckten Hand, die Putin anbot, verfolgte er vor allem das Ziel, Deutschland aus dem westlichen Konzert herauszubrechen. Insofern war schon damals Misstrauen angesagt. Denn die Westbindung war für Deutschland von entscheidender Bedeutung. Deshalb habe ich das nicht als positive Botschaft gelesen, sondern als konfrontative. Schon damals. Im Nachhinein muss man sagen, mehr Skepsis wäre besser gewesen.

Stattdessen setzte Deutschland noch lange auf diese Hoffnung. In Ihrem Buch weisen Sie darauf hin, dass für die russische Elite der Zerfall der Sowjetunion eine Katastrophe war. Das hat Putin aber der damaligen Kanzlerin Angela Merkel schon 2007 erklärt, wie sie nach ihrer Amtszeit verraten hat. Seitdem habe sie gewusst, dass er die EU zerstören will. Wenn Sie, Herr Fischer, schon 2001 Misstrauen hegten, was waren Ihre Konsequenzen?

Die deutsche Russlandpolitik war auf idealistischer Grundlage aufgebaut – und insofern zum Scheitern verurteilt. Das wissen wir heute. Entscheidend ist nun, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Wir können uns diesen Idealismus nicht mehr erlauben. Die Welt ist eine andere, eine harte, machtpolitisch bestimmte. Darauf müssen wir uns einstellen.

Wie konkret?

Ich habe es selbst mehrfach erlebt in Moskau. Ich fragte mich oft, nehmen die uns ernst? Die Antwort ist Nein, die nehmen uns bis heute nicht ernst. Die Währung im Kreml heißt Macht, militärische Macht. Deshalb haben die Russen immer nur die Amerikaner ernst genommen. Mit der Vorstellung, „Wir müssen reden! Diplomatie!“ werden wir nichts erreichen, wenn sie nicht auf Macht gestützt ist. Spätestens seit 2022 sollte das auch die breite Öffentlichkeit erkannt haben.

04.04.2025, Nordrhein-Westfalen, Münster: Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesaußenminister a.D., spricht zur Eröffnung der Westfälischen Friedenskonferenz. 400 Gäste werden dazu in Münster erwartet. Ein wichtiges Thema soll das Auseinanderdriften der USA und Europas sein. Foto: Federico Gambarini/dpa Pool/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Joschka Fischer spricht zur Eröffnung der Westfälischen Friedenskonferenz. (Archivfoto)

Aber auch Sie sind als Außenminister trotz Ihres Misstrauens Kanzler Gerhard Schröder nicht in den Arm gefallen, als er Deutschland in russische Energie-Abhängigkeit brachte.

Ich will mich zu Schröder nicht äußern.

Warum nicht?

Es nützt ja nichts, die Debatte rückwärts zu führen. Die Vergangenheit können Sie nicht ändern. Die Zukunft können Sie ändern.

Wenn Putin nur militärische Macht beeindruckt, hat Europa auf Russlands Ukraine-Überfall 2022 zu defensiv reagiert? Nicht nur Russland hat die Atombombe, sondern auch Frankreich. Die EU hat zusammen mehr Soldaten als die USA.

Nur numerisch, nur auf dem Papier!

Aber Europa hat aus Angst vor Putins Atomdrohungen dessen rote Linien akzeptiert und etwa den ukrainischen Luftraum nie verteidigt. Es hätte stattdessen auf sein Arsenal verweisen können, um Putin einzuschüchtern.

Dafür hätten Frankreich und Deutschland aufeinander zugehen müssen. Wir hätten das französische Angebot engerer Kooperation anders beantworten müssen als unter Merkel und Scholz. Dazu kam es nicht. Deshalb stehen wir nun da, wo wir stehen. Wobei selbst das keine grundsätzliche Änderung bewirkt hätte. Dazu ist dieses Europa zu gespalten. Wir brauchen eine neue Form von Integration, wenn wir Eindruck machen wollen. Und Eindruck machen müssen wir!

Sie meinen die militärische Integration: eine EU-Armee.

Die ist unverzichtbar. Bislang gab es die EU für Wirtschaft und Handel. Künftig muss es ihr um Verteidigung gehen.

Was steht dem entgegen? Ein Veto aus Ungarn?

Ungarn ist nicht das Problem. Ungarn ist zwar etwas lästig bei der europäischen Meinungsbildung, aber nicht von Bedeutung. Nein, die großen Europäer – Deutschland, Frankreich, Italien, Polen – müssen zueinander finden. Dann können wir was bewirken. Die deutsche Entscheidung über das Billionenpaket war da sehr, sehr wichtig und hat das Potenzial, die Lage wirklich zu verändern.

Heißt das, wenn Frankreich und Großbritannien eine europäische Friedenstruppe anschieben, die eine Waffenruhe in der Ukraine absichert, muss auch Deutschland Soldaten schicken?

Ohne deutsche Beteiligung wird es nicht gehen.

Bislang ist eine solche Waffenruhe nicht in Sicht. Trotzdem fordern bereits manche Politiker – auch aus SPD und CDU – schon, dann müsse auch wieder russisches Gas durch Nord Stream 1 nach Deutschland fließen. Könnte eine Rückkehr zu Wirtschaftskontakten mit Russland die Lage stabilisieren?

Die Idee, dass wirtschaftliche Verflechtung militärische Konfrontation verhindert, hat sich doch als Illusion erwiesen. Es wäre töricht, in diese Richtung weiterzugehen.

Für alle Zeiten?

Ich spreche nicht gegen Wirtschaftsbeziehungen. Ich spreche gegen die Illusion, dass sich allein daraus eine positive Zukunft ergibt. Wir müssen auch die machtpolitische Dimension einbeziehen, die geopolitische Dimension. Und da sind wir Europäer verflucht schwach. Europa muss zur Macht werden, um ernst genommen zu werden! Wir sind jetzt allein. Trump-Amerika ist nicht mehr unser Bündnispartner, wie die USA es traditionell waren. Also müssen wir jetzt für uns selbst sorgen. Was wird aus Europa, was wird aus den Europäern im 21. Jahrhundert? Das ist die entscheidende Frage für uns.

March 03, 2025: U.S. President DONALD TRUMP has paused all military aid to Ukraine following his clash with Ukrainian President VOLODYMYR ZELENSKY last week, a White House official said on Monday. FILE PHOTO SHOT ON: February 28, 2025, Washington, District Of Columbia, USA: US President Donald Trump R meets with Ukrainian President Volodymyr Zelensky L in the Oval Office of the White House in Washington, DC. Zelensky is in Washington to sign the framework of a deal, pushed by President Trump, to share Ukraine s mineral wealth with the US. Washington USA - ZUMAs152 20250228_new_s152_048 Copyright: xJimxLoScalzox-xPoolxviaxCNPx

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seinem letzten Besuch bei Donald Trump. (Archivfoto)

Sie schreiben, im Ringen der Großmächte muss Europa selbst zur Macht werden. Die Welt erlangt Stabilität also nur durch ein neues Gleichgewicht der Abschreckung?

Wenn Europa tatsächlich abschreckungsfähig würde, wäre viel erreicht! Es wird aber keine Konfrontation wie im Kalten Krieg, sondern eine globale Konkurrenz der Großmächte: China, USA, Russland – da müssen wir Europäer unsere eigenen Interessen vertreten. Wenn wir nicht auf unsere Stärke vertrauen und nicht in unsere nach wie vor vorhandenen Möglichkeiten investieren, werden wir kaum eine Zukunft haben. Dann werden wir nur Spielball der anderen Großmächte sein.

Umfragen zeigen gegenüber massiver Aufrüstung eine große Skepsis im Wahlvolk. Selbst Olaf Scholz zögerte deshalb immer mit Waffenlieferungen an die Ukraine.

Es kommt auf die Kräfte der Mitte an, dass sie aufstehen und bereit sind, auch die notwendigen Risiken einzugehen. Politische Führung bedeutet manchmal auch, das Richtige zu tun, obwohl es unpopulär ist. Wie Helmut Kohl mit der Einführung des Euro oder Gerhard Schröder mit der Agenda 2010.

Hätte es Deutschland nicht gut zu Gesicht gestanden, in der Ukraine-Frage viel mehr auf Diplomatie zu setzen? Hätte es nicht eine Vermittlerrolle übernehmen können?

Nein. Die Kontakte nach Moskau und nach Kiew mögen gut gewesen sein, aber dahinter steckte keine Autorität. Mir begegnet immer wieder diese Hoffnung auf Diplomatie. Aber was ist Diplomatie ohne Macht? Das Geheimnis der Diplomatie ist die Macht, die im Hintergrund steht, um Druck auszuüben. Die war bei Deutschland nicht vorhanden. Diese Rolle wäre eher China zugefallen – aber Peking hat die Chance nicht ergriffen.

Über die deutsche Ablehnung einer Beteiligung am Irakkrieg von 2003 haben Sie später gesagt, dieses Nein – Ihr berühmtes „I am not convinced“ – sei nur möglich gewesen, weil auch Frankreich den Krieg ablehnte. Die Westbindung hätten Sie nicht aufgegeben. Heute wendet sich Trump von Europa ab. Hat die EU damals eine Chance verpasst, sich unabhängiger zu machen?

Hätte, hätte! Konjunktiv! Aber: Ja. Ja! Nur leider kam es eben nicht so. Ich habe erlebt, wie Europa sich selbst ausbremste: Die europäische Verfassung ist gescheitert. Auch Deutschland ist mit seiner Weigerung, seinen militärischen Anteil zu bringen, schuld an der heutigen Lage. Und dann kam auch noch der Brexit. Europa hätte sich seine eigene Handlungsfähigkeit verbessern müssen. Aber das war nicht durchsetzbar gegen die nationalstaatlichen Interessen.

Die Wahlen im Westen dominiert die Migrationsfrage. Sie behandeln sie nur, wenn es um Nationalismus geht und um Fachkräftemangel, der aus rassistischen Gründen nicht gelöst wird. Wähler, die der Migrationsdruck umtreibt, wirken irrational. Dabei hat sich allein in Ihrer Lebenszeit die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht.

Okay, wenn man Ihre Analyse zugrunde legt, stehen wir vor einem globalen Problem. Das ist aber nicht nur eine Frage der aktuellen Politik, sondern der Druck ist ja viel größer: Im Norden, vor allen Dingen in Europa, zeichnet sich eine demografische Krise ab: Zu viele Alte und zu wenig Junge für die sozialen Sicherungssysteme und für die Produktivität. Im Süden der Welt herrscht gewaltiger Emigrationsdruck: wegen aktueller Konflikte, wegen der Folgen der Klimakrise. Also muss die Politik von morgen doch Antworten auf beides finden. Wie will man die finden? Durch die Schließung der Grenzen, der Ablehnung von Fremden? Ich kann mir das nur über Zuwanderung vorstellen und über Technologie. Nur: Ich bin ein Pensionär. Die Frage müssen Sie an die heute aktive Generation richten. (rnd)